26 September 2015| Rauchwerger Alexander Alexandrowitsch

Staatsangehörige Frankreichs in Odessa

Meinen Stammbaum kann ich bis in das Jahr 1793 zurückverfolgen. Ich muss allerdings zugeben, dass ich an einigen Stellen nur über lückenhafte Informationen verfüge. Das Leben ist eben keine gerade Linie. Geboren und aufgewachsen bin ich in Odessa, wo feuchtes Seeklima herrscht. Meine Mutter, Tatjana Alexandrowna, litt an Tuberkulose, und deshalb rieten ihr die Ärzte in den Ural oder nach Sibirien umzusiedeln, wo es Nadelwälder gibt. Aus diesem Grunde bin ich bei meinen Großeltern aufgewachsen.

Alexander Osipowitsch Vadon

Mein Großvater war ein Franzose. Mein Urgroßvater, Alexander Osipowitsch Vadon, hat in Cherson eine Werft aufgebaut. Die Familie der Vadons stammte aus Südfrankreich, aus der Provence. Ich weiß nicht, ob sie dem Adel angehörten oder einfache Bauern waren. Erst relativ später, nachdem mein Großvater und auch meine Großmutter bereits gestorben waren, habe ich mich daran gemacht, mehr über die Geschichte unserer Familie zu erfahren. Ich habe alles aufgeschrieben, was mir aus ihren Erzählungen im Gedächtnis geblieben ist. So fand ich auch heraus, dass es in Cherson noch einen Nachfahren aus der Familie der Vadons gab – Victor Chmel. Er war auch dabei, Material zusammenzutragen, stöberte in alten Archiven und holte viele Informationen von dort hervor. Eigentlich habe ich die meisten meiner Informationen von ihm bekommen. Auch er war es, der — auf der Suche nach irgendwelchen Familienfotos — mit der jüngeren Schwester meiner Mutter, mit Irina, die in Odessa lebte, Verbindung aufgenommen hat. Alle Fotos, die nach dem Krieg noch erhalten geblieben waren, befanden sich damals bei mir. Von Victor Chmel bekam ich den Teil einer Karte von Südfrankreich. Auf der Karte stand auf Französisch geschrieben: „Die Ruinen der Vadons“. Also hatten sie dort einmal ein Anwesen besessen. Doch aus irgendeinem Grund waren sie gezwungen, nach Russland zu emigrieren. Ich weiß, dass die Vadons auf der Schiffspassage an Cholera erkrankten und dass von der ganzen Familie nur ein Junge, Sascha, mein Urgroßvater, überlebt hat. Alle anderen sind umgekommen. Unsere Nachbarn, die damals auch nach Russland übergesiedelt sind, haben den Jungen in Konstantinopel entdeckt und mit sich genommen. So hat es meinen Urgroßvater aus Frankreich nach Russland verschlagen.

Zunächst hat er wohl auf dem Gut des Grafen Pototzki in Sophiewsk eine Anstellung gefunden und dann später in Odessa, im Mechanischen Werk, zunächst ein Praktikum und dann auch eine Ausbildung gemacht. Daraufhin ist er mit seiner Familie nach Cherson umgezogen und hat dort eine Schmiede aufgebaut. In ihr wurde übrigens während des Krimkrieges 1853-54 ein Teil der Gestelle für die Kanonen der Festung von Otschakow gefertigt. Als Dank für diese Arbeit bekamen er und seine Schmiede einige Silbermedaillen. Später hat er diese Schmiede dann zu einer Gießerei ausgebaut. Nur wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg hat mein Urgroßvater Alexander Osipowitsch Vadon dann eine Werft gebaut, in der zunächst, noch zu Friedenszeiten, Schleppkähne, Fähren und Schwimmbagger gebaut wurden. Als dann jedoch der Krieg ausbrach, bekam der Betrieb viele Aufträge vom Marineministerium, zu denen nun auch Panzerkreuzer, Minenträger und andere Schiffe für die Schwarzmeerflotte gehörten.

Die Kinder von Alexander Osipowitsch Vadon: Alica, Jules, Marie, Adolf, Alexandre, Paul

Die Familie meines Urgroßvaters war groß. Mein Großvater, Alexander Alexandrowitsch Vadon, war der jüngste Sohn. Unter den älteren hatte einer den Beruf eines Schiffbauingenieurs gelernt, ein anderer war als Schifffahrtsingenieur ein Spezialist für Dieselmotoren. Dazu sei noch gesagt, dass alle männlichen Nachfahren des Geschlechts der Vadons aus Tradition einen Teil ihrer Ausbildung zum Teil in Frankreich erhielten. Sie alle besaßen die französische Staatsangehörigkeit.

Alexander Alexandrowitsch Vadon mit seiner Frau und seiner Tochter Tatjana 1903.

Mein Großvater, Alexander Alexandrowitsch, wählte eine geisteswissenschaftlichen Ausbildung. Er hat in Paris das Lyzeum Michelet absolviert, Vorlesungen an der Sorbonne besucht und ist dann nach Russland zurückgekehrt. Man bot ihm an, Französisch am Mädchengymnasium von Simferopol zu unterrichten. Mein Großvater heiratete dann bald eine seiner Schülerinnen, nachdem diese das Gymnasium beendet hatte. Auch sie arbeitete dann infolge am Gymnasium, allerdings als Erzieherin. Damals gab es in Jungengymnasien Inspektoren und in Mädchengymnasien Erzieherinnen. Sie sorgten für die Disziplin und kümmerten sich um sonstige Nöte der Schüler. Als mein Großvater die Heirat vorbereitete, wurde ihm von Seiten der Kirche die Erlaubnis zur Trauung mit einer Orthodoxen nur unter der Bedingung erteilt, dass die Kinder im orthodoxen Glauben erzogen werden und nicht im katholischen. Dazu noch wurden sie zweimal getraut, einmal nach orthodoxem Ritus und einmal nach katholischem. Sie hatten auch zwei Ringe. Die Mutter meiner Großmutter hatte bereits ihren Mann verloren, als meine Großmutter noch klein war. Ihr erster Mann war ein Priester. Nikolskij war sein Familienname. Sie selbst stammte auch aus einer Priesterfamilie, also von den „Popen“, wie man damals so sagte. Sie lebten in Twer. In zweiter Ehe heiratete sie dann einen Witwer. Mit ihm siedelte sie nach Simferopol um, da ihr Mann, Pawel Alexejewitsch Aljantschikow, den Posten des Medizinalrats im Tawrischen Gouvernement bekam.

Als dann später in Odessa eine Handelsschule, die nach dem Zaren Nikolaj I. benannt wurde, eröffnet wurde, hat man meinem Großvater dort eine interessante Arbeit angeboten. In jenen Jahren stand er im Staatsdienst. Was für einen Rang er innehatte, entzieht sich meiner Kenntnis. In der Sowjetzeit war es nicht üblich, darüber zu reden. Meine Großmutter hat erzählt, dass zur Paradeuniform meines Großvaters ein Säbel gehörte. An den Säbel kann ich mich noch gut erinnern. Er hat bei uns offen, also ohne Scheide, im Schrank gehangen und an ihm hingen, wie an einem Haken, die Kleiderbügel.

Als der Erste Imperialistische Krieg ausbrach, berief das Französische Konsulat meinen Großvater an die Front zu den Französischen Truppen. Frankreich war mit Russland verbündet. Da der Weg nach Frankreich allerdings durch Deutschland und Österreich, also durch Feindesland führte, wurde er an die Front von Thessaloniki geschickt, wo er als Soldat und Sanitäter seinen Dienst tat.

Als der Krieg beendet war, gelang es meinem Großvater nur mit vielen Mühen nach Russland zurückzukehren. So, wie man es sich in unserer Familie erzählt, hat ihm ein früherer Militäragent bei der Rückkehr geholfen. Aus meinen Nachforschungen geht hervor, dass ihm dabei Graf Alexej Alexejewitsch Ignatjew, der Autor des Buches „Fünfzig Jahre in der Einheit“ behilflich war.

Erst 1924, als der Staatsmann und Politiker Edouard Herriot an der Spitze der französischen Regierung stand, ließ Frankreich seine diplomatischen Beziehungen zu Russland wieder aufleben. Daraufhin kamen französische Industrielle und Bankiers nach Russland gereist, einige in der Hoffnung, das zurückzubekommen, was ihnen in den Jahren der Revolution im Zuge der Enteignung genommen worden war, einige, um neue wirtschaftliche Kontakte zu knüpfen. Lange Rede kurzer Sinn: diese Delegationen benötigten Dolmetscher, und einer von diesen wurde mein Großvater.

Als ich klein war, hat mein Großvater in Odessa in der linguistischen Fachschule unterrichtet. Ich besitze eine Unmenge von Büchern, in Buchläden kann man mich immer finden. Einmal, das war in den 50-iger Jahren, betrat ich in Serpuchow einen Buchladen und sah die Bände von Isaak Babel in der Auslage. Ich begann darin zu blättern. In der Autobiographie schreibt er, dass er bei meinem Großvater auf der Schulbank gesessen hat (zugegeben, er hat geschrieben, dass mein Großvater ein Bretone war, die Bretagne ist im äußersten Nordwesten Frankreichs und nicht im Süden), doch er hat nur Gutes von ihm berichtet. In der Sowjetzeit hat in dieser linguistischen Fachschule auch die sowjetische Schriftstellerin  und Dichterin Vera Imber studiert.

Wissen Sie, in den 20-30-iger Jahren war es nicht sehr populär Fremdsprachen zu lernen. Man muss sagen, dass es eine Zeit war, in der überall unter Zwang versucht wurde, die ukrainische Sprache durchzusetzen. Als ich zur Schule kam, wurde ich in den ersten zwei Klassen auf ukrainisch unterrichtet, da es einfach keine russischen Schulen gab.

Mein Großvater durfte unter der Sowjetmacht nicht mehr lange seine französische Staatsbürgerschaft behalten. Er wurde zur sogenannten „Staatlichen Politischen Leitung“ einbestellt, wo ihm gesagt wurde, dass es in der sowjetischen Ukraine keine Franzosen geben kann: „Entweder Sie werden Ukrainer oder aber sie scheren sich nach Frankreich!“ Meine Großmutter war eine Russin, deshalb musste mein Großvater seinen französischen Pass gegen einen sowjetischen eintauschen. So geriet der Eintrag „Ukrainer“ unter dem Punkt Nationalität  in die Pässen meines Großvaters, meiner Großmutter und unserer ganzen Familie.

Die Großmutter mit ihren Töchtern Irina und Tatjana

Mein Großvater verdiente viel noch so neben her mit Übersetzungen. Damals war es üblich, dass Ingenieure und Ärzte ihre Aufsätze in Zeitschriften im Ausland veröffentlichten. Deshalb mussten ihre Arbeiten übersetzt werden. Mein Großvater saß, wie ich mich erinnern kann, jeden Abend bis spät in seinem Arbeitszimmer und arbeitete an diesen Übersetzungen. Er schrieb mit Feder und violetter Tinte. Er mochte die Federn von „Rondo“. Es gab damals noch keine Füllfederhalter. Das ständige Sitzen jedoch hatte Auswirkungen auf seine Gesundheit. Es hatte sich bei ihm ein Geschwür in der Prostata gebildet. Er wurde einmal operiert, bis zur zweiten Operation hat er es dann nicht mehr geschafft. Er starb im März 1933. Meine Großmutter blieb allein zurück und man gewährte ihr eine Sozialrente von 32 Rubel. Das waren in der damaligen Zeit nur ein paar Groschen. In unserer Vierzimmerwohnung, in der wir wohnten,  begannen wir einzelne Zimmer zu vermieten und auch immer wieder Möbel und auch die Buchbestände zu verkaufen.

Irina, die Schwester meiner Mutter, heiratete einen Offizier und zog von uns fort. Mein Vater lebte auch in Odessa. Meine Mutter und er hatten sich allerdings bereits, als ich einige Monate alt war, getrennt. Er hat mich seit dem nicht ein einziges Mal mehr gesehen und auch keinen Pfennig für mich übrig gehabt. Mein Großvater wollte mich, als er noch lebte, adoptieren. Doch es wurde ihm untersagt, da meine beiden Eltern noch am Leben waren. Nach dem Tod meines Großvaters ging meine Großmutter vor Gericht, dass mein Vater wenigstens irgendwelche Alimente zahlen möge. Doch er erschien nicht einmal vor dem Richter, da er dienstlich unterwegs war. Deshalb vertrat ihn dort seine Mutter. Sie erklärte: „Wir werden für dieses Kind nicht zahlen, wir nehmen es zu uns“. Meine Großmutter erhob Einspruch. Doch das Gericht entschied, mich in diese Familie zu geben. So endete meine normale Kindheit. In dieser neuen Familie war ich unerwünscht und überflüssig. Es ging mir dort sehr schlecht. Das alles war im Jahre 1934. Ich war 9 Jahre alt.

Ich möchte noch einiges dazu anmerken, warum ich einen jüdischen Familiennamen trage. Wem war es nach der Revolution erlaubt, an Hochschulen zu studieren? Den Kindern von Bauern, Arbeitern und Rotarmisten! Etwas später dann begann man, auch für Angehörige nationaler Minderheiten Studienplätze bereitzustellen. Dazu gehörten auch die Juden. Das ist der Grund, warum meine Mutter heiratete und ihren Familiennamen von Vadon auf Rauchwerger änderte. Das hat ihr ermöglicht, an der Universität zu studieren.

Meine Mutter hat also ein zweites Mal geheiratet und in Sterlitamak gelebt. In ihrer zweiten Ehe gebar sie einen Sohn. Im Ural hat sie Biologie und Chemie unterrichtet. Die Freundin meiner Mutter, Schura Adyrowa, hat mir erzählt, dass man meiner Mutter als Hydrobiologin den Vorschlag unterbreitet hat, an einer Expedition an den Baikalsee teilzunehmen. Sie hat den Vorschlag angenommen. In einem Sturm jedoch wurde ihr Schiff ans Ufer geworfen und sie musste, um an die Eisenbahnlinie zu gelangen, 300 Werst zu Fuß gehen. Am Ende dieses Fußmarsches verschlimmerte sich ihre Tuberkulose und sie verstarb.

Meine Mutter war also schon nicht mehr am Leben, als für mich die Höllenqualen begannen. Sie starb in den dreißiger Jahren. Ich habe nie erfahren, wann genau sie gestorben ist.

Im Jahre 1937 tat mein Onkel Pawel Franzewitsch, der Mann meiner Tante Irina, als Politoffizier seinen Dienst in der Artilleriefachschule von Odessa, die nach Frunse benannt worden war, an. In den  Sommermonaten siedelt die gesamte Fachschule immer in ein Feldlager außerhalb der Stadt um. Dort hat sich folgendes ereignet: Der Leiter der Politabteilung der Fachschule hatte sich den Magen verdorben und griff deshalb nach der erstbesten Zeitung, die ihm in die Hände fiel, und lief in das Bretterhäuschen mit dem Herzchen in der Tür. Irgendjemand machte Meldung, dass in dieser Zeitung ein großes Foto von Stalin abgedruckt gewesen war. Die Sache erregte Aufsehen und es kam an die große Glocke. Jener Vasilij Iwanowitsch, der besagte Leiter der Politabteilung, wurde festgenommen, aber auch mein Onkel wurde „wegen Verlustes seiner politischen Wachsamkeit“ verhaftet. Doch er hatte in gewisser Hinsicht Glück. Er saß zunächst in den Kellern der städtischen Zentrale des NKWD ein und wurde dann später erst ins Gefängnis überführt. Insgesamt 11 Monate war er in Haft. Das Leben meiner Tante Irina verwandelte sich daraufhin in Schlange stehen vor der Bezirkszentrale des NKWD, um ihrem Mann, meinem Onkel, etwas zu übergeben oder etwas über ihn in Erfahrung zu bringen. Deshalb gab es keine geeignete Gelegenheit, um mit ihr über meine Mutter zu reden. Sie hatte einfach anderes im Kopf.

Bei meinem Vater hat sich alles folgendermaßen zugetragen. Nach meiner Mutter hat er noch zwei oder drei Mal geheiratet, doch sich immer wieder getrennt. Als ich in seine Familie kam, war da gerade eine von diesen Frauen. Doch schon bald, nachdem ich bei ihnen eingezogen war, hat sie ihn verlassen. Im Hause begannen daraufhin Dinge zu verschwinden. Zuerst das elektrische Bügeleisen. Wer hätte es wohl nehmen können? Sofort wurde vermutet, dass ich der Schuldige sei. Und so wurde ich geschlagen, bis ich es endlich „zugab“.

Es klärte sich aber alles schon im Jahre 1940 auf. Wolodja Wolkow, mit dem ich, als ich bei meinem Vater lebte, befreundet war, hat mir erzählt, dass in seinem Hauseingang ein Milizionär mit Namen Golowatjuk wohnt. Dieser hatte zwei Söhne. Der eine war jünger als ich, der andere älter. In dieser Zeit ging ich bereits in die sechste Klasse. Mischka Golowatjuk ging damals schon in die 8. oder 9. Klasse. Er beobachtete unsere Wohnung und wusste ganz genau, wann niemand im Hause war. Mein Vater war oft auf Dienstreise. Er war mit der Elektrifizierung von Dörfern beschäftigt. Dieser Mischka hat also, wie sich dann bald herausstellte, irgendwie unser Schloss aufgekriegt, hat sich in die Wohnung geschlichen und von dort alles entwendet. Ich allerdings war es, der zunächst dafür herhalten musste.

Ich habe Schura Adyrowa, die Freundin meiner Mutter, bereits erwähnt. Einmal bin ich Tante Schura begegnet. Sie begann mich auszufragen, hat mir aufmerksam zugehört und mich zu der nächstgelegenen Telefonzelle geführt. Dort wählte sie eine Nummer, rief jemanden an und begann mit irgendjemandem zu sprechen. Danach sagte sie: Geh du nun zum Kreisstaatsanwalt, der für den Schutz von Kinder verantwortlich ist! Er heißt Ostrowertschenko“. Ich habe mich dann dorthin aufgemacht. Er hat mich nach allem ausgefragt und dann zum Hörer gegriffen und beim Bezirksgesundheitsamt angerufen. An die erging seine Weisung, dass für mich die Unterlagen für die Einweisung in ein Kinderheim vorbereitet werden sollen. Vor den Toren Odessas gab es vor der Revolution eine Ferienhaussiedlung für die Professoren der dortigen Universität.  Nach der Revolution hat man daraus einen ganzen Komplex von Kinderheim gemacht und es nach der „Kommintern“ benannt. Es war ein riesiges Territorium, auf dem sich eigentlich 20 Kinderheime befanden. Ich geriet in das Kinderheim Nummer 11. Dort ging es mir gut, und ich hatte ein geordnetes Leben. Ich ging in eine normale Schule mit gemischten Klassen, in denen Kinder aus dem Kinderheim und solche, die bei ihren Familien wohnten, gemeinsam unterrichtet wurden. Zu meiner Zeit waren Raufereien unter den Jungs eher eine Seltenheit. In früheren Jahren dagegen, wie ich gehört habe, soll es sogar Diebstähle gegeben haben oder man hat einigen Jungs aufgelauert und sie ausgezogen.

Von meinen Lehrern kann ich mich an meinen Physiklehrer Parfentij Semjonowitsch erinnern. Seine Frau hat bei uns Ukrainisch unterrichtet. Übrigens wurden, als ich in die dritte Klasse kam, russische Schulen eröffnet und so wurde ich deshalb dann in eine solche versetzt. Die Ukrainische Sprache und Literatur blieben für uns allerdings weiterhin Pflichtfach, wie die vielen anderen Fächer auch. Ich erinnere mich auch an Anna Borisowna, sie hat Russische Sprache und Literatur unterrichtet. Mir haben alle Fächer gefallen, ich habe mich für alles interessiert.

Ich hatte damals einen Freund, Vitjka Pewnew war sein Name. Gegenüber unserer Schule, auf der anderen Straßenseite, gab es eine Infanteriefachschule, die den Namen Woroschilows trug. Vitjas Vater war dort Offizier, also Kommandeur. (In dieser Zeit gebrauchte man das Wort „Offizier“ nicht). Er tat in dieser Fachschule seinen Dienst.

Einer der Gönner unseres Kinderheims Nr.11 war das Operntheater von Odessa. Dank dieses Umstandes waren wir regelmäßig im Theater. Ich kannte das gesamte damalige Repertoire des Opernhauses von Odessa auswendig. Man lud uns zu Vorstellungen ein, wir bekamen Freikarten und für die Mädchen wurde eine Ballettgruppe organisiert. Wer Interesse zeigte, bekam auch die Möglichkeit, das Theater zu besuchen. An Feiertagen wurden bei uns Kostümfeste organisiert, zu denen uns Requisiten und Kostüme gebracht wurden. Selbst die Maskenbildner kamen. Es war sehr interessant. Der Leiter unseres Kinderheims war ein ukrainischer Nationalist von extremster Sorte. Er hieß Anton Sidorowitsch Petrenko. Übrigens hat er während der deutschen Besetzung mit den Deutschen zusammengearbeitet. Davon habe ich aber erst nach dem Krieg erfahren.

Ich wurde über den Komsomol in den Fliegerklub delegiert. Dort absolvierte ich einen Kurs zum Flugzeugmodellbau, woraufhin ich dann in der Folge damit begann, bei uns im Kinderheim einen solchen Zirkel für Flugzeugmodelbau zu leiten. Ich habe mich allerdings die ganze Zeit immer für die Marinedisziplinen interessiert. Es hat mich einfach zum Meer gezogen, und so habe ich mich an der Fachschule für Schifffahrt eingeschrieben. Als ich dort gerade den dritten Kurs beendet hatte, brach der Krieg aus.

Ich habe bereits erwähnt, dass mein Onkel 11 Monate in Haft war. Allerdings noch vor dem Krieg, als Jeshow abgesetzt worden war, wurde damit begonnen, Armeeangehörige aus den Gefängnissen zu entlassen. Als der Krieg begann, wurde mein Onkel als Offizier der Reserve und Artillerist in die Armee einberufen. Die Familien der Offiziere wurden aus Odessa evakuiert.  Mein Onkel Pawel Franzewitsch hat mich offiziell in seiner Familie registrieren lassen und so kam ich zusammen mit ihnen in den Ural nach Orsk. Wir wurden über das Meer nach Noworossisk gebracht und von dort dann weiter.

Alexander Alexandrowitsch Rauchwerger

Ich war damals noch nicht einmal 17 Jahre alt. Nach Beendigung der Fachschule sollte mir ein Diplom ausgehändigt werden, das mich als  „Leiter einer Funkstation auf einem Schiff“ auswies. In Orsk gab es auf diesem Gebiet aber keine Arbeit für mich. So begann ich als Schlosser im städtischen Lebensmittelkombinat zu arbeiten. Ich brauchte ja etwas zum Leben. Ich ging in das Wehrkreiskommando und bat darum, dass man mich zur Marine einberuft. Zu diesem Zeitpunkt litt ich aber noch immer an den Nachwirkungen einer Gehirnerschütterung und humpelte auch noch ein wenig, denn während der Evakuierung wurden wir im Hafen von Odessa bombardiert. Überall in der Stadt schlugen Weitwurfgeschosse ein und die Luftwaffe flog immer wieder neue Angriffe auf die Stadt. Während der Luftangriffe heulten die Sirenen. Es wurde, wie sich die Leute von Odessa als Witz erzählten, „später Alarm“ gegeben: erst, als die Bomben schon fielen.  Zuerst schlugen die Bomben ein, danach begannen die Sirenen zu heulen. In der Tat war es oft so!

Ich erinnere mich noch, wie man mir einmal, als ich mich wieder einmal auf zum Wehrkreiskommando aufgemacht hatte, gesagt hat, dass das Wehrkreiskommando von Nowoorsk [1] die Weisung erhalten habe, die bereits genesenen Marinesoldaten in den Krankenhäusern zusammenzusammeln und sie dringend in den Fernen Osten zu schicken. Denn im Herbst 1941, in jenen äußerst schwierigen und angespannten Wochen, als die Deutschen vor Moskau standen, hatte man von der Flotte am Stillen Ozean sehr viele Soldaten von den dortigen Bodentruppen — nicht so sehr von den Schiffen — abgezogen und vor Moskau postiert, um die Deutschen aufzuhalten. Am Ende fehlten am Stillen Ozean dann aber Spezialisten. Bei der Flotte ist ja jeder Einzelne ein Spezialist, sei er ein Artilleristen oder ein Minenwerfer, ein Motorisierter oder sonst wer. Man kann dort nicht irgendwen auf jeden beliebige Posten stellen.

So bin ich nach Nowoorsk gefahren. Ich war zwar noch nicht einmal 18 Jahre alt, doch man hat mich dort in die Reihen der Marineinfanterie eingegliedert. Ich bekam eine offizielle Einberufung. Mit dieser meldete ich mich schnell an meinem Arbeitsplatz ab und packte meine Sachen. Ich verabschiedete mich von meinen Leuten und fuhr nach Wladiwostok. Dort angekommen geriet ich in eine Ausbildungseinheit auf der Russischen Insel. Während des Krieges waren dort Einheiten der Artillerie stationiert, dort befand sich auch die Ausbildungstruppe der Pazifikflotte. Ich wurde in dieser in die Funkerschule eingegliedert, doch es zeigte sich bald, dass es dort für mich praktisch nichts zu lernen gab. Ich wusste schon alles. Man schlug mir vor, dort als Instruktor für den Empfang und das Senden von Morse-Nachrichten zu bleiben. Ich lehnte jedoch ab und sagte, dass ich auf ein Schiff möchte. Im Juni 1942 habe ich dann den Eid geleistet und kam auf ein Minensuchboot.



[1] Nowoorsk ist die Kreisstadt des Kreises Nowoorsk im Gebiet von Orenburg in Russland.

 

Aufgeschrieben von Tatjana Aljoschina

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

Comments (login)