Der Siebzehnte
Der Name „Amir“ bedeutet auf Arabisch „Gipfel“. Amir Amajew hat man mich genannt — zu Ehren eines Cousins meines Vaters. Wie es sich herausstellte, passt dieser Name zu mir. Ein Junge, der an den Hängen eines hohen Berges im kleinen Aul Untschukatl in Dagestan aufgewachsen ist, hat es in die luftigen Höhen der heimischen Wissenschaften geschafft. Der zukünftige beachtete Spezialist auf dem Gebiet der radioaktiven Rohstoffkunde hat sich als Freiwilliger für die Front gemeldet, wurde schwer verwundet und hat nur überlebt dank der Hilfe einfacher sowjetischer Menschen.
- Amir Dshabrailowitsch, der Aul Untschukatl ist ein Schmelztiegel sehr talentierter Menschen: von dorther stammen ungefähr zehn habilitierte Doktoren der Wissenschaften, mehr als hundert Promovierte und Gewinner vieler Ehrenpreise. Wie konnte so etwas geschehen?
- Dort leben einfach nur Menschen, die gerne arbeiten und sich begeistern können. Unsere Siedlung kann auf eine sehr reiche Geschichte zurückblicken. Während des Zarenreiches kämpfte sie gegen die Schamilja und als die Sowjetunion gegründet wurde, gegen die awarischen Nationalisten. Kaum jemand weiß, dass Untschuktal während des Großen Vaterländischen Krieges unter den Aulen von Dagestan die meisten Männer für den Krieg gestellt hat. Viele von uns sind damals ums Leben gekommen. Mein Onkel hatte Glück. Er hat den Krieg vom ersten Tag an mitgemacht und ist heil nach Hause zurückgekehrt. Er war Arzt und wie er selbst berichtet hat, konnte er am Ende die Zahl der Operationen, die er durchgeführt hatte, schon nicht mehr zählen. Er hat jeden Tag operiert und das ununterbrochen.
- Sind auch Sie damals an die Front gegangen?
- Am 22. Juni 1941 habe ich mein Diplom an der Technischen Fachschule von Machatschkala verteidigt. Als ich erfahren habe, dass Krieg ist, habe ich mich sofort entschlossen, als Freiwilliger an die Front zu gehen. Viele von uns waren von einer solchen Idee beflügelt: der eine wollte zur Flugabwehr, ein anderer zur Marine. Wir wurden jedoch nicht genommen. Man erklärte uns, dass wir als wissenschaftlich-technischer Nachwuchs vom Land sehr gebraucht würden. Auf Anweisung der Fachschule wurden wir alle in den Rüstungsbetrieb Nr. 182, der Torpedos produzierte, geschickt.
Im Februar 1942 ging ich trotzdem als Freiwilliger an die Front. Zuerst kam ich in die Infanterieschule von Machatschkala, die man nach Georgien evakuiert hatte. Dann in eine Militärschule, wo ich als Kommandeur zukünftige Offiziere ausbildete. Als die Deutschen Rostow am Don eingenommen hatten und sich zielstrebig auf Wladikawkas zubewegten, kam Berija in das Gebiet der Kampfhandlungen. Ihm war aufgetragen worden, den Feind unter allen Umständen nicht zum Öl des Kaspischen Meeres und zu den Reichtümern des Kaukasus zu lassen. Er hat den Befehl gegeben: alles zu geben, um den Feind vor Georgien zu stoppen.
- Und ist es gelungen?
- Ja, es hat sich ergeben, dass ich an den Gefechten bei Mosdok beteiligt war. Es waren sehr schwere Kämpfe. Sie dauerten von August 1942 bis Januar 1943. Unsere Fachschule wurde in eine eigene Einheit umgewandelt – in das 69. Jagdpanzerbataillon. Ich gehörte der Infanterie an, im Kontakt mit der Panzereinheit. An Neujahr haben wir alle deutschen Panzerfahrer gefangen genommen. Sie hatten sich Hakenkreuze auf ihrer Gesichter gemalt, sich mit einer Unmenge an Vorräten eingedeckt und sich gerade zu einer Silvesterfeier versammelt. Aber dazu sollte es nicht kommen.
- Während der Kämpfe bei Mosdok gerieten Sie in Gefangenschaft. Wie gelang es Ihnen zu entkommen?
- Dank unserer Freunde, den sowjetischen Leuten! Ich erinnere mich noch, wie der Kommandeur der Armee Gredschko befohlen hatte, dass sich alle in die Erde vergraben sollten, da die Panzerdivision „Adolf Hitler“ im Anmarsch sei. Genau über meinem Schützengraben wendete ein deutscher Panzer, der mich fast in der Erde verschüttet hat. Ihm folgte ein Schützenpanzerwagen. Man konnte mich wunderbar sehen und ich erwartete, dass man mich erschießen würde. Doch ich wurde gefangen genommen.
Die Gefangenen wurden in das Gebiet von Stawropol gebracht. In der Siedlung Rog pferchte man uns, 17 Mann, in eine Scheune, wo wir unserem Schicksal entgegenharrten. Dieses sollte ohne Zweifel Tod durch Erschießen sein. Als man uns hinausführte, war ich der letzte und es gelang mir unbemerkt in eine benachbarte Scheune zu schlüpfen. Diese stand direkt daneben. Dort wurden Pferde gefüttert. Der gutherzige Stallknecht hatte keine Angst, mich im Futtertrog zu verstecken. Er überschüttete mich ganz mit Futter und ließ die Pferde zum Trog. Als die Deutschen alle Gefangenen zählten, bemerkten sie, dass einer fehlte und stürzten sich mit Drohgebärden auf den Stallknecht. Aber gefunden haben sie niemanden. Die Leichen der sechzehn Erschossenen haben sie dann in das Flüsschen Tschernaja geworfen. Der siebzehnte hätte ich sein sollen.
Die Deutschen haben dann bald das Dorf verlassen und der Stallknecht riet mir, mich in die Kosakensiedlung Soldatskaja aufzumachen. Der Dorfälteste von Rog war ein boshafter Mensch, er hätte Angst bekommen können, wenn er mich im Dorf belassen hätte. Doch sechs Kilometer Fußmarsch waren für mich eine unüberwindliche Strecke. Ich konnte mich nur unter großen Mühen auf den Beinen halten! Ich musste es also riskieren und im Dorf bleiben. Und wieder half mir eine gutherzige Frau. Ich klopfte an das Fenster des letzten Hauses im Ort und eine Frau ließ mich ein und machte mir ein Bett für die Nacht. Mir, der ich voller Läuse war und völlig verdreckt. Sie gab mir den Bademantel ihres Mannes, der auch an der Front war, und desinfizierte meine Kleidung.
- Wahrscheinlich hoffte sie, dass auch ihrem Mann, wenn es nötig ist, jemand in der Not Hilfe erweist.
- Im Krieg versuchten sich die Menschen einander zu helfen. Obwohl es auch Verräter gab. Nach der Gefangenschaft wurde ich zur Kontrolle nach Budjonnowsk geschickt. Danach wurde ich Kommandeur einer Schützeneinheit.
Während der erbitterten Gefechte im Gebiet von Krasnodar wurde ich schwer verwundet. Am fünften Mai 1943 traf eine umherirrende Kugel auf die rechte Tasche meines Offiziersmantels. Dort hatte ich eine erbeutete Pistole mit zwanzig Patronen. Alle explodierten. Der Schmerz war furchtbar! Ich war überall von Blei durchlöchert. Das war in der Kosakensiedlung Neberdshajewskaja. Die Deutschen, die sich auf der anderen Seite des Flusses befanden, bewarfen mich mit Minen. Ich kroch in Stiefeln, die ganz voller Blut waren. Um mich herum gingen sechs Minen zu Boden und nicht eine einzige explodierte! Da ist kein Wunder passiert. Das waren sowjetische Kriegsgefangene, die dazu gezwungen wurden, für die Versorgung der faschistischen Truppen zu arbeiten. Sie haben die Sprengkörper einfach nicht geladen und Ausschuss produziert. Auch von dort bekamen wir Hilfe!
Ich wurde dann von Sanitätern aufgesammelt und in ein Hospital gebracht. Ich musste drei Operationen über mich ergehen lassen.
In Machatschkala hat mich der bekannte Professor Zanow, ein Schüler von Burdenko, operiert. Er hat mein Bein vom Knie bis zum Schritt unter lokaler Betäubung aufgeschnitten und dann gesagt: „Ja, so etwas habe ich in meiner chirurgischen Praxis noch nie gesehen!“ Er hat mich mehr als drei Stunden „gesäubert“. Doch mehr als fünfzig Granatsplitter sind im Bein geblieben, die ich immer mal wieder zu spüren bekomme. Nach diesem Vorfall war der Krieg für mich beendet. Nach einem halben Jahr an Krücken bin ich in mein Heimatdorf zurückgekehrt. Lange noch konnte ich mich weder auf ein Pferd setzen noch einen Berg besteigen.
- Doch das hat sie nicht daran gehindert nach dem Krieg den eigentlichen Gipfel ihres Lebens zu erklimmen – den Gipfel der Wissenschaft.
- Ja, denn man hat mich ja nicht umsonst Amir genannt. Nachdem ich am Moskauer Institut für Physik studiert hatte, bin ich auf Zuweisung zu dem heute bekannten Wissenschaftler I. W. Kurtschatow gelangt, obwohl er damals geheim war und gemeinsam mit ihm auch unser gesamtes Kollektiv. Ich habe als erster in der UdSSR die Natur von mit Metall bestrahltem Uran untersucht. Später wurden mir in meiner wissenschaftlichen Tätigkeit mehrere Preise verliehen, unter anderem auch der Leninpreis und zwei weitere staatliche Auszeichnungen. Wissen Sie, ich habe mein Buch „Von den Bergen Dagestans zu den Gipfeln der Wissenschaft“ an alle meine Freunde verschenkt. Man findet es in vielen Bibliotheken (sogar in der Bibliothek des Kongresses der USA). Für mich selbst ein Exemplar aufzubewahren, habe ich vergessen, sowie ich auch während des Krieges eine Rentenzahlung wegen meiner Verwundung abgelehnt habe. Ich habe sie in den Fond für Verteidigung überweisen lassen. Auch das habe ich nie bereut. Wir haben damals nach dem Prinzip „Zuerst den anderen und dann erst für sich“ gelebt und deshalb auch gesiegt.
Uebersetzt von Henrik Hansen
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