7 November 2008| Napojkin Grigorij Grigorjewitsch

Briefe sowjetischer Kriegsgefangener. G. Napojkin

Russland, Wolgograd, 16.03.2006

Sehr geehrte Genossen vom Verein KONTAKTE,

ich habe von Ihnen zwei Briefe erhalten. Im ersten Brief bitten Sie mich, Erinne­rungen ueber mein Vorkriegsleben, ueber die Zeit des Krieges und die Nachkriegszeit sowie ueber die Gegenwart und ueber meine Familie zu schicken. Ich entspreche Ihrer Bitte, allerdings mit Verspaetung, weil ich krank bin. [1]

Ich bin im Jahre 1920 geboren. Meine Kindheit und Jugendzeit verbrachte ich vor dem Krieg. Ich besuchte eine Mittelschule, beendete sie und begann das Studium an der Universitaet von Saratow. [2] Ich studierte nicht sehr lange. Im April 1941 wurde ich in die Armee einberufen. Man schickte mich in die Stadt Brest. Am 21. Juni 1941 wurden wir durch andauernden Artilleriebeschuss geweckt. Die Geschosse explodierten auf dem Gelaende unserer Militaereinheit. So begann fuer mich der Krieg. Wir wurden sofort eingekesselt. Nach ein paar Tagen verliessen wir das belagerte Gebiet. Wir waren Tag und Nacht unterwegs. Wir waren sehr muede und schliefen direkt im Gehen ein. Nach dem Verlassen der belagerten Region wurden mein Kame­rad und ich ins Sonderbataillon der Maschinengewehrschuetzen aufgenommen. Es gab Offensiven und Rueckzuege. Kaempfend zogen wir uns bis zur Stadt Neshin in der Ukraine zurueck. Hier wurden wir erneut belagert und schliesslich gefangengenom­men. Das geschah im September 1941 bei der Stadt Neshin. [3] Ich weiss nicht mehr genau, wie die Ortschaft hiess. So begann mein Leben in der Kriegsgefangenschaft.

Ich war in Kriegsgefangenschaft bis April 1945. Das waren die dunkelsten und schwersten Jahre in meinem Leben. Oft befand ich mich an der Grenze zum Tod, nur einen Schritt vom Tod entfernt. Heute bin ich 86 jaehre alt. Ich bin oft krank. Ich bewege mich mit grosser Muehe. Das Ende des Lebens kommt bald. Die Erinnerungen ueber die Erlebnisse in der Kriegsgefangenschaft fallen mir immer noch schwer. Ich werde kurz einige Momente beschreiben.

Wir wurden unter verschaerfter Bewachung auf unserem Gebiet bis zu einer Bahn­station getrieben. Die Schwachen, nicht mehr Bewegungsfaehigen, wurden am Ende der Gruppe erschossen. Endlich mussten wir in Viehwaggons einsteigen. Es war so eng, dass wir nur dicht beieinander sitzen konnten. In den Waggon schmiss man nur ein paar Laib Brot. Das teilten wir in gleiche Portionen. Wir fuhren nach Deutschland und wurden in einem Lager untergebracht, dessen Nummer ich nicht mehr weiss. Es war ein freies Feld, von Stacheldraht umzaeunt und von Wachttuermen umgeben. Auf jedem Wachtturm befand sich rund um die Uhr ein Wachmann. Scheinwerfer und Maschinengewehre zielten von den Wachttuermen auf das Lager. Man durfte sich dem Zaun nicht naehern, die Wachen eroeffneten sofort das Feuer. In der Ferne waren Berge zu sehen. Es hiess, das seien die Sudeten. [4] In der Naehe des Lagers befand sich ein Dorf.

Die erste Nacht im Lager hat sich mir gut eingepraegt. Freies Feld, niedrige Lufttem­peratur. Die von dem langen Weg erschoepften Maenner legen sich auf dem nackten Boden schlafen. Mein Kamerad und ich hatten einen Stahlhelm. Damit gruben wir ein kleines Erdloch und schliefen darin. Mein Freund Kostja fing an zu weinen. Ich versuchte, ihn zu beruhigen. Er war deutlich juenger als ich. Am Morgen kamen wir aus dem Erdloch. UEberall auf dem Gelaende lagen Menschen. Sie konnten nicht aufstehen, obwohl sie noch am Leben waren. Die aus den Reihen der Kriegsgefan­genen angeworbenen Polizisten zogen diese Koerper auf einen Haufen vor dem Tor. Ein Bild habe ich im Gedaechtnis behalten: Zwei Polizisten zogen einen Liegenden an den Beinen. Ein paar Kameraden liefen hinterher und riefen: «Herr Polizist, oder wie sollen wir Sie nennen? Er ist noch am Leben! Noch am Leben!» [5] (Ich glaube, es waren Ukrainer.) Zur Antwort bekamen sie Beschimpfungen und Stockschlaege auf den Kopf. Mit Planen bedeckte Pferdewagen kamen zum Tor, die dort liegenden Menschen wurden in diese Wagen gestapelt und weggebracht. So verging die erste Nacht im Lager.

Spaeter wurden wir in Erdhuetten untergebracht, die die Kriegsgefangenen auf die Schnelle gebaut hatten. Wir schliefen immer noch auf dem nackten Boden, aber es war hier etwas waermer. Nach und nach zogen wir aus den Erdhuetten in Baracken um. Das waren zusammengehauene Holzbauten mit zweistoeckigen Pritschen.

Das Essen war sehr schlecht. Nach dem Morgenappell bekamen wir warmen Tee, mittags eine Balanda aus Kohlrueben und ein Stueck Brot. Welch ein Glueck, wenn man eine Kartoffel erwischte! Auch das Brot, hiess es, war aus Rueben. Im Fruehjahr 1942 gingen anscheinend die Rueben- und Kartoffelvorraete zu Ende. Nun kochten sie Balanda aus Gras. Die Menschen wurden schwaecher, manche konnten sich nicht mehr bewegen. Sie wurden im »Block fuer Schwache« eingesperrt. Daraus gab es nur einen Weg: in den Tod.

Ich hielt mich noch, weil ich in einem Reinigungskommando arbeitete. Unser Kommando brachte die Tonne mit Faekalien zu einem Feld in der Nachbarschaft und duengte damit. Die Arbeit war schmutzig und schwer, es war aber besser, als im »Block fuer Schwache« auf den Tod zu warten.

Hunger, Schlaege, Kaelte, die unhygienischen Verhaeltnisse, und infolgedessen taten die Laeuse ihr Werk: die Leute wurden krank. Im Herbst 1942, brach im Lager Typhus aus. Zuerst wurden nur wenige krank, darunter ich. Das hat mein Leben gerettet, weil in den Krankenbaracken noch Platz war. Sie legten mich auf eine obere Pritsche, wo ich den Typhus ueberstand. Laenger als eine Woche lag ich bewusstlos, aber die Krisis ging vorueber, und ich blieb am Leben. Voellig entkraeftet, konnte ich nicht gehen und sah aus wie ein mit Haut ueberzogenes Skelett. So waelzte ich mich auf der oberen Pritsche. Morgens bekam ich Tee, zu Mittag Balanda und ein Stueck Brot.

Ich hoerte, wie sich zwei Sanitaeter unterhielten. Der eine war aus einer anderen Baracke zu Besuch gekommen. Unser Sanitaeter zeigte auf mich und sagte: »Der wird bald sterben. Dann haben wir noch einen Platz frei. «Ich hoerte auch, wie der Sanitaeter aus der anderen Baracke erzaehlte, wo die Typhuskranken aus dem Lager schliesslich landeten, jeden Tag brachte man mehr. Die Kranken lagen in der kalten Baracke und krochen auf dem Fussboden. Wenn sie tot waren, schleppte man die Leichen einen Kilometer weit zum Friedhof.

Bis zum Fruehjahr war das Lager fast leer. Die UEberlebenden sammelte man in einem Block, hauptsaechlich Koeche und Polizisten. Ich habe eine Zahl gehoert: Im Winter waren 100 000 Mann an Typhus gestorben. Ob das stimmte, bin ich mir aber nicht sicher. Wir waren kraftlos, schmutzig und voller Laeuse, die sich sogar in den Augenbrauen verkrochen.

Vielleicht haette ich nicht ueberlebt. Es hat mir aber geholfen, dass sich an meiner Hand ein Geschwuer bildete. Ich kam ins Lazarett ausserhalb des Lagers. Dort trugen sie mich ins Bad, denn ich konnte nicht mehr gehen. Die Waesche wurde desinfiziert, und so wurden die Laeuse bekaempft. Dann kam ich in ein kleines, warmes Zimmer mit sechs oder acht Kranken. Mir ging es besser. Zuerst konnte ich sitzen, dann im Raum umhergehen. Im Sommer wurde ich ins Lager entlassen und bald mit einer Gruppe von Kameraden als Arbeitskommando mit dem Zug abtransportiert.

Ich kam in die Stadt Jena. Hier arbeitete ich bis zum Kriegsende. Die Hauptarbeit war das Be- und Entladen von Guetern am Stadtbahnhof. Vor allem schleppten wir verschiedene Faesser, Steine, selten Kartoffeln oder andere Lebensmittel. Wenn US-Flugzeuge die Stadt bombardiert hatten, mussten wir den Schutt wegraeumen und den Einwohnern helfen, ihre Sachen wiederzufinden. 1945 haeuften sich die Luftangriffe.

Im Maerz 1945 wurden wir in einer Baracke auf einem Militaergelaende unterge­bracht. Ein paar Tage hatten wir nichts zu tun, dann gliederte man uns einer grossen Gruppe von Kriegsgefangenen an, wahrscheinlich aus der ganzen Stadt. Unter Be­wachung wurden wir in unbekannte Richtung getrieben. Wie Geruechte besagten, in die tschechischen Berge. So trieben sie uns mehrere Tage, hungrig und erschoepft.

Uns versorgten die Einheimischen, neben deren Doerfern wir Rast machten. Sie brachten Mehl, das unter allen aufgeteilt wurde. Wir kochten aus dem Mehl eine Balanda. Dann ging es weiter bis zur naechsten Pause. Alle waren muede und kraftlos. Uns bedrueckte die Unsicherheit: Wohin werden wir getrieben? Was geschieht in der Zukunft mit uns?

In einer Gruppe von acht Mann hielten wir immer zusammen. Wir wollten uns verstecken und den Haufen verlassen. Als wir in eine Gegend kamen, wo Gebuesch an der Strasse wuchs, passten wir einen Moment ab, wo die Abstaende zwischen den Posten groesser waren, verliessen die Strasse und versteckten uns zwischen den Bueschen. Hatten die Posten etwas bemerkt? Ich denke, ja, aber sie pfiffen sozusagen auf uns.

Als die Kolonne vorueber war, rannten wir ueber die Strasse und erreichten einen nahen Wald. Die Gegend war unbewohnt, manchmal gingen deutsche Soldaten vorbei. Wir warteten auf die Nacht, und dann war Schiesserei zu hoeren. Sie wurde immer lauter und kam naeher. Am Morgen hoerte es auf. Wir sahen Panzer, viele Panzer. Statt Hakenkreuzen waren amerikanische Zeichen zu sehen. Das waren Amerikaner.

So befreiten uns die Amerikaner am 5. April 1945. Wir kehrten nach Jena zurueck und sammelten uns auf dem Militaergelaende. Dort lebten wir ein paar Tage, bis sie uns mit LKWs in die russische Zone brachten, zu den Unseren. Zuerst arbeiteten wir in Deutschland bei der Demontage eines Aluminiumwerkes. Als wir die Arbeit beendet hatten, kamen wir nach Russland in ein Durchgangslager, danach in ein Arbeitsbataillon bei Gorkij. [6] Ich faellte Baeume. Erst 1947 wurden wir demobilisiert und durften heimkehren.

Als ich nach Hause kam, erfuhr ich, dass mein Vater 1943 einberufen worden war und an der Front verschollen ist. Meine Mutter und drei Schwestern wohnten in Belyj Jar. Wir lebten armselig. Die aelteste Schwester arbeitete als Grundschullehrerin, die anderen lernten noch. Ich hatte keine Ausbildung, fand aber eine Stelle an der Abendschule. Daneben studierte ich im Fernstudium am paedagogischen Institut. Nach dem Abschluss setzte ich das Fernstudium an der Paedagogischen Hochschule in Uljanowsk fort. 1954 beendete ich das Studium und arbeitete danach als Physik-und Mathematiklehrer an einer Dorfschule. 1955 heiratete ich und uebersiedelte bald danach mit meiner Familie nach Togliatti. Bis 1980, also bis zur Rente, arbeitete ich dort als Physik- und Mathematiklehrer.

Ich habe zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Heute sind sie nicht mehr jung. Meine Ehefrau ist Lehrerin fuer russische Sprache und Literatur. Als Rentner uebersiedelten wir nach Wolgograd (Stalingrad). Hier leben wir bis heute. Beide Enkelkinder studieren. Eine Enkeltochter hat das Studium bereits beendet. Ich habe eine Urenkelin. Sie machen das Leben schoener. Die Interessen, Freuden und Sorgen der Kinder stehen im Mittelpunkt meines Lebens. Auf Wiedersehen!

Ich wuensche Ihnen viel Erfolg in Ihrer edlen und notwendigen Arbeit! Napojkin

 


 [1] Gekuerzt wegen langer Schilderung des Briefwechsels mit genauen Daten etc. Herr Napojkin starb 2006 bevor er unsere Spende erhalten konnte.

[2] Stadt im russischen Wolgagebiet.

[3] Stadt in der Westukraine.

[4] Wahrscheinlich Stalag 358 Falkenau a. d. Eger.

[5] Im Original gebrochenes Ukrainisch.

[6] Grossstadt an der Wolga in Russland. Seit 1991 wieder Nishnij Nowgorod.

Uebersetzung: Dmitri Stratievski

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