Das Schicksal eines Findelkindes
Ich wurde ungefähr im März geboren. Wann genau, dass weiß ich nicht. Es muss aber in der Stadt Rjaschsk im Gebiet von Rjasan gewesen sein. Auf der Brücke über den Fluß Chupta lag ein Bündel mit einem Säugling darin. Über diese Brücke gingen die Leute, die in den umliegenden Dörfern von Rjaschsk lebten, um zu ihrer Arbeit zu gelangen. Sie waren es, die mein Weinen gehört hatten. Später dann, wie man mir erzählt hat, ist ein Milizionär an mich herangetreten, hat das Bündel genommen und es in ein Waisenhaus gebracht. An dem Bündel hing ein Zettel: „Nesterow, Vasja“. Weiter war geschrieben, dass ich 1924 geboren worden bin. Im Waisenhaus war ich etwa drei Jahre lang, dann kam ich in ein Kinderheim. Aus dem Kinderheim nahmen mich 1927 Leute zu sich, die meine Eltern wurden und mich großzogen. Das waren Moltschanowa, Marfa Pawlowna und Moltschanow, Fjodor Philipowitsch. Sie hatten keine Kinder. Wegen meines Ziehvaters bekam ich so den Vatersnamen Fjodorowitsch. Was den Hunger in den 30-iger Jahren anbelangt, kann ich mich daran nicht erinnern, da meine neuen Eltern beide in einer Bäckerei arbeiteten.
1940 kamen Leute aus dem Fliegerklub zu uns in die Stadt und fragten, wer von den Jungs einmal Flieger werden wolle. Ich und noch vier andere hoben unsere Hände. Man begutachtete mich und sagte, dass ich physisch ausgezeichnet entwickelt wäre, und so wurde ich für flugtauglich eingestuft. Man muss sagen, dass ich ein guter Sportler war und ernsthaft Leichtathletik betrieb. Ich lief Kurzstrecke: 100, 200, 400 und 500 Meter. Dazu kam noch Weitsprung. Im Fliegerklub wurde ich für den Einsatz auf einer U2 geschult. Eines Tages kam eine Kommission aus Rustawi [1], die mich auf den dortigen Flugplatz entsandte, wo ich dann mit Flugzeugen der Marke I-16, I-15 in die Luft stieg. In einer I-153 habe ich nur gesessen, habe sie aber nie selbst geflogen.
Als der Krieg begann, wurde ich in die Fliegerschule von Stalingrad geschickt, wo man mir das Schießen auf Ziele am Boden und in der Luft beibrachte. Wir Offiziersschüler wollten unbedingt an die Front. Doch nach der Beendigung der Pilotenschule wurden wir noch in Kasachstan für die Jak-1, Jak-7, Jak-7b, die Jak-9 usw. ausgebildet. Von Kasachstan aus wurden wir dann endlich an die Front gebracht. Die Deutschen hatten gute Flugzeuge, zum Beispiel die Messerschmidts oder die Focke-Wulf (Fw.190), die sogar neben den Maschinengeschosse noch eine Kanone hatte. Unsere Flugzeuge hatten keine Kanonen.
Das Miteinander unter den Soldaten aller Nationalitäten war völlig normal. Wir hatten Weißrussen, Ukrainer, Moldawier, Tataren und Juden an unserer Seite. Es gab keinerlei Konflikte zwischen den Nationalitäten.
Bei einem Kampfeinsatz mit dem Flugzeug näherte ich mich einmal einer Ju-88 und schoss auf den gegnerischen Schützen. Danach sollte ich zur Seite fliegen, doch in diesem Augenblick gab es am Kabinendach meines Flugzeuges einen gewaltigen Aufprall. Die Kabinenhaube löste sich und flog davon. Ich fasste mir ins Gesicht. Alles war voller Blut. Ich war bei vollem Bewusstsein, verstand aber, dass ich am Schädel getroffen worden war. Ich leitete sofort eine Notlandung in Owrutsch ein. Dort dachte man, dass ich auf dem Flugzeugrumpf landen werde, doch ich landete, wie es sich gehört, auf den Rädern. Vor Ort befanden sich sofort medizinisches Personal und auch eine Feuerwehr. Ich wurde gewaschen und genäht. Ungefähr nach zwei Wochen bat ich, dass man mich aus dem Feldlazarett nach Korosten schicken möge.
Auch nach dieser Verletzung bin ich noch bis zum Ende des Krieges geflogen und bis nach Dresden gekommen. Vor uns hatten die Amerikaner diese Stadt bereits in Schutt und Asche gelegt. Wir haben es so verstanden, dass sie uns auf diese Weise ihre Stärke demonstrieren wollten. Als wir aus Dresden zurückkehrten, landeten wir in der Stadt Stanislaw[2] in der Westukraine. Dort erlebte ich den Tag des Sieges. Die Deutschen versuchten, sich nicht uns zu ergeben, sondern den Amerikanern. Sie hatten Angst vor uns. Denn wie viel hatten sie bei uns auch angerichtet: wie viele Dörfer waren verbrannt, Frauen ermordet und Kinder und Alte getötet.
Nach dem Krieg sind Vertreter aus Amerika zu uns gekommen. Wir kamen mit Flugzeugen geflogen, die uns über die Pacht- und Leihhilfe innerhalb der Alliierten zur Verfügung gestellt worden sind. Als der Krieg dann endgültig zu Ende war, sollten wir sie zurückgeben. Ich gehörte damals einer Brigade an, die Flugzeuge aus Stanislaw nach Korosten fliegen sollte. Wir haben gedacht, dass die Amerikaner ihre Flugzeuge zurücknehmen werden. Wir haben ja auch zu Beginn des Krieges Flugzeuge von Tschuchotka nach Moskau und ins Moskauer Gebiet geflogen. Als die Amerikaner die Flugzeuge ansahen, habe sie uns gebeten, dass wir einen Traktor bereitstellen. Sie haben den Mechanikern gesagt, die Fahrgestelle einzufahren und die Flugzeuge auf den Rumpf zu stellen und sind dann mit Hilfe von Traktoren vor unseren Augen auf den Flugzeugen herumgefahren.
Nach dem Krieg bin ich aus der Westukraine nach Korosten zurückgekehrt. Ich wurde nicht sofort entlassen, denn ich sollte junge Piloten anlernen, die aus Spezialschulen zu uns kamen. Ich habe nach dem Krieg auch weiterhin Sport getrieben. Als 1947 die sowjetischen Leichtathletikmeisterschaften stattfanden, habe ich dort an den 100, 200, und 400 Meter-Läufen und auch beim Weitsprung teilgenommen. Vier Mal habe ich den ersten Platz belegt. Ich sollte in die Leichtathletikorganisation der Sowjetunion aufgenommen werden und an anderen sowjetischen Meisterschaften teilnehmen. Doch das habe ich abgelehnt, weil ich damals zum stellvertretenden Politoffizier der Fliegerstaffel befördert worden bin.
1949 habe ich geheiratet und 1950 wurde unser Sohn geboren. Bis 1960 habe ich noch im Heer gedient. Etwa 1962-1963 sind wir dann nach Moskau umgezogen. Dort habe ich angefangen, bei Aeroflot als Dispatcher zu arbeiten. Ich habe Englisch gelernt, weil wir Flugzeuge geleitet haben, die auf westlichen Flugrouten zu uns kamen. Ich habe mit einer Dolmetscherin zusammengearbeitet, die immer eingesprungen ist, wenn ich etwas nicht verstanden habe.
Für meine Verdienste im Krieg bin ich mit dem Orden Roter Stern und dem Orden Großer Vaterländischer Krieg 1. Stufe ausgezeichnet worden.
[1] Eine Stadt bei Tbilissi.
[2] Diesen Namen hatte die Stadt bis 1962, heute heißt sie Iwano-Frankowsk.
Uebersetzt von Henrik Hansen
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