21 August 2014| Malachowskij Sergej

Salaspils – ein Arbeitslager?

Александр Мирский

Латвийский политик Александр Мирский

Der Abgeordnete des Europaparlaments Alexander Mirskij ist einer der wenigen, die jedes Jahr diesen Ort besuchen. „Ihr seid wahrhaft standhafte Menschen – meint er zu den ehemaligen Gefangenen von Salaspils. Ihr seid durch die Hölle gegangen und habt den Mut gefunden, heute hier zu sein. Die Grausamkeiten, die hier vonstatten gegangen sind, wird niemand jemals rechtfertigen können. Leider helfen jene, die euch unterstützen könnten und müssten, heute den SS-Verbrechern, die Menschen ermordet haben und stolz auf den Straßen lettischer Städte und Dörfer marschiert sind und faschistische Hymnen gesungen haben. Sie bekommen heute gute Renten und gelten als Helden“.

Nach Meinung des Abgeordneten sollte die Regierung des Landes wenigsten einmal im Jahr, zum Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des faschistischen Konzentrationslagers, hierher kommen. Aber es vergeht Jahr für Jahr und niemand von den offiziellen lettischen Persönlichkeiten hat sich je hier blicken lassen … „Es reicht, die Geschichte zu verdrehen, es reicht, unseren Kindern etwas vorzulügen und ihnen Märchen zu erzählen, dass Salaspils nichts weiter als ein Arbeitslager gewesen sei – gerät Alexander Mirskij in Erregung. Nein! Salaspils war ein Todeslager und die Erinnerung daran muss in den Herzen der Menschen bleiben …“

Galina Muschtawinskaja, die Vorsitzende der russischen Gesellschaft von Salaspils, bemerkt voller Bitternis, dass die lettische Regierung diese Veranstaltung ignoriert: seit 15 Jahren ist nicht eine offizielle Person der Regierung hier erschienen.

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Anastasia Portnowa wurde im Alter von 8 Jahren aus Weißrussland in dieses Lager gebracht. Ihre Mutter hat sie danach nie wieder gesehen. Nastja wurde mit einem Güterzug zusammen mit Vieh nach Salaspils gebracht. Die Menschen – voller Angst und Hunger – fielen zu Boden, verloren den Verstand, denn vielen Müttern hatte man ihre Kinder buchstäblich aus den Armen gerissen, wie auch Nastja ihrer Mutter. Andere konnten ihre bei lebendigem Leibe brennenden Verwandten nicht vergessen. Anastasia wurde im Februar ins Lager gebracht. Man gab ihr Holzpantinen, die sie auf nackten Füßen trug, und führte sie in eine Baracke, wo man ihr den Befehl gab, die Kinderleichen nach draußen in den Schnee zu schleifen. Im Gegensatz zu diesen Kindern hatte Nastja Glück: Man brachte sie bald in ein Kinderlager nach Riga. Später wuchs sie dann in einem Kinderheim auf und kann heute nur mit sehr viel Mühe über all das sprechen, was sie erlebt hat. Doch jedes Jahr kommt sie nach Salaspils, um jene zu ehren, die die Grausamkeiten nicht überlebt haben.

Einer der einstigen jungen Häftlinge berichtet voller Schmerz, wie sie während des Krieges in Güterwagons transportiert wurden. Alle wurden an verschiedene Orte gebracht, die jüngeren Brüder wurden in irgendein Kinderheim gesteckt. Er weiß nicht in welches. Er musste so viel durchmachen, sagt er, dass er sich bis heute wundert, dass er bis jetzt noch immer am Leben ist und sprechen kann …

Maria Spiridonowa wurde im Alter von sieben Jahren nach Salaspils gebracht. Als der Krieg begann, befand sie sich in einem Kinderlager bei Jekabpils. Ihr Vater, der an die Front gegangen war, hatte die Mutter darum gebeten, sich um die Kinder zu kümmern. Er fiel in den Kämpfen, der Ort, wo er begraben worden ist, ist unbekannt.

Ihre Mutter wurde erschossen und Maria und ihr Schwesterchen blieben allein zurück. Die Häuser brannten und man wusste nicht wohin mit den Kindern. Man schickte sie ins Kinderlager Salaspils, wo sie erleben mussten, was es heißt zu hungern, zu frieren und krank zu sein. Nach dem Krieg arbeitete Maria, die ihre Schwester verloren hatte und somit zur vollen Waise geworden war, in drei Schichten und half beim Wiederaufbau des Landes.

Bereits als alter Mensch brachte Maria Spiridowna alle ihre Kräfte auf und legte erfolgreich die Prüfung zum Erwerb der lettischen Staatsbürgerschaft ab. Nun spricht sie voller Bitterkeit davon, dass viele sie in Lettland als Okkupantin beschimpfen.

Im Wald von Salaspils, wohin sie aus Jurmala gekommen ist, erklingen die von ihr vorgetragenen Verse besonders eindrücklich: „Wo einst Baracken standen blühen heute die Hagebutten, das Blut von Kindern fließt in ihren Zweigen …“

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Sergej Bykowskij wurde aus Zilupe als ganz kleines Kind nach Salaspils gebracht. Er war gerade einmal drei Jahre alt. Für sein ganzes Leben ist ihm im Gedächtnis geblieben, wie sein Vater ihn in der Baracke vor Gefahren versteckt hat, wie er ihn mit seinen kräftigen Armen von der Pritsche in der dritten Ebene heruntergehoben hat und ihn auf den Boden gelegt hat unter die unterste Pritsche. Sergej erinnert sich, dass es einigen Häftlingen gelungen war, sich frei zu kaufen: diese Menschen verkauften alles, was sie hatten und konnten sich so aus dieser Hölle befreien. Seine Familie jedoch besaß nichts. …

Seine Rettung war ein Zufall: eine gutmütige Lehrerin aus Latgalia war in das Lager gekommen. Sie nahm alle Kinder aus Zilupe mit sich und steckte sie in ein Nonnenkloster. Wie dieses Wunder geschehen konnte, weiß Sergej nicht. In dieser Zeit wurde seine Mutter nach Riga gebracht, in ein anderes Lager und sein Vater nach Deutschland, auch in ein Lager. Die gesamte Familie war nun getrennt und kam danach nie wieder zusammen.

Viele Jahre suchte er in Archiven nach dieser Lehrerin, um dieser gutmütigen Frau seinen Dank für diese wundersame Rettung auszudrücken. Doch die Zeit hatte ihren Namen verwischt. …

Sergej bemerkt, dass er als Häftling eines Konzentrationslagers nur wenige Vergünstigungen bekommt bei Fahrscheinen und Arztkosten und im Gegensatz zu denen, die während des Krieges auf der Seite des Gegners gekämpft haben, keine zusätzliche staatliche Unterstützung bekommt. Trotzdem findet er in sich die Kraft, sich über jene Kleinigkeit zu freuen.  …

Der Oberst Vasilij Alexandrowitsch Sokolnikow, der viele Jahre vor Schulkassen aufgetreten ist und über wahre Begebenheiten aus Zeit des Zweiten Weltkrieg berichtet hat, bemerkt heute voller Betrübnis, dass man ihn in den letzten Jahren immer seltener in die Schulen einlädt. Galina Muschtawinskaja erklärt, dass die Lehrer sich einfach davor fürchten, es zu tun, da sie ständig kontrolliert werden. Deshalb werden alle Treffen mit Kindern unmittelbar vor die Denkmäler verlagert und im Rahmen der Feierlichkeiten zum 9. Mai abgehalten.

Mit jedem Jahr wird die Zahl der Menschen, die um die Wahrheit wissen und von ihr berichten können, immer weniger. Sie gehen von uns und nehmen mit sich all den Schmerz, all ihre Leiden und Trauer.

Die lettischen Geschichtsbücher erzählen bei dem Namen Salaspils, dem „Arbeits- und Erziehungslager“, 18 km von Riga entfernt, nichts von dem, dass dort Kinder wie Häftlinge gehalten wurden, um ihnen ihr Blut auszusaugen zur Behandlung von verwundeten deutschen Soldaten. Die wirkliche Wahrheit und Geschichte bleibt hier in diesem Wald verborgen, wo heute die Vögel singen und versuchen das Stöhnen der Erde zu übertönen.  …

Die ehemaligen Häftlinge kommen nur mit großen Mühen hierher und schaffen es schon nicht mehr bis zu der zum Andenken bewahrten Kinderbaracke vorzudringen, da der Weg dorthin sehr schwierig ist. Sie könnten stürzen. Ohne Hilfe können die alten Menschen diesen Weg nicht mehr bewältigen. Aber trotzdem kommen diese standhaften Alten bis an diese Baracke, um dort Blumen niederzulegen. Nach einer Trauerfeier sammeln sie, die sich ganz selbst überlassen sind, die Stühle, auf denen sie gesessen haben, wieder ein und tragen sie mit ihren zittrigen Händen zurück durch den Wald. …

Doch sie haben schon so viel in ihrem Leben ertragen müssen, dass diese schweren Stühle für sie nicht die allerschwerste Last sind. Diese Menschen haben ein schweres Leben hinter sich. Zuerst hat man ihnen ihre Kindheit geraubt und in letzter Minute nun auch noch das Recht auf einen würdigen Lebensabend. Wir sollten deshalb immer an ihrer Seite bleiben.

 

 Uebersetzt von Henrik Hansen
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