19 September 2008| Donskoj Grigorij Pawlowitsch

Briefe sowjetischer Kriegsgefangener. G. Donskoj

 

Ukraine,Gebiet Donezk, 21. 11. 2005

Sehr geehrter Vorstand,  sehr geehrte Mitglieder des Vereins «Kontakte»

G.P.Donskoj, 2006

Der Kommandant des Repatriierungslagers war ein amerikanischer Offizier. Auf unsere Bitte, uns so schnell wie moeglich nach Hause zu schicken, antwortete er: «Keine Eile! Sibirien ist gross, es hat Platz genug fuer alle.« Wie recht er hatte! Doch uns zog es nach Hause, in die Heimat! Wir alle wussten, dass man uns nicht streicheln wuerde, trotz allem fuehlten wir eine soldatische Schuld. Aber wir hofften, dass wir frei sein wuerden.

Die Amerikaner uebergaben uns den Englaendern, und von da ging es ohne Verzug in die sowjetische Besatzungszone, nach Zerbst, in die Heimatstadt der russischen Zarin Katharina II. Zuerst gingen wir durch die »Filtration« der Spionageabwehr. Dies Organ war eine Art militaerisches KGB. [1] Ein Formular mit meinen Daten wurde ausgefuellt. Dann ins Glied, ich diente in der 66. Granatwerferbrigade. Alles waere gut gewesen, wenn nicht…

Die Demobilisierung fing an, und dieses «angenehme» Organ verlor seine Infor­manten unter den Soldaten. Die Angaben in meinem Formular besagten, dass ich, wenn man mich mit Stalinscher Strenge behandelte, ein passender Kandidat waere: ehemaliger Komsomolze, in der Gefangenschaft Dolmetscher und ueberhaupt ein Mensch, der sich schuldig fuehlte — der sollte doch einer »Mitarbeit« zustimmen. Ich wurde zu einem Gespraech mit einem Offizier der Spionageabwehr vorgeladen. Der erlaeuterte mir, welche Bedingungen herrschten. Ringsum gebe es Feinde — im Inneren wie im AEusseren — und es sei unsere Pflicht, sie zu entlarven und zu vernichten. Ohne Zoegern bot er mir an, mit ihnen zusammenzuarbeiten und ueber die Stim­mung der Soldaten zu berichten. Die Geheimhaltung meiner patriotischen Taetigkeit wuerden sie garantieren. Da fiel mir ein, wie wir uns in der Schule zu Petzern und Denunzianten verhalten hatten. Und ich lehnte ab. Ich halte mich nicht fuer mutig, aber bis heute ruehme ich mich dieser Tat, obwohl ich dafuer furchtbar bestraft wurde.

Ich wurde auf der Stelle verhaftet und in einen Kellerraum gesperrt. Mehrere Tage riefen sie mich nicht auf. Damit gaben sie mir die Moeglichkeit, mich an die neue Lage zu gewoehnen. Es schien mir auch, als ob die Buettel darueber nachdachten, wie sie meine Verhaftung rechtlich sauber begruenden koennten. Denn die Sowjetmacht hatte verkuendet: «Die Heimat hat allen und alles verziehen! Kommt nach Hause! Die Heimat erwartet euch!» Folglich musste man ein Verbrechen erfinden, das Gericht gehoerte.

Dann folgten Verhoere, nachts und nur nachts. Alle schwarzen Taten vollbringt man besser in der Nacht. Schliesslich hatte der Ermittler meine Hauptschuld bestimmt und beharrte hartnaeckig darauf. Ich war in Gefangenschaft geraten (nach seiner Version hatte ich mich ergeben) und hatte damit den Eid des sowjetischen Soldaten gebrochen.

In der Gefangenschaft war ich Dolmetscher, hatte also mit der Gestapo zusammengearbeitet, anders haette ich nicht als Dolmetscher arbeiten koennen. Das war es. Ich sei ein Gestapoagent und habe nichts als Verrat begangen. Alle meine Einwaende galten nichts. Naechte, alptraumhafte Naechte. «Denk nach, denk nach! Wen hast verraten?» wiederholte der Ermittler. Auf meinen Widerstand folgten Drohungen man wuerde mich zertreten, und zwar in der Stille. Psychisch war ich gebrochen. M Kerkergenosse, «Kenner» der Jurisprudenz, gab mir den Rat, alles zu unterschreiben, was mir der Ermittler vorlegte. «Das ist deine Rettung», sagte er zu mir. «Sonst lassen sie dich nicht leben.» Und wie sehr wollte ich dem moralischen Zwang entkommen!

Der Nachtstern erlosch ueber den Feldern,
Nehmt das Verhoerprotokoll aus dem Archiv,
doch glaubt nicht mir, nicht dem Gericht.
Alles gab ich zu. Nur prueft jeden Schritt zum Bekenntnis.
Alles gab ich zu. Nur glaubt nicht an meine Schuld. Ich flehe euch an.

Rassul Gamsatow[2]

 

Das sagt der Dichter von allen, die sich selber angeklagt haben, um Gewalt und Hohn zu entgehen.

 

So beendete der Ermittler mit meiner »Unterstuetzung« sein »Werk«. Bald stand vor dem Kriegsgericht und wurde nach § 58 Abs. ib (Vaterlandsverrat) [3] zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. So sagte der Dichter Alexander Twardowskij [4]:

 

Der Nachtstern erlosch ueber den Feldern,
Und im Leben bis zum Ende erfahren
jenen Kreuzweg die Halbtoten.
Von Kerker zu Kerker unter Siegesgedroehn
mit Verleumdung von Buetteln verfolgt.

15 Jahre sind lang, man hat Zeit zum Nachdenken. Die Raeder klopfen. Eine Militaer­einheit faehrt nach Hause, in die Heimat. Mit demselben Zug fahren wir Verurteilten, die wir unsere Strafe erwarten. Die Raeder klopfen. Heimat, begruesse deinen Sohn! Fuer die Qualen in der Gefangenschaft danke ich dir, «unser Vater», «Fuehrer des Weltproletariats», hochgeruehmter «Generalissimus» Dshugaschwili-Koba-Stalin, fuer den zaertlichen, warmen Empfang.

Zollkontrolle an der Station Negoreloje. Den Soldaten wird alles UEberfluessige abgenommen, den Offizieren das «Armeeeigentum».

UEber meine Beschwerde beim Obersten Gericht der UdSSR wurde lange verhandelt, und die ganze Zeit ueber wurde ich im Gefaengnis von Gorkij festgehalten. Ich will Sie nicht mit der Schilderung des Gefaengnislebens belasten. Ich sage nur, dass in der Zelle nicht die Gefaengnisaufsicht herrschte, sondern das Wolfsrudel — das Diebsgesindel, und das ist viel schlimmer. Ich habe noch nicht erwaehnt, dass mit der Verhaftung auch die «Diaet» begann. Das Oberste Gericht dachte nach und entschied, ich sei doch ein «Gestapoagent», und die 15 Jahre seien zur Vergeltung voellig angemessen.

Unverzueglich ging es auf Transport. Mein Bestimmungsort war das «Workutlag», 160-180 Kilometer hinter dem Polarkreis. Das «Workutlag» hatte mehrere Filialen, und ich kam ins «Ajatsch-Jaginski-Sonderlager». Die Hauptbestimmung der Zwangs­arbeiter in diesem Sonderlager war es, Kohle abzubauen. In diesem Lager blieb ich bis zum 17. Oktober 1955. Es ist schwer, an diese zehn Jahre zu denken!

An sich ist die Arbeit im Bergwerk schon schwer und gefaehrlich. Doch unter halb­wegs angenehmen, menschlichen Bedingungen wuerde ich sie nicht Zwangsarbeit nennen. Einfach schwer, wie andere Arbeiten auch. Doch: die harte Natur des Nor­dens, beengte Lebensbedingungen, Mangelernaehrung, wenn der ganze Koerper Signale ins Gehirn sendet und »Waerme — Essen« fordert; Krankheiten wie Nierenentzuendung, die Botkinsche Krankheit [5], Skorbut, zweimal Ernaehrungsstoerung, Leistenbruch — und ist es etwa keine Krankheit, an Selbstverstuemmelung zu denken? Pruegel und Demuetigung der Schwachen durch die Starken … Die ganze aufgezaehlte Sammlung machte die Bergmannsarbeit zur Zwangsarbeit. Aber in der Welt fehlt es nicht an guten Menschen, selbst hinter Stacheldraht. Sie verhalfen mir zu Geschick bei der schweren Arbeit, sie halfen mir bei der Ausbildung zum Steiger. Mir half meine Schulbildung, mir half meine Jugend!

Am 17. September 1955 fiel die grosse Amnestie vom Himmel, und am 17. Oktober erhielt ich mein Entlassungsdokument. Ich bin am 16. Oktober 1923 geboren, das heisst, der Amnestieerlass war mein Geburtstagsgeschenk. I Ich war 32 Jahre alt. Mit 18 war ich in den Krieg gezogen, also hatte der Krieg fuer mich 14 Jahre gedauert.

Mein Dank der Regierung Chruschtschow! Mein Dank den guten Menschen! Es lebe die Freiheit! Guten Tag, mein Zuhause!

Mein Vater war in Stalingrad schwer verwundet worden und gestorben. Mein Bruder war bei der Verteidigung Moskaus gefallen. Ich war entwurzelt. Und meine weisshaarige Mutter, die um uns alle gelitten hatte, war tot. Das hatte der Krieg gebracht. Mein erster Wunsch in der Freiheit war eine Arbeit. In meiner Sowchose war ihm aber keine Erfuellung beschieden. Wer aus meinen Unterlagen erfuhr, dass ich »dort« war, bekam Angst. Angst, seine Stellung zu verlieren oder, noch schlimmer, Angst vor Bestrafung wegen Protektion eines «Verraeters». Es war kraenkend, dass man mir, dem Feind, nicht einmal die Arbeit eines Lasttraegers oder Hilfsarbeiters anvertraute. Wie denn — selbst der Bau einer lausigen Baracke war doch «vertraulich». Es war kraenkend, aber es ging mir nicht an die Nieren.

Die Propheten und die Bibel sagen: «Suchet, so werdet ihr finden!» Ich spuckte auf die ergebnislose Suche und machte mich auf ins Bergwerk. Im Donbass gibt es genug davon. Der Bereichsleiter, an den ich mich wandte, sagte, ich wuerde sofort die Ausruestung erhalten, und dann gleich an die Arbeit. Die Formalitaeten uebernahm er: «Sogar wenn du Himmler persoenlich waerest, wuerde ich dich nehmen. Ich muss das Bergwerk bauen.» Das war in Schachtjorsk. Dort habe ich geheiratet, dort stieg ich zum Chef des Transports im Bergwerk auf. Dort interessierte sich niemand fuer meine Vergangenheit.

Aus gesundheitlichen und familiaeren Gruenden kehrte ich in meine Heimatstadt Jassinowataja zurueck. In einem Lager fuer Baumaterial «vertrauten» sie mir die Taetig­keit eines Transportarbeiters an. Diese Arbeit hatte ich mir in der Gefangenschaft, in Koeln, gut angeeignet. Ich fing als Lasttraeger an, absolvierte das Technikum und brachte es bis zum stellvertretenden Lagerverwalter. Dann ging ich in die Rente.

1989 begann in der UdSSR die Perestroika. Niemand hat sie richtig verstanden. Ihren Initiator Michail Gorbatschow zwangen sie zum Ruecktritt. Auf die Perestroika folgte der Zerfall der Sowjetunion. Alle Unionsrepubliken wurden unabhaengige Staaten. Meine Heimat Ukraine erklaerte 1991 ihre Unabhaengigkeit. Die ganze politische Wirrnis zog nach sich:

1.Ruin der Wirtschaft und der Wirtschaftsbeziehungen
2.Stilllegung von Produktionsbetrieben
3.Massenarbeitslosigkeit
4.Verfall bis zum Rande einer Hungersnot

Und eine Reihe anderer Punkte, die das Leben destabilisieren. Seit 1991 wechselt bei uns in der Ukraine alljaehrlich die Regierung, und eine jede bemueht sich, die Lage zu stabilisieren. Ich weiss es nicht, ich bin kein OEkonom, aber ich denke, das Ergebnis ist bisher minimal. Fuer die Arbeiter reicht der Lohn nicht aus, fuer die Rentner nicht die Rente. Die Teuerung frisst alles auf.

Ich bin 82 Jahre alt und habe einen Sohn und eine Tochter. Mein Sohn ist Architekt und hat keine feste Beschaeftigung. Meine Tochter ist auch Architektin und arbeitet Gott sei Dank im Fach. Ihr Mann fuehrt gelegentlich Reparaturarbeiten aus. Meine Enkel gehen in die Schule. Meine Frau gibt Nachhilfeunterricht in Mathematik. Und ich bin «Beobachter».

(Die folgenden Saetze sind deutsch geschrieben.)

Es kommen Feiertage. Ich wuensche Ihnen glueckliches Weihnachten und glueckli­ches Neujahr! Ich wuensche Ihnen Glueck und Erfolg! Besten Dank fuer Ihre Aufmerk­samkeit!

Euer Donskoj, Grigorij Pawlowitsch

Lebt wohl, meine Herren!

Uebersetzung: Inge Junginger

Nachtrag

Herr Donskoj hat in einem ersten Teil des Briefes ausfuehrlich ueber seine Kriegsge­fangenschaft berichtet, im zweiten Teil ueber seine Verfolgung im Stalinismus. Wir entschieden uns allein aus Platzgruenden, den zweiten Teil abzudrucken. Der erste Teil wird im Folgenden unter Verwendung von Zitaten referiert:

Am 17. Mai 1942 geriet Herr Donskoj auf der Halbinsel Kertsch (Krim) in Gefan­genschaft. Spaeter wurde er ins Lager Shitomir gebracht. Er schildert drei Methoden, mit denen dort die juedischen Gefangenen aufgespuert wurden:

«Die erste: »Muetze ab!», um den Kopf besser zu besichtigen. Wahrscheinlich ent­sprachen nach ihrer Rassentheorie die Koepfe bei den Juden nicht dem Standard. Ein paar «Personen» wurden weggebracht. Die zweite: Hier trieben sie uns alle (also auch mich) ins Bad und zur Entlausung. Wir mussten uns bis aufs Adamskostuem auszie­hen, und ab zum Spezialisten fuer Beschneidung. Alle «Beschnittenen», ob Moslems, ob Juden, brachten sie ohne Bad und Entlausung weg. Vermutlich weit. Die dritte: Sie gaben im Lager bekannt, dass sich alle, die von Beruf Schneider, Musiker, Friseure oder Handelsangestellte waren, zwecks Arbeitszuweisung bei der Kommandantur melden sollten. Obwohl gering, gab es einen Fang.»

Von Shitomir kam Herr Donskoj ueber Sanok (Polen) in das grosse Verteilungslager Stalag VIK (Senne/Forellkrug) und von da nach Koeln. In den verschiedenen Lagern und Transporten herrschten unmenschliche Zustaende. Seine Situation besserte sich in Koeln bei der Firma Hamacher, wo er Metallteile auf- und abladen musste, und zwar im Wesentlichen durch die Unterstuetzung deutscher Arbeitskollegen: «Sie sahen, wie schwach wir waren, und uebernahmen selbst die Schwerstarbeit.»

Ende 1943 wurde Herr Donskoj in das Bergwerk Maria 1 bei Aisdorf versetzt, was eine einschneidende Verschlechterung seiner Arbeitsbedingungen bedeutete. Voellig entkraeftet und Blut spuckend, wurde er durch einen Arzt gerettet, der ihn, da er Deutsch konnte, in die Sanitaetsabteilung des Lagers als Dolmetscher holte. Befreit wurde Herr Donskoj von der US-Armee.


 

[1] SMERSCH.
[2] Sowjetischer Dichter (1923-2003).
[3] Siehe P. Polian in diesem Buch, S. 36.
[4] Sowjetischer Dichter (1910-1971).
[5] Russ. veraltete Bezeichnung fuer Hepatitis.

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