22 Dezember 2006| Verfasser Farberov A.I. (übersetzt von Pritvorova Maria)

Der Freiwillige

„Dass ich an Gott glaube, kommt vom Krieg her“, — erzaehlte mir mein Opa, — und zwar wegen eines Mannes, der Anatolij hiess. Er diente bei unserer Panzerbrigade seit Dezember 1941. Er war Mechaniker. Der Kerl stammte aus dem kleinen Staedtchen Porchov bei Pskov. Er wirkte immer ruhig und bedaechtig. Immer trug er ein Kreuz auf dem Hals, und vor jedem Kampf schlug er unbedingt ein Kreuz.

Unser Kommandeur Jurij war wuetender Komsomolze und konnte den Anblick beider Arten des Kreuzes kaum ertragen. „Bist du etwa ein Pope?!“, stuermte er auf Tolja ein. „Wo kommt denn so einer her? Wie hat man dich bloss an die Front gehen lassen? Du gehoerst ja gar nicht zu uns!“

Tolja beantwortete dies immer wuerdevoll und ruhig: „Ich gehoere zu Euch, ich bin Pskover, Russe also. Und ich stamme nicht von Popen ab, sondern von Bauern. Meine Oma war glaeubig, Gott beschuetze sie. Und sie war es auch, die mich im Glauben erzogen hat. An die Front bin ich aber freiwillig gegangen, das weisst du doch selber. Die Orthodoxen haben immer fuer das Vaterland gekaempft!“ Jura beinahe platzte vor Wut, man konnte aber ueber nichts ausser das Kreuz noergeln, denn ansonsten machte Tolja alles so, wie es sich gehoert.

Ich denke daran, dass Jurij uns allen einmal 1942 sagte — wir waren damals beinahe in den Kessel geraten: „Geraten wir in Gefangenschaft, erschiessen sich alle laut Befehl! Sich nicht ergeben!“ Niedergeschlagen und angespannt schwiegen wir, nur Tolja antwortete, wie ueblich, ganz gemaechlich: „Mich erschiessen kann ich nicht, diese Suende, Selbstmord also, kann Gott nicht verzeihen“. „Geraetst du in die Hand der Deutschen, so wirst zum Verraeter!“,  warf Jurij ihm erbost vor. „Nie und nimmer! Wir Pskover sind feste Kerle“, sagte Tolja. Gott sei dank, damals entrannen wir sowohl der Gefangenschaft als auch dem Kessel.
In Weissrussland wurde Anfang 1944 einigen Einheiten befohlen, sich zu einer Wegkreuzung zu begeben, an der unsere Infanterie schon einige Stunden gekaempft hatte. Da war ein deutscher Munitionszug steckengeblieben: Er war einem grossen Verband zu Hilfe gekommen, der versucht hatte, uns eine Schluesselstellung zu entreissen … Der Kampf dauerte nicht lange. Zwei unserer Wagen gingen sofort in Flammen auf. Unser Panzer umfuhr sie und befand sich schon in voller Fahrt auf die Wegkreuzung, die hinter den Baumstaemmen sichtbar wurde, als etwas an der Panzerung schuerfte und ploetzlich Feuer in der Kabine aufloderte …

Der Panzer blieb stehen. Tolja und ich schleppten Volodja (er war der juengste unter uns) aus der Luke, liessen ihn nieder und liefen etwa 40 Meter zur Seite. Dann sahen wir ihn an, er war tot. Manchmal sieht man das sofort … Da schrie Tolja: „Wo ist der Kommandeur?“ Es stimmte, Jurij fehlte. Und der ganze Panzer stand schon lodernd in Brand. Tolja bekreuzigte sich, und rief mir zu: „Deck mich!“, und lief zurueck. Als ich auf den Panzer zulief, schleppte er Jura schon herunter. Unser Kommandeur kam mit dem Leben davon, er bekam bloss eine Quetschung und Verbrennungen ab. Er konnte kaum etwas sehen. Er war es aber, der das Knirschen hoerte und rief: „Brueder, da ist der Zug! Er schlaegt sich durch!“
Da hoerten auch wir, wie unser Panzer aufheulte und auftoste … Der ganze Panzer stand in Brand, wie eine riesige Fackel… Den auf sie dahinjagenden Feuerwirbelsturm erfassend, fingen die Deutschen an, wie chaotisch zu schiessen, konnten aber den Т-34 nicht mehr aufhalten. In Flammen stehend brach der Panzer in voller Fahrt in die vorderen Wagen des deutschen Zuges ein. Ich erinnere mich auch, wie die Luft von einem Hoellenkrach zersprang: die Granatkaesten fingen an zu explorieren …

Im Sanitaetsbataillon weinte Jura wie ein kleiner Junge und wiederholte heiser hustend immer wieder: „Du, Mischa, wie ist denn Gott? Tolja durfte sich doch nicht toeten! Er ist doch glaeubig! Was nur alles passiert!»

Zwei Jahre spaeter kam ich ins Pskover Gebiet und besuchte das kleine Staedtchen Porchov. Da fand ich eine kleine Kirche, wo man an Toljas Oma und an Tolja selbst erinnerte. Der alte Priester hatte ihn gesegnet, bevor er an die Front ging. Diesem Priester erzaehlte ich auch ganz ehrlich die ganze Geschichte von Tolja, und wie er gestorben war. Der Priester dachte nach, bekreuzigte sich, und schuettelte den Kopf. Und dem vollen Ritus gemaess las er die Messe „fuer den verstorbenen Knecht Gottes Anatolij, der fuer das Vaterland und fuer den orthodoxen Glauben getoetet worden war und seine Seele fuer das Vaterland hingegeben hatte“.

Aus: Spasi i sohrani. Svidetel’stva ochevidcev o milosti i pomochshi Bozhoej Rossii v Velikuju Otechestvennuju vojnu. (Gott, rette und beschuetze! Augenzeugen berichten von der Gnade und Hilfe, die Gott Russland im Grossen Vaterlaendischen Krieg erwies). Verfasser: A.I. Farberov. Moskau, Kovcheg-Verlag 2006, S. 112-115.

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