26 Oktober 2008| Kusmenko Nikolaj Iossifowitsch

Briefe sowjetischer Kriegsgefangener. N. Kusmenko

Gebiet von Poltawa, Ukraine, 20.10. 2004

Sehr geehrte Mitarbeiter von KONTAKTE,
hochverehrte Hilde Schramm und Eberhard Radczuweit,

zunaechst moechte ich mich fuer Ihre finanzielle Hilfe bedanken. Ehrlich gesagt, fuer mich kam diese Hilfe voellig unerwartet, denn ich hatte in Bezug auf mein Schicksal schon jede Hoffnung auf Gerechtigkeit und Verstaendnis sowohl seitens der ukrai­nischen als auch der deutschen Regierung aufgegeben. Ihre Hilfe kam gerade zum richtigen Zeitpunkt, ich bin momentan sehr krank. Im Februar 2004 wurde ich wegen eines Prostataadenoms operiert. Obwohl ich Kriegsveteran der 2. Stufe bin, musste ich alle Krankenhauskosten in vollem Umfang selbst tragen. So sieht in Wirklichkeit das Verhaeltnis der Regierung zu den Kriegsversehrten und Kriegsve­teranen aus, obwohl es in jedem Jahr am Vorabend des Siegesfeiertages nicht an Erklaerungen und Worthuelsen mangelt.

Ein Beispiel dafuer: Als Kriegsveteran und Kriegsversehrter haette ich schon lange Anspruch auf ein Telefon, mein Antrag wird jedoch immer wieder abgelehnt mit dem Hinweis auf fehlende technische Moeglichkeiten. Aber das stimmt so nicht, das Telefonkabel verlaeuft genau an meinem Haus entlang! Um den fuer mich so dringenden Telefonanschluss zu bekommen, soll ich ueber 5000 Hriwna [1] zahlen, was bei meiner Rente von 302 Hriwna [2] voellig unmoeglich ist.

Liebe Hilde Schramm und Eberhard Radczuweit, als ich Ihren Brief erhielt, kamen mir die Traenen.

Ich dachte, es kann nicht wahr sein, dass es im fernen Deutschland Menschen gibt, die 60 Jahre nach Kriegsende Hilfe leisten wollen! Das kann ich gar nicht glauben! So was ist nur mit Gottes Hilfe moeglich. Ich kann noch immer nicht verstehen, warum ich nicht entschaedigungsberechtigt bin, obwohl ich genauso wie die zivilen Ostarbeiter in den Gruben arbeiten musste. Fuer diese Arbeit sollten alle gleichermassen entlohnt werden. Zumal die Bedingungen, unter denen ich arbeitete, weit schlimmer waren als bei den Ostarbeitern.

N. Kusmenko, vor 1940

Ich will Ihrer Bitte nachkommen und meine Erinnerungen an die Zeit in der Gefangenschaft aufschreiben. Ab September 1940 diente ich im 6. Artillerieregiment als Soldat der ehemaligen Sowjetarmee, spaeter dann als Sergeant. Mit Beginn des Krieges wurde ich Maschinengewehrschuetze. Unseren sowjetischen Kom­mandeuren hatten wir zu verdanken, dass unser gesamtes Regiment im Sep­tember 1942 im besetzten Gebiet einge­kesselt wurde. So kam ich zunaechst mit anderen Gefangenen in ein Lager auf be­setztem sowjetischem Territorium, wo wir beim Bau militaerischer Objekte zum Einsatz kamen. Ich erinnere mich, in Gefangenschaft geriet ich in der Naehe von Beljow im Gebiet Tula, unweit von Moskau.

Ab dem ersten Tag meiner Ankunft im KZ schickte man mich unter Bewachung zur Sklavenarbeit in die Gruben 1/2 und 3 in Herne. Ich musste Gesteinsmassen und Kohle ein- und ausladen. Dafuer gab es natuerlich keinerlei Lohn, nur mise­rables Essen. Zu der Zeit war ich zwar koerperlich noch recht widerstandsfaehig, aber ich hatte staendig Hunger.

Dann kam der Tag, an dem mich an­gesichts dieser unendlichen Quaelereien eine solche Angst und Verzweiflung packte, dass ich beschloss, diesem Zustand ein Ende zu setzen. Beim Ausladen von Gestein erwischte ich einen Moment, in dem sich der Wachmann abgewendet hatte. Kurzer­hand lief ich davon, ueberwand die Umzaeunung, rannte in Richtung der Wohnhaeuser und gelangte auf einen Hof. Das alles geschah in Minutenschnelle. Ich lief dann in eine Art Schuppen, in dem Kaninchenbuchten standen. Nun hatte ich nur noch einen Gedanken — ein Kaninchen schnappen, toeten und einfach, roh wie es war, verschlingen! So tat ich es auch, aber ich schaffte nicht, es ganz aufzuessen. Der Hof­besitzer hatte wohl gesehen, dass jemand in den Schuppen gelaufen war, an meiner Kleidung konnte er mich als Straefling erkennen und alarmierte die Wachmannschaft. Bald darauf erschienen einige bewaffnete Wachleute und bewegten sich Richtung Schuppen. Mir war klar — das ist mein Ende. So waere es auch gekommen, denn einer der Wachmaenner richtete die Pistole auf mich und hatte schon den Finger am Abzug, da rief der Hofbesitzer ploetzlich so etwas wie »Stopp«. Er zeigte auf das tote, zur Haelfte abgenagte Kaninchen und winkte ab. Sein Blick sprach etwa »bei Gott, lasst ihn laufen, der hat bloss Hunger«. Koennen Sie sich vorstellen, was in mir vorging in diesen Minuten? Das kann man mit Worten kaum beschreiben. Damals habe ich begriffen, die Deutschen sind genau solche Menschen wie wir. Mein Gefuehl sagte mir, dass die Todesgefahr vorbei war. Der Wachmann liess die Hand mit der Pistole sinken und sagte »komm«. Nach einer Stunde war ich wieder im Lager. Diese Begebenheit ging mir lange nicht aus dem Kopf, und letztendlich kam ich zu dem Schluss, dass die einfachen Deutschen anstaendig sind und nichts gemein haben mit den geltungssuechtigen Politikern.

Mehr als zwei Jahre habe ich im Schacht gearbeitet, bis zu meiner Befreiung durch die Amerikaner im Mai 1945. Dann wurde ich an die sowjetischen Streitkraefte uebergeben. Nach der Rueckkehr in die Sowjetunion haben mich NKWD-Leute und Spezialdienste ueber ein Jahr lang tyrannisiert und verlangten irgendwelche Informationen und Aussagen. Als ob ich mich aus freien Stuecken in die Gefangenschaft begeben haette! Sie sagten: »Fuer uns gibt es keine Kriegsgefangenen, fuer uns gibt es nur Vater­landsverraeter!« Wieder musste ich Hohn und Spott ertragen, nur jetzt von anderer Seite. Und so das ganze Leben.

Jetzt endlich, nach 60 Jahren, habe ich mit Gottes Gnade Zeichen der Verstaendigung und Versoehnung erfahren. Nun aber ist es die Bundesregierung, die mir die zustehende Anerkennung und materielle Hilfeleistung verwehrt. Liebe Frau Schramm und Herr Radczuweit, helfen Sie mir bitte, dieses Problem im Vorfeld des 60. Jahrestages des Sieges ueber den Faschismus zu loesen. Regt sich denn bei niemandem das Gewissen?

Von ganzem Herzen lade ich Sie zu mir ein. Ich werde auf Ihren Besuch warten, denn ich moechte Sie persoenlich kennenlernen und ein grosses Dankeschoen ausspre­chen fuer Ihre Muehe um mich und meine Leidensgefaehrten. Ich kann gar nicht alles schreiben, aber ich habe soviel zu erzaehlen. Glauben Sie mir, das reicht fuer ein Buch oder sogar einen Film. Auf Wiedersehen, kommen Sie, wann immer Sie moechten.

 

Hochachtungsvoll,
Nikolai Iossifowitsch Kusmenko,
Opfer des NS-Regimes, jetzt Buerger der Ukraine.

PS: Ich bin jetzt 83, mein Geburtstag ist der 9. Mai 1921. Seit dem 9. Mai 1945 habe ich doppelten Grund zum Feiern. Allerdings hat mir bisher nie einer der Veteranenverbaende zu diesem Tag gratuliert.
[1] — Ca. 780 Euro.
[2] — Ca. 47 Euro.

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