5 November 2014| Schischkin Grigorij Stepanowitsch, geb. 1924, Leutnant, Panzerfahrer

Ich werden mich nicht ergeben!

Ich habe nicht sehr viel gekämpft – etwa ein Jahr und zwei Monate. Ich habe auch nur vier Orden bekommen, das ist keine große Leistung. Doch ich meine, dass auch das nicht schlecht ist, denn bereits nach drei Monaten bekam ich immerhin schon meinen ersten Orden.

1941 beendete Grischa Schischkin in Moskau die 9. Klasse. Über den gesamten Sommer wurde er von seinen Eltern zu Oma und Opa geschickt. Diese wohnten in einer alten Kosakensiedlung am Ufer des Dons, ganz in der Nähe vom berühmten Dorf Weschinskaja, das schon Scholochow in seinem Roman beschrieben hatte. Dort erfuhr Grischa dann auch, dass der Krieg ausgebrochen war. 

Es war ein paradiesischer Flecken Erde. Ich habe ihn in meinem ganzen Leben im Herzen behalten. Erstens weil ich dort auf dem Pferd unterwegs war — wir haben die Tiere auf die Weide getrieben und sie gebadet. Und wenn es regnete oder ein Gewitter wütete, dann haben wir uns in Heuschober vergraben und dort gelegen zwischen den Garben. Das war immer unvergesslich. Ganz allgemein waren es immer sehr wunderbare Sommer, für mich jedenfalls.

Es ist ein heller Sommertag. Schreckliche Hitze brütet über dem Land. Dort ist es etwas wärmer als in Moskau. Kein Wind geht. Die Luft steht und alles ist still und schlummert. Die gesamte Kosakensiedlung scheint in Schlaf versunken zu sein. Nicht einmal die Hunde bellen, denn es gibt niemanden, den sie anbellen könnten. Kein Mensch ist unterwegs. Plötzlich schaltet sich der Lautsprecher ein (es waren damals solche gewaltigen Teile aus Papier oder Pappe in der Form eines Schalltrichters). Man verkündete, es ist Krieg. Und sofort war das gesamte Dorf in heller Aufregung, wie ein Ameisenhaufen: die Nachbarn liefen zueinander, alle sind hin und her unterwegs. Die Hunde begannen zu bellen und alles geriet in Aufruhr. Für uns Jungs war alles eher ein Gaudi – wir waren eben Jungs, 15-16 Jahre alt. Dann aber, nach einiger Zeit, verging uns das Lachen: es kamen die ersten Totenscheine. Den grausamsten Beruf hatte damals der Postbote. Er geht durch die Straßen, doch alle gehen ihm aus dem Weg oder schauen ihn voller Erschrecken an: in welches Gehöft wird er einkehren? Was für eine Nachricht hat er dabei? Ein Brief von der Front oder die Nachricht vom Tod? Natürlich bekamen viele diese Totenscheine. Meine Oma und mein Opa verloren drei ihrer Söhne damals – Pjotr, Fjodor und Archip. Auf meines Vaters Seite ist sein Bruder gefallen. Mein Vater selbst wurde dann 1942 getötet. Man kann also sagen, dass unsere Familie sehr viele Opfer gebracht hat.

Die 10. Klasse musste Grischa in der Kosakensiedlung besuchen. Die Rückkehr nach Moskau war schon nicht mehr möglich. Nachdem er die Schule beendet hatte, ging er zum Wehrkreiskommando und meldete sich als Freiwilliger an die Front. Doch dort wurde er nicht an die Front geschickt, sondern es wurde entschieden, ihn eine Ausbildung zum Panzerfahrer machen zu lassen. Auf einer Panzerfachschule wurden schnell aber gründlich Panzerfahrer ausgebildet. Bereits nach anderthalb Jahren verließ Grigorij Schischkin diese Schule mit dem Dienstgrad eines Leutnants und wurde von dort aus in die Panzertruppen eingegliedert. Alle Absolventen wurden sofort in eine Panzerfabrik geschickt, wo jeder einen Panzer bekommen sollten. Dort jedoch stellte sich heraus, dass sie die Panzer nicht nur entgegennehmen sollten, sondern selbst erst einmal zusammensetzten mussten. In diesen Jahren fehlte es in der Produktion überall an Männern. Alle waren sie an der Front. Deshalb mussten hungrige Frauen und Kinder die tonnenschweren Panzer selbst mit der Hand zusammenbauen.

Wir sind also in die Fabrik gekommen, doch dort waren nur Jungs im Alter von zehn-zwölf Jahren, na vielleicht auch dreizehn Jahren. Sie konnten nicht einmal über die Werkbank gucken. Sie legten eine leere Granatenkiste unter und klettern darauf, um so eine Drehbank bedienen zu können. Genauso bauten sie auch die Panzer zusammen. Alles wird ja bei einem Panzer von solchen riesigen Schrauben zusammengehalten. Die Schraube kriegt ein Junge schon irgendwie in die nötige Bohrung, doch mit einem Schraubenschlüssel festziehen, das geht nur mit Mühe und Not zu zweit oder zu dritt. Die Jungs wiegen ja nichts, doch die Schraubenschlüssel waren so riesig. Sie hängen sich dran, kriegen aber trotzdem die Schraube nicht festgedreht. Und so haben wir zusammen mit ihnen dann diese Schrauben angezogen und die Panzer zusammengesetzt. Ich wusste damals schon, welcher mein Panzer sein wird. Jeder Leutnant bekam einen Panzer und jeder hat ihn sich selbst zusammengebaut.

Das schwerste für einen jungen Leutnant war damals nicht einen Panzer zusammenzubauen, sondern die Begegnung mit seiner Besatzung. Grischa Schischkin war damals noch nicht einmal 18 Jahre alt. Ihm unterstanden aber 40 jährige Alte, wie es ihm damals schien, die damals alle schon Kampferfahrung hatten und nicht nur einen jungen Panzerkommandeur haben sterben sehen.

— Leutnant Schischkin!

Ich trete hervor. Man stellt mir vor:

— Mechaniker und Fahrer von Panzer Nr. 119 Petrow

Da tritt dieser Petrow hervor. Er ist ein Jahrgang mit meinem Vater.

Ich muss sagen, dass die Hauptschwierigkeit darin bestand, dass ich von meinem Großvater erzogen worden bin und dass es in der Kosakensiedlung strenge patriarchale Sitten gab. Wenn man als Junge einem erwachsenen Menschen begegnete, dann musste man unbedingt grüßen, die Mädchen natürlich auch. Gott bewahre, wenn irgendwer von den Erwachsenen dir wegen irgendeiner Dummheit mit dem Zeigefinger gedroht hat. Mein Großvater meinte: „Wie war es denn möglich, dass dir jemand mit seinem Zeigefinge gedroht hat“. Es war sehr streng. Es kam vor, dass die Lehrerin in das Tagebuch „unaufmerksam oder so etwas“ schrieb. Mein Großvater las manchmal mein Tagebuch, obwohl er selbst nur ein wenig lesen und schreiben gelernt hatte. Er schaut es sich an: „Wie ist es möglich? Die Lehrerin hat dich ermahnt und du hast nicht zugehört? Er selbst hat, wenn er die Lehrerin kommen sah — mag sie auch gerade erst von der Hochschule gekommen sein, ein ganz junges Mädchen, 18 -19 Jahre — den Hut vor ihr gehoben und sich leicht verbeugt.

Also, ich stehe also da, und dieser Mechaniker und Panzerfahrer ist so alt wie mein Vater. Wie soll ich, junger Bengel, ihn da kommandieren? Und er war, meistens jedenfalls, schon an der Front gewesen. Also dieser Schnitt – dieser Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein – war nicht ganz einfach für mich.

An der Front wurde man schnell erwachsen. Hier Bilder von Grischa aus der Militärfachschule. Hier ist er schon Offiziersschüler – und nach anderthalb Jahren schon Leutnant Grigorij Schischkin. Hier ist er im Lazarett. Er hat schon 4 Orden. Gerade hat eine offizielle Ärztekommission ihn untersucht, nachdem man ihm die rechte Hand amputiert hat. Die schwersten Erinnerungen hat er an seinen ersten und an seinen letzten Kampf, bei dem er seinen Arm verloren hat. In seinen ersten Kampf wurde er, der bisher noch keinen Kugelhagel über sich ergehen hat lassen müssen, schon gleich nach 15 Minuten geschickt, kaum war er mit seinem Panzer aus der Fabrik angekommen. Während dieses Gefechts wurde er sofort geschlagen. Als ihre Besatzung von den Deutschen umstellt war, entschied der Leutnant und Komsomolze, sich niemals lebendig in Gefangenschaft zu begeben.

Ich dachte damals, nun ist alles im Eimer. Und da ging es nun das erste Mal darum, aufzupassen, dass die letzte Patrone für einen selbst übrig bleibt. Ich werde mich nicht ergeben. Ich legte die Pistole an. Möge niemand, Gott bewahre, so etwas durchmachen müssen. Das ganze Leben steht einem wie ein Kaleidoskop vor Augen, alles blitzt in solch einer Schnelligkeit auf, als ob einem alle Erinnerungen noch einmal gewahr werden. Ich erinnerte mich, wie ich meine Schwester verhauen hatte und so weiter. … Kurz gesagt, es ist so ein besonderer Augenblick, ein kurzer Moment. Dann schaue ich und sehe, dass die Deutschen sich im Halbkreis nähern. Ich denke mir, das war es dann wohl. Ich selbst hatte mich in Gedanken schon von allen verabschiedet. Ich schaue genauer hin: es beginnt schon hell zu werden. Doch die Deutschen laufen, das Gewehr unter den Arm geklemmt und schießen zurück. Die Sache war die, dass unsere Panzer als nächste los sind. Das genau zu erläutern ist jetzt zu viel. Doch in der Tat hat sich alles in wenigen Minuten, ja Sekunden, zugetragen. Unsere Panzer rückten vor. Die Deutschen sehen, dass sie keine Kanone mehr haben. Aber die war ihr einziger Schutz. Die Kanone hatte ich zermalmt. Sie ziehen sich also, kurz gesagt, eilig zurück. Ich schaue nach einiger Zeit noch einmal hin und sehe, dass es unsere sind, die da laufen: Schiffchenmützen und Sternchen. Und noch etwas, was zeigt, dass ich noch ganz ohne Erfahrung war. Da läuft ein Soldat von uns mit einem Maschinengewehr und knattert ununterbrochen vor sich her. Ich aus einem Busch heraus ihm direkt vor die Füße: „Hurra-a-a!!! Für Stalin! Vorwärts!“ Ein Glück dass bei ihm in diesem Moment entweder das Maschinengewehr klemmte oder die Patronen ausgegangen waren, sonst hätte er mich doch geradewegs umgenietet. Es hätte ihn dann auch keine Schuld getroffen: es wäre einfach so unerwartet passiert. Alle sind in großer Anspannung und begreifen, dass sich für jeden hier sein Schicksal entscheidet: entweder man überlebt oder man überlebt nicht.

Also, die Entscheidung, sich das Leben zu nehmen und sich nicht in Gefangenschaft zu begeben, hatte für den frisch gebackenen Leutnant nicht nur mit seiner Erziehung innerhalb des Komsomol zu tun. Als sein Panzer noch auf dem Weg an die Front war, hatte er vieles zu sehen bekommen, auf dem Weg über die Felder, auf denen noch vor kurzem grausame Gefechte getobt hatten. Die Erzählungen von der Bestialität der Faschisten, die ihm im Hinterland immer wieder zu Ohren gekommen waren, von den Massenmorden an der Zivilbevölkerung, von den Misshandlungen der in Gefangenschaft geratenen Soldaten, erwiesen sich nicht nur als Propaganda, sondern als grausame Wahrheit.

Als ich auf dem Weg an die Front war, dachte ich so bei mir, dass die Propaganda einiges in der Presse und im Radio bewusst hochspielt, dass die Deutschen angeblich so bestialisch seien und so barbarisch vorgehen. So ist es eben, dass man in einem Krieg den Gegner unbedingt hassen muss. Wie soll man denn auch sonst den Feind töten, wenn man Sympathien für ihn empfindet? Einfach so etwa? Ich dachte, dass alles nur Propaganda ist und stand allem deshalb eher gelassen gegenüber. Ich war ja ein bewusster Komsomolze. Doch dann musste ich alles mit eigenen Augen mit ansehen. Als wir in ein niedergebranntes Dorf hinein gefahren sind, war dort so eine Scheune, vielmehr ein Schuppen – es waren Lehmwände. Ich habe dort hineingeschaut: Das Dach war mit Stroh gedeckt, es war abgebrannt und eingestürzt. Und in diesem Schuppen die Wand entlang (als es gebrannt hatte und starker Rauch überall war, haben sich alle wohl an die Wand gedrängt, um nach Atem zu schöpfen) sah ich überall verbrannte Leichen von den unseren. Ich weiß nicht genau, aber ich glaube, es waren etwa 20-30 Menschen. Es war ein furchtbares Bild. Einige waren halbverbrannt, von anderen waren nur noch die Knochen übrig. Bei anderen konnte man schon gar nichts mehr erkennen, es war einfach nur ein Haufen. Später dann haben wir viele viele Male an den Kanonenhälsen zerstörter Panzer unsere Panzergrenadiere hängen sehen, die in Gefangenschaft geraten waren. Und wie soll das angehen, nach all dem, dass sich irgendein Gesindel, irgendein deutscher Soldatenbub sich über dich lustig machen und dich quälen wird? Nein, niemals! Kurz gesagt, niemand hatte auch nur den Anflug der Idee, sich in Gefangenschaft zu begeben.

Nach den Aussagen von Grigorij Schischkin war das Wichtigste, im ersten Kampf zu überleben. Danach ergab sich bei jedem, wenn auch nur illusorisch, doch trotzdem eine Chance am Leben zu bleiben.

Der Krieg hatte für einen Panzersoldaten seine Besonderheiten. Auf der einen Seite ist man in einem Panzer unter schweren Metallplatten, die einen tonnenschweren Schutz bieten. Auf der anderen Seite jedoch ist ein Panzersoldat in seiner Sehfähigkeit stark eingeschränkt, wobei sein Panzer selbst von allen gesehen wird. Man ist oft eine wunderbare Zielscheibe für gut getarnte Kanonen und hilflos vor gewaltigen Sprengladungen, die auf dem Weg direkt vor einem versteckt sind.

Natürlich hat man Angst vor dem Feind und vor jedem Deutschen. Man hat Angst vor Heckenschützen und Granatwerfern. Einige meinen, es hat Helden gegeben, die sich vor niemandem und nichts gefürchtet haben und sich mit offener Brust allen entgegengestellt haben. Das ist alles Quatsch! Alle haben natürlich Angst. Es ist etwas anderes, wenn man begreift, dass alles so sein muss und dass man nirgends hin entfliehen oder einfach gehen kann. Also, die Panzerkolonne ist, nehmen wir einmal an, auf dem Vormarsch. Die Deutschen sind natürlich sehr gekonnte Krieger und haben überall auf den Wegen Mienen gelegt. Nehmen wir an, sie haben irgendwo eine Sprengladung versteckt, dann kann man diese natürlich nicht sehen. Ein Panzer fährt drauf und fliegt in die Luft. Dann ist es vielleicht noch eine solche Sprengladung, dass die Panzerhaube — sie wiegt allein schon 5 Tonnen – bis auf 50-70 Meter vom Panzer wegfliegt. Und was ist mit der Besatzung? Da gibt es gar nichts zu fragen. Doch die Kolonne muss sich weiter vorwärts bewegen, denn die Panzer sind es, die weiteres Land zurückerobern. Alles war so organisiert: 15 Minuten fährt der erste Panzer mit Leutnant Iwanow voran, die zweiten 15 Minuten Leutnant Simonow, die dritten 15 Minuten dann Leutnant Schischkin. Und du siehst: der erste Panzer ist in die Luft gegangen, dann der zweite, auf ihn wurde geschossen und du selbst fährst den dritten und nimmst die Position des ersten Panzers ein. Wie soll man da keine Angst haben? Natürlich zittert man am ganzen Leibe. Hier ist nur eins zu sagen: Es ist einfach sehr wichtig, dass man sich selbst im Griff hat und sich beherrschen kann. Ich weiß nicht wie, aber ich habe es schnell gelernt. Gott bewahre deiner Besatzung zu zeigen, dass du Angst hast und am ganzen Leibe zitterst oder etwa die Lage nicht übersehen kannst. Doch was sollte ich da denn überschauen können? Ich war doch gerade erst Leutnant! Und trotzdem tut man so, als ob man ein Stratege wäre und es selbst mit Kutusow aufnehmen könnte. Wenn man dann aber in die Runde schaut, begreift man, dass auch alle anderen dadurch ruhiger werden.

Ganz allgemein gesagt, ist das Schicksal eines Panzerfahrers nicht zu beneiden. Es ist kaum jemandem gelungen, mehr als in Jahr an der Front zu kämpfen. Entweder ist man gefallen oder aber zum Krüppel geworden. Das bedeutete entweder bei lebendigem Leib zu verbrennen oder eine Hand oder ein Bein zu verlieren oder aber auch beides. Sehr schnell entpuppte sich Leutnant Schischkin als der erfahrenste Kommandeur in seinem Heer, obwohl er noch nicht einmal 19 Jahre alt war.

Ich musste fünf Panzer wechseln und in jedem Panzer gab es Tote und Verletzte. Man sagte mir: „Entweder wirst du in einem Panzer lebendig verbrennen“ – so geschieht es häufig – „oder du gerätst in deutsche Gefangenschaft“ – das ist nicht besser. Also dem Alter nach war ich fast mit der jüngste, doch wenn man die Dienstzeit nahm, dann war ich schon ein alter Hase. Unter den Panzerkommandeuren war niemand älter als ich, weil nur ich am Leben geblieben bin, die anderen aber alle umgekommen sind. Man schaut um sich, hier ist jemand zu Tode gekommen, dort sind welche von unseren Jungs verbrannt. Ich selbst saß schon auf dem 5. Panzer und in der Besatzung gab es Opfer zu beklagen. Ich dagegen blieb am Leben — wie ein Heiliger. Oft bin ich wie benommen durch die Gegend gelaufen. Es gab sehr große Verluste.

Also zehn Panzer ziehen ins Gefecht, wenn es ein richtiges Gefecht ist, dann kehren 5 Panzer oder 6 oder 4 zurück. Eine solche Verwundung, wie ich sie dann hatte, war von allen am meisten gefürchtet. Vor dem Tod hatte man weniger Angst. Jeden Tag gab es jemanden zu begraben. Wenn man an einem Tag mal nicht beerdigt hätte, dann hätte man am nächsten Tag dreimal so viele Jungs zu Grabe tragen müssen. Alle haben sehr gut begriffen – sowohl die Infanterie als auch die Panzereinheiten – was Krieg bedeutetet. Man hatte keine Angst mehr vor dem Tod, doch es gab dieses existentielle Gefühl, wie bei einem Tier, dass man sich trotzdem in Sicherheit bringen wollte, das ging allen so. Es war besonders furchtbar, wenn ein Angriff um 12 Uhr angesetzt wurde. Man sitzt und wartet. Man holt seinen Wecker hervor und wartet. Es sind noch 5 Minuten. Gleich geht es los. … 4 Minuten … 3 Minuten … und die letzte Minute. Manchmal beginnen auch die Lippen zu zittern. Damit es aber die Besatzung nicht mitkriegt, nimmt man etwas und tut so, als ob man sich den Mund abwischt oder als ob da etwas juckt: „Jungs, macht euch bereit! Alles fertig? Petrow, Iwanow“ – und selbst presst man die Lippen zusammen. Man kann es nicht beschreiben. Doch dann, wenn es 12 Uhr geschlagen hat, ist dieses – sagen wir es gerade heraus – dumme, peinliche Zittern wie durch einen Wink mit einem Zauberstab sofort vergessen und wie auf Knopfdruck beginnt es im Köpfchen zu arbeiten, wie ein Uhrwerk, wie ein Mechanismus und man kann sofort klar denken und sehen und hat die Orientierung wieder: hierhin lieber nicht fahren, dort muss man vorsichtig sein und weiter dort wurde viel geschossen. Man kann es an der Vielzahl der dort versammelten Krähen ablesen. Wenn man das Auge etwas schärft, dann schafft man es schon und kann die Lage einschätzen.

An der Front ist nach den Worten von Grigorij Schischkin nicht nur solches passiert, wie der Lauf eines Kommandeurs vor einem Panzer, damit der Panzerfahrer seine Angst überwindet —  wie es im Film „Im Krieg ist es wie im Krieg“ dargestellt ist. Es sind Dinge passiert, die sich der Leutnant und Komsomolze im Hinterland überhaupt nicht hat vorstellen können. Als er dann nach dem Krieg davon zu erzählen begann, wollte niemand ihm glauben. Sie meinten nur, dass er sich dies alles nur ausgedacht habe. Doch wer kann schon glauben, dass er, ein Leutnant und Komsomolze, der damals schon als der Erfahrenste galt und Komsomolvorsitzender seines Bataillons war, einmal, nachdem er in einem verbrannten Haus eine alte Bibel gefunden hatte, diese zu sich mit in den Panzer nimmt und sie von vorne bis hinten durchliest und daraufhin das ganze Panzerbataillon, seine gesamte Komsomolgruppe, nach den Geboten und Regeln des Alten und Neuen Testaments leben wird!

Kommt also jemand mit irgendeiner Frage. Ich schlage mit schlauem Gesicht dieses Buch auf, suche die Seite, die ich gerade brauche und lese. Zum Beispiel 7. Vers bei Matthäus, wo geschrieben steht: „Teile mit deinem Nächsten dein letztes Stück Brot“. Ich sage: „Und warum gibst du ihm nicht von deinem Tabak etwas ab?“ Und das war´s: Und indem er murmelt „Na wenn das auch in der Heiligen Schrift geschrieben steht“ – teil er seinen Tabak mit seinem Kameraden. Und so habe ich für sämtliche Sprichwörter eine Stelle in der Bibel und im Evangelium gefunden. Es war eher so ein Spiel. Alle haben sehr gut gewusst, dass es eher ein Spaß war. Dumm natürlich, wie ich es heute sehe, aber wir waren damals ja noch Kinder – gerade erst 18.

Plötzlich wird uns verkündet, dass Generalleutnant Tschernjawskij (er hatte das Kommando über alle Panzertruppen an der Front) mit einer Inspektion zu uns kommt. Ich war der Kommandeur der 1. Panzereinheit. Mein Panzer stand an erster Stelle in der Reihe der Panzer. Er: „Öffnen Sie die Lucke!“ Ich mache sie auf. Ich hatte aber völlig vergessen, es war mir gar nicht in den Kopf gekommen, dass dort diese verbotene Frucht lag – die Bibel und das Evangelium. Ich sitze ruhig da. Plötzlich kommen diese beiden Bücher aus der Luke zum Vorschein und er hinterher. Die Jungs haben mir später erzählt, dass sie alle einen Schreck bekommen haben. Alle hatten davon gewusst, besonders auch die Offiziere, denn alle waren sie ja zu mir gekommen. Auch mir ist natürlich ordentlich ein Scheck in die Glieder gefahren, warum soll ich das hier verbergen. Er ruft unseren Kommissar zu sich, dessen Fotografie ich immer noch habe. „Forschen Sie da einmal nach“ – und gab ihm die beiden Bücher, die Bibel und das Evangelium. Danach ging er zum zweiten Panzer, kletterte aber nicht mehr in ihn hinein, sondern begrüßte alle nur mit Handschlag. Wir alle zu ihm: „Hurra! Hurra!“ Er ging weiter. „Für die Heimat! Für Stalin! Vorwärts! Wir werden siegen!“ Und das war alles. Ein kurzer Gruß und er ist wieder gefahren. Es steht eine Totenstille. Ich kann diese Szene nicht vergessen. Sie war wirklich wie gestellt. Alle stehen da, sind im wahrsten Sinne des Wortes steif geworden und wissen nicht, was sie mit den Büchern anfangen sollen. Der Kommissar (er war damals noch Oberstleutnant) ruft mich zu sich: „Oberleutnant Schischkin!“. Ich trete aus der Reihe hervor. Er gibt mit das Buch zurück. Dann sagt er: „Alles abtreten!“ Er hat kein einziges Wort gesagt. Was war er doch für ein feiner Kerl! Ich muss erstens sagen, dass ich schon lange im Dienst war und dass man mich kannte. Er hätte mich ja auch bestrafen können, er war doch Kommissar und es wäre ja eigentlich seine Pflicht gewesen. Wie kann es angehen — der Komsomolvorsitzende mit einer Bibel. Du verstehst, was ich meine. Man hätte mich erstens aus dem Komsomol ausschließen können und dann auch noch aus der Partei, was gibt es da viel zu sagen. Es hätte richtig Theater geben können.

Die Besatzung des Panzers, oder wie es in dem berühmten Lied auch heißt, die „Mannschaft der Kriegsmaschine“ war wie eine Familie, ja sogar mehr, denn von der Atmosphäre innerhalb der Truppe, vom gegenseitigen Verständnis, hing das Leben jedes einzelnen Panzerfahrers ab. Innerhalb einer Besatzung, die zusammenhielt, teilte jeder mit jedem. Der Leutnant zum Beispiel teilte seine Extraportion, die ihm als Offizier zustand, immer mit seiner Besatzung. Nie aß er sie für sich allein. Briefe aus dem Hinterland, von den Frauen oder den Mädchen, wurden immer laut vorgelesen und dann diskutiert. Es gab keinerlei Geheimnisse voreinander. Und was für rührende Briefe hat unser Bataillonskommandeur Dshimiew – „Väterchen“, wie wir alle ihn nannten — an die Mütter der Offiziere, die sich hervorgetan hatten, geschrieben! Aus den Briefen kann man erkennen, was für eine Atmosphäre in unserem Panzerbataillon geherrscht hat:

„Liebes Mütterchen Maria Timofejewna!

Ihr Sohn, Schischkin, Grigorij Stepanowitsch, hat wahrhaft heldenhaften Mut bewiesen. Die Partei und die Regierung schätzen seinen Kampfeinsatz sehr. Seine Brust ziert nun der Orden „Roter Stern“. Der Kommandeur unserer Einheit, zweimaliger Ordensträger, Major Dshimiew, übermittelt ihnen seinen feurigen Gruß und seine glühende Dankbarkeit für die würdige Erziehung eines solch hervorragenden Soldaten und tapferen Sohnes unserer Heimat. Für weitere Siege im Jahre 1944! …“

Ich hatte einen Freund. Kolka Sokolow. Wir waren sehr eng miteinander befreundet, waren ein Herz und eine Seele. Alle waren wir Freunde und es gab keine Geheimnisse voreinander. Aber es ist eben so, dass einem einer eben besonders ans Herz wächst. Da liegen wir einmal nach einem Gefecht zusammen im Schützengraben. Es wurde ja nicht jeden Tag gekämpft. Es ist falsch anzunehmen, dass jeden Tag nur geschossen wurde. Es kam manchmal vor, dass eine ganze Woche vergeht, manchmal auch zehn Tage und alles ruhig ist. Wir liegen also zusammen im Schützengraben und er kommt näher: „Grischa, sag mal, hast du schon mal ein Mädchen geküsst?“ Und er erzählt mir, wie er auf dem Abschlussball der Schule ein Mädchen, das ihm gefiel, irgendwo im Korridor an die Wand gedrückt und geküsst hat. Ich darauf: „Und wie hat sie reagiert?“ „Sie hat nur gesagt: Blödmann!“ Doch irgendwie hat er dieses Wort als das zärtlichste, was je zu ihm gesagt worden war, empfunden und hat voller Lust immer wieder davon erzählt. Sie haben sich dann Briefe geschrieben. Wahrscheinlich hat sie dieses Wort wirklich in so einem Ton zu ihm gesagt. Der arme Kerl ist dann gefallen. Er war der einzige Sohn seiner Mutter. Er wurde von einer Sprengladung in der Luft zerfetzt. Es gab nicht einmal was zu beerdigen. Und wissen Sie, der Mensch gewöhnt sich an alles. Hier war es Kolka Sokolow, mit ihm hatten wir gestern noch zusammen geschlummert: hatten uns aneinandergedrängt, umarmt, einen Mantel unter uns ausgebreitet und uns mit dem anderen zugedeckt, wenn es sehr kalt war. … Wir waren sehr eng miteinander. Und dann haben wir ihn beerdigt, und das war es dann. Am nächsten Tag denkt man an Kolka, aber Kolka gibt es nicht mehr und dann beginnt man alles schnell zu vergessen. Der Mensch gewöhnt sich an alles, auch an diese Barbarei gewöhnt er sich. …

Die schwerste Prüfung für den Leutnant Schischkin war jedoch nicht der Tod seiner Freunde und nicht das zermürbende Warten, sondern das Misstrauen und die Verdächtigungen mit denen er einmal konfrontiert worden war. Zwei Besatzungen waren mit einem gewöhnlichen Auftrag losgeschickt worden: sie sollten einen Panzer, der stecken geblieben war, herausziehen. Dort sind sie in einen deutschen Hinterhalt geraten. Alle sind dabei umgekommen. Nur Leutnant Schischkin ist es wie durch ein Wunder gelungen, einen Weg hinaus zu finden und sich so in Sicherheit zu bringen. Mit großer Mühe hat er den Weg zu den Seinen zurückgefunden und ist dabei im Winter durch einen eisigen Fluss geschwommen. Als man ihn nach den Umständen des Gefechtes befragte, hat man im dort nicht geglaubt. Vielmehr wurde er zu einer Befragung vor den Nachrichtendienst bestellt. (Von 1943-1946 bestand ein spezieller Nachrichtendienst innerhalb der Roten Armee, der Verräter und Spione innerhalb der eigenen Reihen ausfindig machen sollte. – A.d.Ü.) 

Ich sitze bei diesem Nachrichtendienst. Sitze. Derjenige, der mich verhört, sagt: „Leutnant Schischkin, ich muss von ihnen ein Untersuchungsprotokoll anfertigen“. Ich denke, mein Gott, was soll das denn … aber es wird wohl so vorgeschrieben sein. Er beginnt mit seinen Fragen: „Haben Sie gesehen, wohin der gelaufen ist und wie jener hervorgesprungen ist? ..“ Ich berichte ihm alles und er notiert: die Position der Panzer, wo unsere toten Soldaten gelegen haben. Dann fragt er mich: „Doch wie war es möglich, dass ihr 12 Mann wart, aber nur einer zurückgekehrt ist?“ Das war wirklich so. Es war ja nicht im Gefecht. Da versuch dann einmal, es ihm zu beweisen. Ich berichte ihm alles so, wie es gewesen ist. Ganze zehn Tag lang, vielleicht eine Woche, fühle ich, wie man mich voller Misstrauen und Verdächtigung betrachtet.

Es kommen neue Panzer. Alle freien Offiziere, die bereits an der Front waren, bekommen einen von diesen Panzern und man lässt die jungen sich erholen. Mir gibt man aber keinen Panzer mehr. Ich begreife sehr gut, dass hier Misstrauen mit im Spiel ist. Von 12 konnte sich nur einer retten – das wirft natürlich Fragen auf. Gott bewahre jeden, so etwas durchmachen zu müssen, wenn die anderen glauben, dass man nicht einer von ihnen ist. Doch dann war Neujahr und wir gingen zum Angriff über und eroberten jenen Flecken wieder zurück und fanden die Leichen derer, die umgekommen waren (die Deutschen hatten es nicht fertiggebracht, sie zu beerdigen oder in den Fluss zu werfen). Das einzige, sie hatten bei unseren Panzersoldaten alle ihre Orden abgerissen, bei denen, die welche hatten (jeder hatte seine Orden ja dabei an der Front – Medaillen, Abzeichen und Auszeichnungen). Später dann bekam auch ich wieder einen Panzer zurück und alles andere auch … Ja, so etwas musste ich über mich ergehen lassen. Ich musste im Leben also einiges aushalten.

Und dann kam es zu dem besagten letzten Kampf. Auch wenn Leutnant Schischkin bisher immer großes Glück hatte, war es doch in diesem Krieg, unter diesen Bedingungen und bei den unvorstellbar großen menschlichen Verlusten, praktisch unmöglich, als Panzerfahrer ungeschoren davonzukommen. Es war der Befehl gegeben worden, eine Chaussee und eine Brücke einzunehmen, die von den deutschen Truppenteilen, die auf dem Rückzug waren, genutzt wurde, und sie so lange zu halten, bis die gesamten Truppen nachgerückt sind. Die Aufgabe haben sie erfüllt. Unsere Soldaten gelangten auf die Brücke und haben begonnen, Soldaten und Militärtechnik zu erdrücken.

Die Aufgabe bestand darin, auf die Brücke zu fahren und sie abzuriegeln, dass kein Deutscher sie lebend überqueren konnte. Dann sollten wir auf die Ankunft der eigentlichen Truppen warten. Es war etwa 15 km von der Frontlinie entfernt. So sind wir direkt durch den Wald, den wir mit unseren Raupen einfach niedergewalzt haben, direkt auf die Chaussee, auf der sich Fuhrwerke und Autos und verschiedene Wagen dicht drängten. Man konnte sehen (aus dem Panzer heraus), wie die Deutschen sich umschauten, und nach hinten blickten, aber uns nicht bemerkten und auf der Chaussee immer weiter gingen. Erst als unser Panzer ihnen ihren Weg versperrt hat, haben sie begonnen sie auseinanderzulaufen. Entweder waren sie so unaufmerksam oder sie hatten es überhaupt nicht erwartet, dass wir so schnell auftauchen. Dann sahen wir, dass die ersten Granaten vor unseren Panzern in die Luft gehen. Die Deutschen sind ja auch nicht auf den Kopf gefallen. Wir begreifen, dass die Sache schlecht für uns steht. Wir begannen uns in Bewegung zu setzen: der eine immer vor und zurück, ein anderer immer im Kreis, damit es schwieriger ist, auf uns zu zielen. Wir sahen, wie ein Panzer in Flammen steht und der nächste Feuer fängt. Nun war also auch unser Panzer an der Reihe. Plötzlich stach mir etwas ein wenig im Arm. Es hat nicht weh getan. Dann schaute ich. Mist! Aber dann, als ich aus dem Panzer herausgeklettert bin, waren es höllische Schmerzen! Ich wünsche es niemandem. Ich möchte daran auch gar nicht mehr zurückdenken. Kurz gesagt, im Lazarett habe ich dann das Bewusstsein verloren, weil ich so viel Blut verloren hatte. Als ich zu mir gekommen bin, fand ich mich in einem weißen Krankenzimmer wieder. Ich frage: „Wo bin ich?“ – „Du bist in einem Hospital, mein Söhnchen“. Nach einiger Zeit kamen auch die Ärzte zu mir. Es waren Chirurgen: „Söhnchen, wir müssen das amputieren“. Und so haben sie dann meinen Arm amputiert. In Friedenszeiten hätten sie mir den Arm natürlich drangelassen. Heute reicht dafür eine Operation.

Grigorij Schischkin musste also ertragen, was alle seine Freunde aus der Panzertruppe so sehr gefürchtet haben. Er verlor seinen Arm. Dort im Hospital, als er nach der Operation wieder zu sich gekommen war, hat der junge Leutnant das zweite Mal in seinem Leben daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. Er wollte nicht als Krüppel leben.

Ich hatte schon begriffen, dass es das nun war. Mit 18 Jahren zu einem Krüppel werden! Ich erinnere mich noch sehr gut an meine Sicht auf das Leben, als ich noch ein junger Bengel war. Wenn mir jemand an Krücken entgegenkam, dann ging ich ihm irgendwie aus dem Weg.  … Das ist meiner Meinung nach ganz natürlich, weil man ja Angst hat, ein Krüppel zu sein. Und nun war ich auch so einer und das mit 18 Jahren! Ich entschied – das soll es dann gewesen sein. Dann dachte ich aber: und meine kleine Schwester? (Sie war damals gerade einmal 2 Jahre alt), mich gibt es nicht mehr, unser Vater ist tot. Sie wird dann sagen, dass sie einen Vater hatte, sich aber nicht an ihn erinnern kann, dass sie einen Bruder hatte, von dem sie aber auch kein Bild hat. Ich denke bei mir: „Soll kommen, wie es kommen wird. Diese Sache kann man auch noch später erledigen“.   

Den Glaube an sich selbst, den Wunsch, weiter zu leben, haben ihm die Krankenschwestern zurückgegegeben, oder besser gesagt die Mädchen aus den oberen Schulklassen, die freiwillig in die Krankenhäuser gingen, um die Verwundeten aufzumuntern. Sie haben sich so viel Sorgen um ihn gemacht, so mit ihm gelitten und sich so um ihn gekümmert, als wäre er ein Verwandter von ihnen gewesen, dass Leutnant Schischkin schnell wieder zu Kräften kam.

Durch die Verwundung habe ich, wie ich mich erinnern kann, sehr viel Blut verloren. Ich bekam eine Unmenge an Blutkonserven. Dann, als ich wieder zu mir gekommen war, empfand ich einen Widerwillen gegen jegliches Essen. Damals war es das erste Mal, aber auch vor nicht so langer Zeit, als ich krank war, habe ich so etwas wieder empfunden. Man mag einfach nichts essen. Das ist alles. Und die jungen Mädels, die Ärmsten, saßen alle um mich herum und nannten mich auf die zärtlichste Weise  — mal Grischenka und dann mal so und wieder anders und bitten mich: „Na los, einen Löffel für Papa, einen für Mama …“! Sie selbst sind etwa in meinem Alter, und ich sehe, sie haben Tränen in den Augen. Sie machen sich Sorgen, dass es ihnen nicht gelingt, mich irgendwie zum Essen zu bewegen. Sie tun mir Leid, sie geben sich solche Mühe und ich kann ihnen mit nichts eine Freude bereiten. Verstehen Sie das? Doch dann hatte eine von ihnen frischen Knoblauch mitgebracht, eine kleine Knolle. Es war damals Sommer, jeder brachte immer irgendwelches Grünzeug mit: Petersilie, Dill, um das Krankenhausessen etwas zu verfeinern. Ich habe etwas von dem Knoblauch probiert. Wissen Sie, wie das durchgeschlagen hat und ich sofort angefangen habe zu essen? Auch die Mädels, sehe ich, waren voller Freude, als ob ihnen ein Stein vom Herzen gefallen war. Seit diesem Tag ging es dann immer weiter bergauf.

Noch während er im Krankenhause lag, hat Leutnant Schischkin Kurse zum Erlernen von Buchhaltung besucht, nicht nur für ein Stück Brot, sondern um dabei seine linke ungeschickte Hand zu trainieren. Er hatte begriffen, dass man in die Welt nicht als Krüppel zurückkehren kann, den alle bemitleiden, sondern als ein selbstständiger und arbeitsfähiger Mensch. So ist es dann auch gekommen. Anfang 1945 ist er nach Hause zurückgekehrt. Bis zum Sieg waren es nur wenige Monate.

Ich bin nach Moskau zurückgekehrt. Die Tür zu unserem Zimmer stand offen. Wirklich alles hatte man von dort herausgeholt: nur ein Schreibtisch — ein gewöhnlicher Tisch hätte nicht reingepasst (es war ein Zimmer von nur elf Quadratmetern, dazu noch langgezogen wie ein Schlauch) — ein Bett und ein paar Stühle waren geblieben. Alles andere – Spiegel, Geschirr, die Garderobe, kurz gesagt alles, was man hätte herausholen können, war nicht mehr da. Man hatte sich hier also bedient. Ich will niemanden des Diebstals bezichtigen, es waren schwere Jahre, ich mache keinem einen Vorwurf. Es war offensichtlich, dass das nicht so einfache Leben, die Menschen in Notsituationen gebracht hatte. Auch wenn viele Gauner sind, kann ich trotzdem verstehen, dass man einiges rechtfertigen kann. Die Menschen haben ja gehungert. Und so lege ich mich etwas hin und schlafe. Warum schlafe ich? Weil ich etwas essen wollte, aber die Lebensmittelmarken nur an dem Tag gültig waren, an dem man noch am Leben war, das heißt, für den morgigen Tag wurde einem nichts verkauft. Es ist nichts zu Essen zu Hause, aber man hat riesigen Hunger. Also ist es besser, sich schnell schlafen zu legen, denn schon am nächsten Morgen hatten die nächsten Lebensmittelmarken ihre Gültigkeit. Man läuft in den Laden und dort bekommt man ein Pfund Brot. Man konnte damals auch aus irgendwelchen Gründen überall Krabben kaufen, die schon allen zum Halse heraushingen. Es gab aber wenigstens etwas, was man zwischen die Zähne bekam. Und so lag ich die ganze Zeit und habe geschlafen. Plötzlich wache ich davon auf, dass mich jemand küsst. Gegenüber beim Nachbarn wohnten seine beiden Töchter. Es waren so zwei strenge Mädchen, gute Mädels, die sich solche Freiheiten nicht erlaubt hätten. Doch da kommt eine von ihnen auf mich zu und küsst mich. Meine Mutter, sie ist hier auf dem Foto, war Ärztin in der Zentralen Klinik. Auch sie küsst mich: „Grischka. Wir haben gesiegt! Grischka, der Sieg ist da!“ Ich werde wach und kann irgendwie nicht zu mir kommen. Irgendwie habe ich mich angezogen und trete hinaus auf die Straße. Was sich da auf der Straße abgespielt hat! Alle sind aus ihren Häusern gekommen, es ist wohl niemand in seiner Wohnung geblieben. Und da sehe ich einen — genau so einer wie ich — den haben die Leute sich gegriffen und ihn Hochleben lassen und in die Höhe geworfen. Ich sehe zu und denke mir, jetzt kriegen die mich auch noch zu fassen und ich kann mich nirgends verstecken. Und so habe ich dann still für mich den gesamten Freudentag zu Hause gesessen. Erst am Abend bin ich vor dir Tür gegangen und habe mit den anderen in Moskau den Sieg gefeiert. Tagsüber traute ich mich irgendwie nicht vor die Tür. …

Uebersetzt von Henrik Hansen
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