9 Februar 2014| Nikulin Juri Wladimirowitsch, Schauspieler und Zirkusartist

Ich hatte Glück

Juri Nikulin, 1939

Juri Nikulin, 1939.

Der Durchbruch der Blockade

1944 begann unsere Offensive an der Front von Leningrad. Mit großer Freude hörten wir die Stimme von Levitan, der im Radio die Befehle des Oberkommandierenden verlas.

Der 14. Januar 1944 prägte sich für immer in mein Leben ein —  der Tag der großen Offensive, dank derer unsere Truppen die Blockade durchbrochen haben und die Faschisten von Leningrad zurückgeworfen wurden. Der Angriff wurde durch lang andauerndes Artilleriefeuer vorbereitet. Obwohl es an diesem Tag 20 Grad Minus war, schmolz der Schnee oder verschwand unter einer schwarzen Decke aus Ruß. Die Stämme vieler Bäume zerbarsten. Nachdem die Vorbereitung durch die Artillerie beendet war, schickten sich die Bodentruppen an zum Sturm. Unsere Batterie machte sich auf und zog von Pulkowo aus los. Auf dem Weg klafften die Bombentrichter. Überall lagen tote deutsche Soldaten. Gegen Abend bildete sich auf der Trasse ein Stau.

Es wurde Nacht. Es war finster und der Zug aus einer Unmenge an Soldaten und Kampftechnik kam ins Stoppen. Es war nicht möglich, auch nur einen Schritt vor den anderen zu setzen. Zu unserem Glück war schlechtes Wetter und die Deutschen konnten ihre Luftwaffe nicht einsetzen. Wenn sie begonnen hätten, uns aus der Luft zu bombardieren, hätte es für uns schlecht ausgesehen. Unser Kommandeur Chinin erkannte sofort die Gefahr, die ein solcher „Stau“ darstellte: wenn es morgen früh wieder aufklart, sich der Stau aber bis dahin nicht aufgelöst hat, müssen wir die Trasse decken. Er gab deshalb unserer gesamten Einheit den Befehl, sich von der Chaussee weg ins Umland zu begeben.

Unsere Schleppzüge entfernten sich von der Trasse etwa vierhundert Meter ins Land hinein. Unsere gesamte Batterie begann Schützengräben auszuheben. Wir, eine kleine Gruppe von Kundschaftern, bleiben bei einem Bunker stehen, vor dessen Eingang ein getöteter rothaariger Faschist lag. Neben ihm waren Fotos und Briefe verstreut. Wir sahen uns die Bilder an und lasen die ordentlich geschriebenen Erklärungen zu ihnen: mit genauen Daten, was wann passiert war.

Da war die Hochzeit des Getöteten, hier war er beim Friseur. Auf einem anderen Bild wurde er an die Front begleitet. Wieder auf einem anderen stand er an der Ostfront neben einem Panzer. Und nun lag er da vor uns – tot. Wir empfanden weder Hass noch Zorn für ihn.

Die vergangenen Tage hatten wie nicht geschlafen. Wir waren furchtbar müde und bis auf die Haut durchnässt. Wegen des Tauwetters war alles aufgeweicht. Überall war Schlamm und Schmutz. Es war feucht und ungemütlich. Wir betraten den Bunker der Deutschen, zündeten unseren kleinen Spirituskocher an und holten unser Lebensmittelpaket hervor: Wurst, Zwieback und Zucker.

Wir begannen zu essen. Da sahen wir, wie auf einem hervorstehenden Balken in aller Ruhe eine Maus herumspazierte. Einer von uns rief ihr etwas zu, doch die Maus schenkte uns keine Aufmerksamkeit. Sie kroch auf dem Balken weiter und sprang zu uns auf den Tisch. Es war noch ein kleines Tier. Sie erhob sich auf ihre Hinterbeine – so wie es Hunde gewöhnlich tun – und bat uns um etwas zu Essen. Ich hielt ihr ein Stück amerikanische Wurst hin. Sie nahm es mit den Vorderpfötchen und begann zu fressen. Wir alle schauten ihr voller Verwunderung zu.

Scheinbar hatten die Deutschen, die zuvor in diesem Bunker gehaust hatten, ihr beigebracht, statt die Menschen zu fürchten, sie um Essen zu bitten. Petuchow zog plötzlich seine Maschinenpistole und zielte auf den ungebetenen Gast. Ich ergriff ihn am Arm und sagte:

— Wanja, lass das!

— Es ist doch eine deutsche Maus – reagierte Petuchow irritiert.

— Was für ein Blödsinn! Es ist eine Maus von uns, eine Maus aus Leningrad. Meinst du, die Deutschen haben sie von zu Hause hier her mitgebracht?  Schau dir doch ihr Gesicht an!

Alle brachen in Lachen aus. Die Maus blieb also am Leben. (Als ich nach dem Krieg meinem Vater von diesem Vorfall erzählte, war er voller Stolz, denn er meinte, dass ich eine wahrhaft heroische Tat vollbracht habe.)

Am Morgen klarte der Himmel etwas auf, und über uns zog zwei Mal die feindliche „Rama“ – ein spezielles Flugzeug der Kundschafter — ihre Kreise. Zwei Stunden später eröffneten die Deutschen mit weitrechendem Geschütz das Feuer auf unsere Stellungen. Die Explosionen hörte ich aber nicht, da ich tief und fest schlief.

— Tragt Nikulin heraus! – schrie der Kommandeur unserer Einheit.

Nur mir Mühe zogen mich meine Kameraden aus dem Bunker heraus und versuchten mich mit großer Mühe wach zu kriegen. (Später erzählten sie mir, dass ich geknurrt und um mich geschlagen und immer wieder erklärt hätte, dass ich schlafen wolle und dass die Deutschen ruhig schießen sollen). Sie hatten mich gerade ein kleines Stückchen vom Bunker weggeschleppt, als wir mit ansehen mussten, wie dieser in die Luft flog: Eine Granate hatte ihn getroffen. So hatte ich auch dieses Mal Glück gehabt.

Im Krieg ist es, wie im Krieg

Ich kann nicht behaupten, dass ich zu den besonders Mutigen gehöre. Nein, ich hatte oft Angst. Es kommt nämlich immer nur darauf an, wie sich bei jedem die Angst bemerkbar macht. Die einen bekommen hysterische Anfälle – sie weinen, schreien und laufen fort. Andere ertragen alles, was um sie herum geschieht, mit Ruhe.

Der Feind beginnt einen zu beschießen. Man hört zuerst die Schüsse, dann vernimmt man, wie das Pfeifen einer Granate immer näher kommt. Sofort wird einem nicht wohl zumute. In den Sekunden, in denen das Geschoss in der Luft ist und immer Näher kommt, meint man zu sich selbst: „Das war´s dann. Das ist meine Kugel“.  Mit der Zeit stumpft dieses Gefühl immer weiter ab, denn man hat es schon tausend Mal erlebt.

Trotzdem kann ich den ersten Kameraden, der in meinem Beisein getötet worden ist, nicht vergessen. Wir saßen in einer Feuerstellung und aßen aus unserem Feldgeschirr. Plötzlich schlug neben unseren Geschützen eine Granate ein und einem Soldaten, der gerade sein Gewehr aufladen wollte, haut ein Granatsplitter den Kopf ab. Da sitzt ein Mensch mit einem Löffel in der Hand, aus seinem Essgeschirr steigt noch Dampf auf, aber der obere Teil seines Kopfes ist abgetrennt, sauber – wie mit einer Rasierklinge.

Eigentlich sollte einem der Tod im Krieg nicht mehr besonders beunruhigen. Doch jedes Mal war es wie ein Schock. Ich habe ein Feld gesehen, auf dem ganze Reihen von toten Soldaten lagen: So wie sie angegriffen hatten, hat sie allesamt ein Granatwerfer abgesäbelt. Ich habe Körper gesehen, die von Granaten und Bomben ganz zerfetzt waren. Das Furchtbarste ist jedoch ein unnötiger Tot, wenn sich eine Kugel verirrt oder jemand zufällig von einem Granatsplitter getroffen wird.

Während einer Rast saßen wir einmal um ein Feuer und redeten friedlich miteinander. Mein Freund – er ist auch ein Moskauer – zeigte uns seine Briefe, die er von zu Hause bekommen hatte und in denen Zeichnungen beigelegt waren, die sein Sohn angefertigt hatte.

— Schaut, was ich für einen wunderbaren Sohn habe, er kann gut zeichnen – meinte er voller Freude. — Er geht in die dritte Klasse. Meine Frau schreibt, dass er Sehnsucht nach mir hat.

In diesem Augenblick kam der Kommandeur unserer Truppe vorbei. Er zog den Patronenstreifen aus seiner Pistole hervor und warf die Waffe meinem Landsmann zu, damit dieser sie reinige.

Der Soldat, in der Annahme, dass keine Patrone mehr in der Pistole sei, führte ihre Mündung an seine Schläfe, blinzelte uns mit listigen Augen an und meinte: „Ach, ich habe keine Lust mehr zum Leben.“ Und er drückte ab. Scheinbar wollte er sich einen Spaß erlauben. Aber in diesem Moment ertönte ein Schuss. Der Kerl fiel sofort tot zu Boden. Er liegt und in der Schläfe hat er ein rotes Loch, zwischen den Zähnen eine noch rauchende Zigarette. Was für ein grausamer Tod! Ein sinnloser und dummer Tod! Natürlich war das ein Unfall. Im Lauf der Pistole war zufällig eine Patrone hängen geblieben.

Jedes Mal, wenn vor meinen Augen einer meiner Kameraden ums Leben kam, hab ich mir immer wieder gesagt: „ Das hätte auch mich treffen können“.

Ich erinnere mich auch noch an einen anderen wunderbaren Kerl, der mit uns seinen Dienst getan hat: Gernik. Eines Nachts warf über unserer Position ein Flugzeug eine kleine Bombe ab, so etwa vierzig-fünfzig Meter von dem Ort, wo Gernik gerade schlief. Die Bombe explodierte und ein kleiner Splitter traf ihn am Kopf — genau an der Schläfe. So starb er mitten im Schlaf. Am Morgen weckten wir ihn, aber er stand nicht auf. Erst da haben wir das kleine Loch in seiner Schläfe bemerkt. Wenn er den Kopf nur um einige Zentimeter weiter nach rechts gelegt hätte, wäre er am Leben geblieben.

Dann noch der Tod des Kommandeurs der Truppe Wolodja Andrejew. Was war er für ein großartiger Kerl! Er konnte wunderbare Lieder singen. Er schrieb sogar seine eigenen Verse. Sie waren bemerkenswert! Und dann musste er auf eine so sinnlose Weise sterben. Zwei Tage hatten wir nicht geschlafen. Den Tag über wehrten wir uns gegen die Eskapaden der „Junkers“, die unsere Einheit aus der Luft bombardierten. In der Nacht wechselten wir die Stellung. Während einer Überfahrt setzte sich Wolodja auf die Kanone seines Panzers und schlief ein. Im Schlaf fiel er dann herunter. Niemand hatte es bemerkt. Er wurde von einem Panzer überfahren. Das einzige, was er vor dem Tod noch sagen konnte, war: „Sagt es meiner Mutter …“

Wenn ich an den Verlust meiner Kameraden denke, dann wird mir bewusst, wie viel Glück ich immer gehabt habe. Einige Male schien es mir, dass ich dem Tod nicht mehr entrinnen könne, doch dann ging immer alles gut aus. Irgendwelche Zufälle haben mir das Leben gerettet. Scheinbar bin ich wirklich als Glückskind auf die Welt gekommen, wie meine Mutter es immer wieder gerne gesagt hat.

Einmal saß ich in einer in Eile gegrabenen Grube, überall um mich herum explodierten Granaten. Ganz in der Nähe von mir, in einer Ritze saß Wolodja Borozdinow. Er schaute kurz hervor und rief mir zu:

— Sergeant, komm hier her zu mir. Ich habe etwas zum Rauchen (in diesen Tagen hatte ich wieder mit dem Rauchen angefangen).

Ich hatte gerade sein Versteck erreicht, da krachte eine Granate direkt in meine Grube. Was für ein Glück, dass Borozdinow mich gerufen hatte!

Unvergesslich blieben für mich auch die Begegnungen, die ich mit unseren „Katjuschas“ hatte. Wir waren gerade dabei, einen zusätzlichen Bunker für unsere Einheit zu graben, als plötzlich in etwa dreihundert Meter Entfernung merkwürdige Fahrzeuge halt machten.

— Schaut mal, da ist die Feuerwehr gekommen  — sagte einer zum Spaß.

Man nahm die Schutzhüllen von den Fahrzeugen und wir erkannten auf ihnen irgendwelche Leitern oder Schienen. Rund herum wimmelte es von Soldaten. Zu uns trat dann ein Leutnant:

— Jungs, geht lieber von hier weg, wir werden jetzt schießen.

— Schießt doch ruhig – entgegneten wir.

— Nun, wie ihr wollt, aber erschreckt euch nicht.

Wir lachten nur und gruben weiter. Dabei bemerken wir, dass sich alle von den Fahrzeugen in einen gehörigen Abstand begaben und nur der Fahrer in seiner Kabine verblieben war. Dann gab es plötzlich ein solches Krachen, Feuer und Rauch, dass wir nicht wussten, wohin wir fliehen sollten. Uns fuhr ein gewaltiger Schreck in die Glieder. Erst viel später, als wir zu uns kamen, begriffen wir, dass da diese merkwürdigen Fahrzeuge geschossen hatten.

Wir schauen in Richtung Feind hinüber und sahen, wie sich dort direkt aus der Erde gewaltige Feuerpilze erhoben und Feuerzungen zu verschiedene Seiten zischten. Das ist eine wahre Wunderwaffe! Wir jubelten und waren begeistert von ihr. Die Fahrzeuge drehten schnell ab und fuhren fort. So lernten wir im Krieg die Mehrfachraketenwerfer kennen oder wie alle sie nannten – die „Katjuschas“. Überhaupt müssen viele Namen einem Außenstehenden sehr merkwürdig erschienen sein. So nannten wir den Granatwerfer der Deutschen mit seinen sechs Röhren „Esel“ und die großen Raketengeschosse, die so aussahen wie Kaulquappen, tauften wir auf den Namen „Adrjuscha“.

In diesen schweren Jahren half mir während der wenigen Stunden und Minuten, in denen wir ausruhen konnten, immer wieder mein Sinn für Humor. Ich erinnere mich jetzt an folgende Begebenheit. Die ganze Nacht waren wir zu einer Einheit in der Nachbarschaft unterwegs, um dort Schützengräben auszuheben. Es war dunkel und regnete. Hin und wieder kam ein bisschen Licht von einigen Leuchtraketen. Als wir in der Einheit angekommen waren, waren wir alle völlig kaputt und  hungrig. Ein sehr hagerer Major kam zu uns und fragte:

— Habt ihr Werkzeuge mitgebracht (er meinte Hacke und Spaten)?

— Haben wir dabei! – antwortete ich im Namen aller und zog aus meinem Stiefelschaft einen hölzernen Löffel hervor.

Alle brachen in Lachen aus, der Major ebenfalls. Aber so waren wir alle wieder bei Laune.

 

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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