Russen in der Stadt
Am 5. Mai war der Krieg für uns zu Ende. Wir feierten den Sieg wie überall mit sehr viel Überschwang. Bald darauf jedoch begann der friedliche Dienstalltag.
Auf Rügen [1] richteten wir uns in der Kaserne der ehemaligen Marinefachschule ein — am Rande des Ortes Saßnitz. Rundherum gab es viel schöne Natur und ganz in der Nähe luden uns die Seebäder zu einem Besuch ein. Wir waren begeistert bei ihrem Anblick, denn noch nie war es jemandem aus meiner Generation vergönnt gewesen, in solchen Seebädern zu verweilen. Ich muss zugeben, dass der deutsche Ordnungssinn in alle seinen Erscheinungsformen auf die meisten von uns den größten Eindruck gemacht hat. Sogar die Wälder waren von geometrisch genau gezeichneten Linien durchzogen und die Wege in den Parks äußerst gepflegt. Die kleinen Orte waren sauber und sogar die Straßen schienen uns wie abgeseift. Die Menschen selbst waren ungeachtet der schweren Zeit stets ordentlich gekleidet, wenn auch ihre Sachen oft geflickt und ausgebessert waren. Auch früher war uns dieser Mythos von dieser deutschen Ordnungsliebe und Genauigkeit zu Gehör gekommen. Nun bekamen wir ihn zu Gesicht: Man konnte ihn überall sehen: sowohl in der lebendigen Natur als auch in den Dingen.
Auf Rügen blieb ich bis in den Juni Jahres 1945 hinein. Danach unterstellte man uns der sowjetischen Kommandantur der Stadt Stralsund, was allgemein auf Zufriedenheit — sowohl bei mir als auch bei den anderen Soldaten meines Truppenteils stieß. Eigentlich kamen wir erst dort so richtig mit dem Leben und dem Alltag der deutschen Bevölkerung in Berührung. Die Soldaten schoben Wachdienste im Hafen. Ich war eigentlich eher wenig beschäftigt und konnte mich deshalb sehr viel mich meinen Beobachtungen hingeben. Unser gesamter Zug wurde in einer riesigen Wohnung im Hafenviertel einquartiert. Der Besitzer der Wohnung war in die englische Besatzungszone geflohen. Man erzählte sich, dass er ein aktiver Anhänger der Nazis gewesen sei. Ich erinnere mich noch heute an seinen Vor- und Zunamen. Peter Kolbe. Briefumschläge, auf denen sein Name gedruckt war, waren in einer Schublade des Tisches liegen geblieben. Aber auch die Nachbarn erzählten so einiges über diesen Menschen.
Stralsund war gründlich zerstört worden. Dort hatte – wie man uns gesagt hatte – die britische Luftwaffe beste Arbeit geleistet. Auf den Straßen arbeiteten schweigsam ältere Männer und Frauen. Sie räumten die Trümmer und den Schutt fort. Sofort fiel einem ins Auge, dass es keine jungen Männer gab. Die einen waren getötet worden, andere lagen in den Hospitälern und wieder andere befanden sich in Gefangenschaft. Dafür traf man auf viele Krüppel. All dies und noch mehr die miserable Versorgungslage, die uns natürlich nicht verborgen blieb, ließ uns Mitleid empfinden mit den Menschen dort. Ja, das kann man wirklich so sagen, obwohl bei vielen sowjetischen Soldaten die Wunden in der Erinnerung und im Herzen, die die bestialischen Gräueltaten und Zerstörungen durch die faschistischen Okkupanten auf heimischem Boden gerissen hatten, noch nicht verheilt waren.
Es ist bekannt, dass man im Westen immer gerne die negativen Seiten der sowjetischen Besatzung in den Vordergrund zu drängen versucht. Es hat auch keinen Sinn, zu bestreiten, dass die Stationierung von sowjetischen Truppen, wie aber auch der anderen alliierten Armeen, der deutschen Bevölkerung diverse Unannehmlichkeiten bereitete. Die Truppen belegten nicht nur die Kasernen und Truppenübungsplätze der ehemaligen Wehrmacht, sondern auch einen Teil der Wohnfläche, die vorher von der Zivilbevölkerung genutzt wurde. Die Armee wurde mit Lebensmittel versorgt, die meistens aus der umliegenden Gegend aus Deutschland stammte. Industrieanlagen wurden demontiert. Doch es ist bekannt, dass alle diese Einbußen als objektive Folgen aus den verbrecherischen Machenschaften der Nazis heraus resultierten. Gleichzeitig bedeutete der Einzug der Sowjetischen Armee in Deutschland aber auch die Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus. Sich jedoch dieser globalen Tatsache bewusst zu werden, erforderte wie jegliches Erlangen von praktischen Ergebnissen Zeit. Damals war überall nur die große Misere sichtbar und viele Deutsche sahen wirklich nichts anderes.
Von daher wird klar, wie groß die Verantwortung eines jeden sowjetischen Soldaten vor dem Angesicht der Geschichte war, seinem eigenen Volk sowie auch den Völkern von Osteuropa gegenüber, denen der sowjetische Soldat Frieden gebracht hatte.
Hat es Ausschreitungen von Seiten der sowjetischen Armeeangehörigen gegenüber der deutschen Bevölkerung gegeben? Natürlich hat es sie gegeben. Kann man sich etwa einen Krieg vorstellen, ohne dass die moralische Ordnung in irgendwelcher Weise verletzt wird? Ich denke, dass dies nicht möglich ist. Der Krieg hat riesige Menschenmassen in Bewegung gesetzt und Millionen von Menschen für viele Jahre aus ihrer heimatlichen Umgebung gerissen. Hinter den identischen Feldblusen und Uniformen der sowjetischen Soldaten und Offiziere steckten lebendige Menschen – ein jeder mit seinem ganz eigenen Charakter, seinen Neigungen und einem bestimmen Niveau an Wohlerzogenheit und Kultur. Deshalb sind Abweichungen von der Verhaltensnorm sehr einfach vorstellbar. Es gab Verstöße sowohl gegen die Militärdisziplin als auch im Verhalten gegenüber der deutschen Bevölkerung. Von Seiten der Kommandeure wurde aber stets versucht, diese zu unterbinden.
Trotzdem – und das ist die Hauptsache – möchte ich unterstreichen, dass sich die sowjetischen Soldaten mit wenigen Ausnahmen, anständig benommen haben und sich ihrer Pflicht bewusst waren, dass sie aus einem Verständnis für einen gewissen Internationalismus ihren Dienst tun im Land der Menschen, die gestern noch ihre Feinde waren. Man kann ihnen nichts vorwerfen. Ganz im Gegenteil, der Sowjetischen Armee gebührt ein Gefühl von Dankbarkeit – sowohl für ihre Heldentaten auf dem Schlachtfeld wie auch für die Rolle, die sie in der Zeit nach dem Krieg gespielt hat.
Ganz konkret kann ich natürlich nur über die Soldaten meiner Einheit sprechen und über die, die ich um mich herum beobachtet habe. Sie haben sich gut und voller Achtung, ja manchmal sogar einfach freundschaftlich den deutschen Bürgern gegenüber verhalten. Viele Deutsche haben bemerkt, dass die sowjetischen Menschen gutherzig sind. Es ist schade, dass ich mich nicht mehr an all die Namen all der einfachen Menschen erinnere, denen ich in diesen Jahren begegnet bin. Einige Namen sind jedoch mir im Gedächtnis geblieben.
Wo bist du, Hans Depisch, unser Hausnachbar in Stralsund? Es war ein lustiger braunhaariger Geselle und noch kurz vor unserer Bekanntschaft Sanitäter bei der deutschen Marine. In den ersten Monaten nach dem Krieg hat er dann als Zahntechniker gearbeitet. Er und die Soldaten meiner Einheit haben auf wunderbare Weise sehr schnell Kontakt zueinander gefunden. Es gab keine Verlegenheit und erst recht keine Angst, die man damals noch in den Augen einiger Deutscher erahnen konnte. All dies gab es bei ihm nicht. Er war ständig darum bemüht zu helfen oder uns irgendetwas zu zeigen und – wenn nötig – uns sogar den einen oder anderen medizinischen Rat zu geben. Mit all dem hat Hans uns sehr schnell für sich und seine Familie, die damals aus seiner Frau und seiner kleinen Tochter bestand, eingenommen.
Ich bezweifle, dass die Einwohnerin von Stralsund Inga Koling, die wir gebeten hatten, uns bei der Hauswirtschaft zu helfen und das Mittagessen zu kochen, etwas Schlechtes über die Soldaten sagen wird. Die Zeiten damals waren schwer und durch diese Arbeit konnte sie auch ihre Familie mit Lebensmitteln versorgen, die sie von uns aus unserem Lebensmittelkontingent bekam.
Im Sommer 1945 haben wir in der Familie des Bauern Keller im Dorf Klocksdorf in der Nähe des etwas größeren Carlow (im Kreis Gardebusch) gewohnt. Die Tochter des Hausherren Malwina hat unseren Haushalt geführt. Ihr Freund, ein Italiener mit dem Namen Antonio, den sie in einem Konzentrationslager kennengelernt hatte, wohin sie die Hitlerfaschisten gesperrt hatten wegen angeblicher „Gespräche“, hielt sich so etwas wie für einen sowjetischen Soldaten. Ich kann mich an keine einzige Begebenheit während dieser 3 Monate, die wir in Klocksdorf bei der Familie Keller wohnten, erinnern, die jemanden dazu veranlasst hätte, Groll gegen unsere Soldaten zu hegen.
Oder noch ein Beispiel. In einem Vorort von Schwerin, in Dwang, habe ich im Hause von einer Frau Volkholz gewohnt. Ich habe bei ihr ein Zimmer gemietet. Sie war schon nicht mehr ganz jung, aber eine stille und bescheidene Frau, die sich ständig um das Haus kümmerte und um ihre Familie – um ihre eigene wie auch um die ihrer Verwandten, die von der Oder gekommen waren, um bei ihr unterzukommen. Ob sie sich an ihren Mieter erinnert? Ich weiß es nicht, aber ich kann behaupten, dass es keinen Anlass für sie gegeben hat, mich in schlechter Erinnerung zu behalten. Unser Verhältnis war sehr ausgeglichen, friedlich und freundlich. Alle diese Beispiele, die ich aus meinem eigenen Leben geben kann, können ergänzt werden durch Fakten aus dem Leben meiner Kameraden oder einfach durch Beobachtungen des täglichen Lebens. Dank der Anstrengungen aller Kräfte – in erster Linie der antifaschistischen Parteien und Gruppierungen in der deutschen Bevölkerung — kam ein Prozess in Gange, den man als Einsicht in die eigenen Fehler benennen könnte und die Menschen begannen sich für neue Wahrheiten zu öffnen. …
In Stralsund, an das wir uns schnell gewöhnt hatten, waren wir insgesamt nur drei Wochen. Von dort führte uns unserer Weg in ein Dorf mit dem Namen Tramm in der Nähe von Crivitz. Dort bekamen wir einen ersten Eindruck vom Leben der deutschen Bauern. Tramm jedoch, wie sich bald herausstellen sollte, blieb nur eine Zwischenstation für unser Heer. In dieser Zeit wurden in Zusammenhang mit der Einnahme der gesamten Besatzungszone, wie sie durch das Abkommen der Alliierten vorgesehen worden war, größere Truppenverschiebungen vorbereitet. Die westlichen Alliierten brachten ihre Truppen – wie bekannt ist – nach Berlin, wir jedoch sollten Territorien für uns einnehmen, welche nach den militärischen Operationen der letzten Tage des Krieges in die Hände der Alliierten gefallen waren, ins Besondere in die Hand der Engländer.
In den ersten Tagen des Juli 1945 machte sich unser Heer auf in Richtung Westen. Wir alle waren gespannt auf neue Orte und wegen der zu erwartenden neuen Eindrücke sehr aufgeregt. Wir kamen in das sehr schöne Schwerin. Alle waren vom Anblick dieser Stadt begeistert. Es war heil geblieben und sehr gepflegt. Es gab viel Grün und eine Vielzahl von Seen rundherum. Daneben verwunderte uns aber noch etwas anderes: auf den Straßen war außer den Polizisten, die auf den Kreuzungen standen, keine Menschen Seele. Nur durch die leicht geöffneten Gardinen konnten wir sehen, wie uns neugierige und angsterfüllte Augen durch die Fenster in den Häuser beobachteten. Was war das für ein Empfang! Nach zwei Monaten voller guter Erfahrungen, was unser Verhältnis zur Bevölkerung betraf, erschien uns nun eine solche Wendung sehr merkwürdig, ja sogar beleidigend.
Bald jedoch klärte sich alles auf: In die Stadt waren eben die „furchtbaren“ Russen gekommen. Die Schauermärchen über uns trieben in den Köpfen der einfachen Leute noch immer ihr Unwesen. Dazu noch hatte man die Schweriner – wie wir später erfuhren – nicht gerade mit wahrheitsgemäßen Informationen über die sowjetische Armee „verwöhnt“, während die westlichen Mächte noch in der Stadt waren.
Dann jedoch haben trotz allem der nüchterne Verstand und die Neugier die Oberhand gewonnen. Nachdem das Heer die gesamte Stadt durchquert hatte und bis an den westlichen Stadtrand vorgedrungen war, legten wir eine Rast ein. Es erklangen Lieder und irgendjemand stimmte auf dem Akkordeon das damals populäre Lied „Rosamunde“ an. Und so überwand zuerst einer, dann ein anderer und dann auch ein dritter Bewohner von Schwerin seine Zurückhaltung und trat näher. Eine Minute später begann buchstäblich die gesamte Straße zu tanzen. Die Soldaten und Offiziere tanzten mit den deutschen Mädchen. Niemand hatte diese Begegnung vorher organisiert, alles ergab sich ganz spontan von selbst. Es war ein sehr symbolischer Moment.
Am gleichen Tag, weiter auf dem Weg durch Gardebusch, erreichte unser Heer sein Ziel, den Ort, wo es untergebracht werden sollte: Roggendorf. Hier befand sich das Gutshaus eines Barons, das übrigens völlig leer war. Die Einwohner berichteten uns, dass vor unserer Ankunft eine Vielzahl von Fahrzeugen Möbel in Richtung Westen abtransportiert hatten. Wessen Fahrzeuge es waren, weiß ich nicht genau. Der Hausherr jedoch, der Baron und seine Tochter, waren geblieben. Es war komisch einen richtigen Baron zu sehen, der rein äußerlich ein ganz normaler Mensch war. Es scheint mir, dass er später nach der Bodenreform mit seiner Tochter nach Schwerin umgezogen ist, wo er als Ingenieur in einem Kraftwerk gearbeitet hat.
In Roggendorf blieb ich jedoch nicht lange. Ein paar Wochen später wurde ich gemeinsam mit meiner Einheit nach Klocksdorf verlegt, in die Nähe der Demarkationslinie, die hier durch den Dechower See verlief. Am anderen Ufer des Sees befand sich eine Kaserne der Engländer. Auf der Hauptstraße in der Nähe der Ortschaft Thurow befand sich ein Schlagbaum mit zwei Flaggen – einer roten, der sowjetischen, und der englischen. So befanden wir uns also am äußersten westlichen Ende der sowjetischen Besatzungszone, dem es später bestimmt war, die Grenze zwischen zwei Welten zu werden.
In Klocksdorf und Carlow, wo ich oft war, kamen wir in sehr engen Kontakt mit dem Leben und der Lebensweise der deutschen Bauern. Während der drei Monate unseres Aufenthaltes beobachtete ich das Leben von verschiedenen Familien. Ich habe gute und schlechte Menschen gesehen. Ich erinnere mich noch, wie einige Familien uns aus dem Weg gegangen sind. Wenn man, wie es manchmal eben so kam, am zweistöckigen Haus des reichen Bauern Wiese vorbei ging, verfolgten einen durch die Fenster heimlich die boshaften Blicke eines der Mitglieder der Familie. Wiese selbst hat bei einem Treffen nie ein Wort fallen lassen und nur düster mit dem Kopf genickt, wenn er sich gezwungen sah, eine Begrüßung zu erwidern. Dieser Mensch hat seinen Unmut uns gegenüber nicht zurückgehalten. Die große Masse der Bauern jedoch stand uns ohne besonderen Argwohn gegenüber. Viele fragten uns über die Sowjetunion aus. Einige hatten natürlich Angst vor Sibirien, von dem Goebbels als Verbannungsort für alle Deutschen gesprochen hatte. Langsam begriffen die Bauern jedoch, dass dies eine große Lüge gewesen war, denn niemand hat jemals daran gedacht, die Deutschen ihrer Heimat zu entreißen. Als sie dann erfuhren, dass ich als einziger Offizier in Klocksdorf selbst aus Sibirien stamme, drückten einige ihre Verwunderung darüber aus, warum ich denn wie ein ganz normaler Mensch aussehen würde.
Es gab jedoch einen Moment, als Klocksdorf von einer geringen Welle der Panik erfasst wurde. Die ehemaligen Mitglieder der Nazipartei wurden zur Registrierung nach Schönberg gerufen. Da sich die Prozedur einige Tage hätte hinziehen können, wurden alle darum gebeten, sich etwas Proviant mitzunehmen. In dieser Situation meinten einige, dass nun die Verbannung nach Sibirien ins Haus stände. Düster begleiteten einige Frauen von Klocksdorf ihre Männer. Einen Tag später jedoch kehrten alle wieder nach Hause zurück und das nazistische Lügenmärchen von einer Verbannung zerplatzte für immer wie eine Seifenblase.
Der Fleiß und die Arbeitsliebe der deutschen Bauern machten auf uns einen großen Eindruck. Die Aussaat der Gemüse, der zu Bündeln gestapelte Weizen – alles war geometrisch streng abgezirkelt. Gleichzeitig verwunderte die relative schwache Mechanisierung der landwirtschaftlichen Arbeit. Das Pferd war immer noch die hauptsächliche Zugkraft. Das typische Bild auf dem Acker im Herbst war ein Bauer, der seinem Pflug hinterherläuft, welcher wiederum von einem Pferd gezogen wurde.
Der alte Bauer Keller schuftete vom morgens bis spät in die Nacht. Er arbeitete auf dem Feld und im Garten und reparierte die landwirtschaftlichen Geräte. Erst spät am Abend setzte er sich auf die kleine Bank vor seinem Haus und legte seine beiden von der Arbeit müde gewordenen Hände auf seine Knie. So saß er dann und schwieg bis die Nacht endgültig hereingebrochen war und rauchte seine Pfeife. Ich kann mich nicht erinnern, dass man auf dem Dorf oft gefeiert hat. Alle haben gearbeitet, hatten nur dürftig zu Essen und schliefen wenig. Und so ging es tagein- tagaus.
Es ist interessant, dass die Bauern von Roggendorf, nachdem sie nach der Bodenreform ihren Anteil an dem Besitz des Barons bekommen hatten: seine Kühe, Pferde und das landwirtschaftliche Gerät, das Vieh und das Gerät nicht mit in ihre Häuser genommen haben. Einerseits hatten viele derer, die früher noch beim Baron als Angestellte für ihn gearbeitet hatten, einfach keine eigenen Stallungen und andererseits machte es auch keinen Sinn, die Stallungen und Wirtschaftsgebäude des Barons ungenutzt zu lassen. Auf diese Weise entschied man sich einfach aus ganz praktischen Gründen für den nächsten Schritt und gründete eine einfache Kooperative mit ihrer Basis in den Wirtschaftsgebäuden des ehemaligen Gutes des Barons und gleich darauf auch eine Genossenschaft, um den Boden gemeinsam zu bearbeiten. Wenn ich mich nicht irre, haben es die Bauern in Roggendorf damals so gemacht.
Während meines sich länger hinziehenden Aufenthaltes in Klocksdorf und dann auch in Roggendorf war ich nicht selten auch dienstlich in den umliegenden Siedlungen und Dörfern unterwegs: in Carlow, Schönberg und Rhena. Ich bin verschiedenen Menschen begegnet und habe viele Beobachtungen gemacht und mir so meine Gedanken gemacht. In Schönberg war ich einmal bei einem Empfang des Sowjetischen Kommandeurs für eine Gruppe von Jugendlichen aus der Gegend. Die jungen Leute sprachen auf erregte und hitzige Weise über ihre Sicht auf die Ereignisse und erbaten sich bei dem Kommandeur die Erlaubnis zu einer Gründung einer demokratischen Jugendorganisation in der Stadt. Es ist verständlich, dass man die Jugendlichen darin in vollem Maße unterstützte.
Die Lage und die Aufgabe der sowjetischen Truppen in Deutschland schlossen in der damaligen Zeit eine aktive und unmittelbare Teilnahme am politischen Leben des deutschen Volkes aus. Wir einfachen Soldaten und Offiziere der unteren Ränge konnten den Lauf der Ereignisse nur von außen her betrachten und nur in einigen wenigen Fällen gerieten wir in unmittelbare Gespräche mit der Bevölkerung. Deshalb könnte ich zum Beispiel über die Schulreform nur anhand von Aussagen von mir bekannten Deutschen etwas berichten. Auch was andere Bereiche betrifft, in denen die Strukturen neu geordnet wurden, hatten wir nur einen Einblick anhand des äußeren Erscheinungsbildes oder durch Artikel in der Zeitung. Für mich, der ich in sowjetischen Verhältnissen aufgewachsen bin, wo es nur eine Partei gab, war es sehr interessant, das erste Mal einen Streit von Parteien zu beobachten und Meetings zu sehen, auf denen die Vertreter von verschiedenen Parteien und Vereinigungen in Streit miteinander gerieten. Aus den Zeitungen konnte ich mir über den Verlauf des Wahlkampfes im Herbst 1946 ein Bild machen. Ich glaube es waren Wahlen auf kommunaler Ebene. In dieser Zeit tat ich meinen Dienst in Schwerin und ich sah, wie verschiedene Wahlplakate an den Häuserwänden die Bürger dazu aufriefen, der einen oder anderen Partei ihre Stimme zu geben.
Im Sommer 1946 bekam ich endlich meinen Urlaub, auf den ich voller Ungeduld gewartet hatte. Es waren fast 4 Jahre vergangen, seitdem ich mein zu Hause verlassen hatte. Und so war ich dann endlich wieder in meinem Heimatland. Ich fuhr durch Weißrussland, durch die Ukraine, wo ich eine Woche Halt bei Freunden in Kiew machte und fuhr dann von dort aus weiter nach Novosibirsk. Das Land, das als Sieger aus dem Krieg hervorgegangen war, war selbst in einem sehr erbärmlichen Zustand. Man war gerade erst dabei mit dem Wiederaufbau zu beginnen. Viel stärker als auf meinem Weg an die Front 1944 fielen mir die Zerstörungen in den Städten ins Auge und die Überreste der verbrannten Dörfer. Auch die Leute sahen sehr erbärmlich aus. Nur die Freude über den Sieg und der Glaube an die eigene Kraft halfen den Menschen, den Kopf nicht sinken zu lassen. Die Begegnungen mit meiner Familie und mit den Freunden aus Kindertagen – alles ging so schnell vorüber und bald hieß es dann wieder, dass es Zeit ist, nach Deutschland zurückzukehren.
Hier nun betrachtete ich die Art, wie die Deutschen leben, mit neuen Augen. Ich kam zur Überzeugung, dass die Verluste des deutschen Volkes in keiner Weise zu vergleichen waren mit dem, was ich gerade erst in Russland gesehen hatte. Wenn man es einfacher ausdrücken will, dann kann man sagen, dass die Mehrheit der Bewohner der deutschen Provinz, wie zum Beispiel in Mecklenburg, den Krieg auf unmittelbare Weise nie richtig erlebt haben. Es versteht sich von selbst, dass dies kein Vorwurf sein soll. Doch darin liegt zum Teil die Erklärung dafür, warum es die demokratischen Parteien so schwer hatten, jedem einzelnen Deutschen die Grausamkeit der faschistischen Ideologie, die den Krieg angezettelt hatte, bewusst zu machen.
Nach meiner Rückkehr nach Deutschland, tat ich dann an anderen Orten meinen Dienst. Meine Truppe wurde bald aufgelöst und viele der Jungs in die Heimat zurückgeschickt. Die anderen wurden anderen Einheiten zugeordnet. In Gardebusch, wo sich der Stab unserer Division befand, erfuhr ich, dass ich für einen Dienst in Schwerin vorgesehen war. Das war ein großes Glück, denn diese Stadt hatte mir schon beim ersten Mal sehr gut gefallen. Bis in den späten Herbst 1946 tat ich meinen Dienst in dieser Stadt. Unsere Kulturbrigade hatte ihren Sitz am Rande der Stadt in Görris. Ich wohnte – wie ich schon gesagt hatte – in einem anderen Vorort, in Dwange. In Schwerin gelang es mir, mir ein besseres Bild von den kulturellen Werten der Deutschen zu machen. Ich besuchten Museen und Theater. Auch die Stadt selbst erschien mir wie ein Museum, besonders ihr berühmtes Schloss, das von allen Seiten von Wasser umgeben ist.
In dieser Zeit hatte ich die Gelegenheit, auch andere Städte in Mecklenburg zu besuchen: Güstrow, Parchim, Ludwigslust und Dömitz. Ich machte auch Reisen in weiter entfernt liegende Gegenden, zum Beispiel nach Magdeburg. Hier, und noch viel stärker in Berlin, wo ich einige Tage im Sommer 1945 gewesen war, waren die Spuren des Krieges viel stärker sichtbar als im stillen und friedlichen Mecklenburg. Die Ruinen der deutschen Hauptstadt und das gesamte in dieser Zeit recht düstere Angesicht der Stadt und seiner Bewohner sprachen für sich. Wie sollte es auch anders sein. Berlin ist im Krieg am stärksten zerstört worden und es schien, dass diese Wunden nie wieder heilen würden.
Die letzten Monate meines Dienstes in Deutschland waren mit einer neuen Aufgabe verbunden. Es ergab sich, dass die Abteilung für politische Arbeit der Armee mich als Lehrer in eine Grundschule von Schwerin schickte, um dort den Kindern von sowjetischen Armeeangehörigen Unterricht zu geben. Die Schule befand sich unweit des Zentrums, am Ufer des zentralen Stadtsees an der Straße nach Wismar. Die Arbeit in der Schule war ihrem Wesen nach bereits ein Übergang in mein Leben nach der Armee, obwohl ich formell immer noch der Armee angehörte. Ich habe sehr viel gelesen, habe mich in Methodik und Pädagogik hineingearbeitet und mir die Weisheiten, wie man Kinder erzieht, angeeignet. So bin ich immer mehr in meinen späteren Beruf als Geschichtslehrer hineingewachsen, der dann bald mein gesamtes kommendes Leben bestimmen sollte.
Mein Wunsch, in die Heimat zurückzukehren, war dann für meinen weiteren Werdegang ausschlaggebend. Eines Tages bekam ich dann endlich meine Papiere zur Entlassung. Ich packte schnell meine Sachen und machte mich auf den Weg. Über Frankfurt/Oder und Polen ging es über Brest nach Moskau. Einige Wochen später war ich dann zu Hause in Novosibirsk. Vielleicht hatte ich gerade die eindrucksvollste Zeit meines Lebens hinter mich gebracht. Vor mir lagen nun Jahre angefüllt mit Studium und Arbeit.
Die Jahre, die ich in Deutschland verbracht habe, haben mir und meinen Kameraden die Deutschen näher gebracht. Das Verständnis des Deutschen als Feind ist in der Vergangenheit geblieben. Die einfachen deutschen Menschen mit ihren täglichen Nöten und Sorgen waren uns so nah und verständlich geworden. Es gab aber verschiedene Deutsche. Diese Tatsache haben wir gut begriffen. Unter ihnen haben immer mehr auf entschiedene Weise mit der faschistischen Vergangenheit gebrochen und sich auf einen neuen Weg gemacht – hin zum Bau eines demokratischen Deutschlands.
In den nächsten Jahren habe ich noch mehrere Male die mir vertraut gewordenen Orte besucht. Ich habe viele liebe Menschen getroffen, über die man noch gesondert erzählen könnte. Auch jetzt noch stehe ich mit einigen deutschen Freunden in Kontakt. …
[1] Rügen – eine Insel in der Ostsee östlich von Hiddensee. Es ist die größte Insel innerhalb der Landesgrenzen Deutschlands. (926 Quadratkilometer).
Uebersetzt von Henrik Hansen
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