24 September 2012| Magaewa Swetlana Wasiljewna

Alik und Sascha

Mai 1942 – Herbst 1945

Alik war noch nicht einmal vier Jahre alt, als seine Mutter starb. Eingewickelt in eine Kinderdecke brachte ihn irgendein Soldat zu ins Kinderheim. Er sagte nur, dass der Junge Alik heiße, offizielle Papiere gab es nicht. Doch alle glaubten, dass dies dann so wohl stimmen wird. Keiner wusste, ob Alik nun für Alexej steht oder aber für Alexander, aber das war damals, in jenen Jahren, auch gar nicht so wichtig. Der Junge war kränklich und schlief viel. Er verstand nichts von dem, was wir sprachen und antwortete auf keine unserer Fragen. Wir dachten zunächst, dass er das Sprechen verlernt hätte — so etwas geschah manchmal bei kleinen Kindern, die die Blockade von Leningrad durchmachen mussten. Doch andere, besondere Sorgen machte er uns nicht. Er aß immer sehr schnell seine Portion Wassersuppe auf, schaute uns danach wortlos und fragend an, ob es nicht noch einen Nachschlag gäbe, doch da es diesen nicht gab, legte er sich gehorsam wieder zurück auf sein Kissen und schlief erneut ein, bis das nächste Mal zum Essen gerufen wurde.

Eigentlich lagen wir alle damals schweigend auf unseren Betten, ohne auf irgendwas besonders zu reagieren. Ja, nicht einmal beim Heulen der Sirene, die einen Luftangriff ankündigten, zuckten wir zusammen. Im Sommer wurden wir etwas munterer und traten sogar auf die Straße hinaus, um uns ein wenig an der Sonne zu wärmen. In diesen warmen Monaten kamen wir auch wieder etwas mehr zu Kräften, besonders nachdem man begonnen hatte, uns jeden Tag ein halbes Ei zu geben. Die gekochten Eier wurden mit dem Flugzeug eingeflogen und in den Kinderheimen verteilt. Die Eier schmeckten wunderbar. Sie rochen nach einem Leben im Frieden. Nachdem Alik eines Tages sein halbes Ei heruntergeschluckt hatte, lächelte er und begann zu reden. Ich weiß nicht mehr, was er gesagt hat, aber es muss etwas gewesen sein, was uns alle sehr fröhlich stimmte, denn alle begannen plötzlich zu lächeln und nickten, um unseren Kleinen ermutigen, weiter zu sprechen. Für seine vier Jahre sprach er sehr gut, obwohl zu merken war, dass das Sprechen ihm Mühe bereitete, wie dies bei jedem Kind so ist, das lange nicht gesprochen hat. Bald jedoch wurde er immer schneller beim Formulieren und er begann von morgens bis abends ununterbrochen etwas vor sich hin zu plappern.

Sein kleines, sympathisches Gesicht bekam nun auch wieder etwas Farbe. Unser Alik hatte ein sehr herzerwärmendes Lächeln und man merkte, dass er Freude am Sprechen hatte. Im Vergleich zu uns war er der Kleine. Wir Mädchen rissen uns darum, ihn hier und da zu umsorgen, ja quasi zu bemuttern – er war eben unser Kleiner -, obwohl wir uns auch oft genierten, denn wir wollten seine künftige Würde als Mann nicht verletzten. Alik selbst jedoch dachte in keiner Weise daran, sich wegen irgendetwas zu genieren. Er nannte alle Dinge beim Namen und sah nichts Besonderes darin, hier und da seine kleine Hose hinabgleiten zu lassen und sie wieder hinaufzuziehen und an kleinen, niedlichen Hosenträgern zu befestigen. Wir hatten mit ihm keine besondere Mühe und eigentlich hätte es auch weiter nichts Aufregendes zu erzählen gegeben, wenn nicht eines Tages eine Sprengbombe in den einen Flügel unseres Hauses eingeschlagen wäre.

Der Luftangriff begann völlig unerwartet, ohne dass vorher die Sirenen Luftalarm gegeben hätten. Auf besonders laute Weise explodierten die Bomben um uns herum, sodass nicht einmal — wie sonst —  das Heulen der Granaten zu hören war. Es war klar, dass unser Viertel bombardiert wurde. Die Kinder und die Erwachsenen brachen in Panik aus. Fast alle liefen in Richtung Dienstbotentreppe und drängten nach unten. Ich blieb allein im Schlafraum zurück, weil ich noch nicht ausreichend wieder zu Kräften gekommen war, um zu fortlaufen. Wohin sollten wir aber auch laufen. Man konnte sich doch  sowieso nirgends in Sicherheit bringen. Alik hatten alle in der Eile vergessen. Er weinte jämmerlich und versteckte sich unter seinem Bett. Eine Explosion von ungeheuerlicher Stärke brachte das ganze Gebäude ins Schwanken. Die Fensterscheiben flogen heraus, der Boden bebte und die Luft füllte sich mit einer dichten Wolke aus Staub. Alik schrie aus Leibeskräften, doch dann plötzlich verstummte er. Ganz in der Nähe krachte es wieder. Ich erschrak und dachte, dass es den Kleinen wahrscheinlich getroffen hat, dass er verletzt ist oder aber noch viel schlimmer … Mit Mühe stieg ich von meinem Bett hinunter und tastete mich bis an die gegenüberliegende Wand vor. Ich streckte meine Hand unter Aliks Bett und rief ihn heraus. Der Kleine griff nach meiner Hand und kam aus seinem Versteck hervorgekrochen. In der dichten Staubwolke konnten wir uns nur mit Mühe erkennen. Er schmiegte sich an mich und bat mich, ihn einfach fort zu tragen, irgendwohin, einfach weg. Wir tasteten uns aus dem Schlafraum in den Korridor und traten in das Treppenhaus. Dort war es heller. Alik zog mich nach unten. Ich hörte auf ihn. Auf dem Treppenabsatz vor dem Ausgang hörten wir Kinderstimmen, die nach unten drängten. Und plötzlich geschah etwas Furchtbares.

Durch eine Explosion zerbrach eine ganze Welt. Eine Sprengladung war in den Flügel des gegenüberliegenden Hauses eingeschlagen und die Druckwelle, die keinen Ausweg aus dem engen schluchtartigen Innenhof finden konnte, traf nun auf die Wand und die Fenster unseres Treppenhauses. Dies alles geschah binnen von Sekunden. Zuerst konnten wir nichts verstehen. Es gab ein lautes Krachen, denn dann Haus gegenüber brach zusammen. Überall klirrte Glas, denn sämtliche Fensterscheiben waren herausgeflogen. Die Fensterrahmen und Türen zerbarsten. Die Luft färbte sich rot vom Staub der Ziegelsteine. Es war, als ob heißes Blut unseren Augen die Sicht nahm.  Die Druckwelle hatte mich mit dem Rücken an die Wand geworfen. Ich verspürte einen heftigen Schmerz in der Wirbelsäule und für eine Zeit lang verlor ich das Bewusstsein. Der blutrote Staub fiel langsam nach unten und ließ erneut das matte Licht des Sommertages durch die nackten Fensteröffnungen hereinscheinen. Unbewusst begriff ich, dass ich den Schmerz aushalten und mich auf die Suche nach Alik machen musste. Suchen jedoch brauchte ich nicht, denn er war an meiner Seite. Die Druckwelle muss ihn an mich gedrückt haben und somit war der Kleine auf mich, anstatt an die Wand geschleudert worden. Alik zitterte am ganzen Körper und schwieg. Die anderen — durch die Explosion ganz taub geworden — stiegen langsam die Treppe wieder hinauf. Niemand außer mir hatte Schaden genommen, wenn man einmal von unseren Augen, in denen nun der feine Ziegelstaub knirschte, einem langen, alles durchdringenden Schmerz in den Ohren und einer Taubheit, die uns alle getroffen hatte, absieht.

Jemand brachte mich in den Schlafraum. Eine ziemlich lange Zeit musste ich, ohne mich zu bewegen, auf einem Brett liegen. Als der Schmerz nachließ, fiel ich in einen leichten Schlaf, voller Angst, dass der Schmerz wiederkommen wird. Wenn ich meine Augen öffnete, sah ich fast immer Alik vor mir. Körperlich hatte der Kleine keinen Schaden genommen, doch er begann quälend zu stottern. Er wiederholte immer wieder ein und denselben Satz: „Gebt doch dem Alik ein Stück Rinde vom Brot!“

Bis dahin hatte er noch nie um ein Stück Brotrinde gebeten. Sie Stimme klang weder klagend noch bittend. Sie war irgendwie ohne Farbe und wollte so gar nicht zu dem passen, was er da sagte. Nachdem er diesen Satz einige Male wiederholt hatte, wurde er plötzlich stumm und sein Gesicht nahm einen merkwürdig, erschrockenen  Ausdruck an. Scheinbar wunderte er sich selbst, warum er diese völlig absurden Worte gerade ausgesprochen hatte. Mit der Zeit wiederholte er seine auf eine Neurose hindeutende Bitte immer seltener, doch das Stottern behielt er, zumindest bis zum Kriegsende, bei, obwohl er sowieso schon sehr langsam sprach.

Nach dem Krieg konnte der Vater von Alik gefunden werden und unser Kleiner war, wie sich herausstellte, ein Alexander. Aber eigentlich war es ihm egal. An seinen Vater konnte er sich nicht erinnern und begegnete ihm deshalb ohne besondere Freude. Als er sich von uns verabschiedete, weinte er und plötzlich ertönte erneut seine traurige und stereotype Bitte: „Gebt doch Alik ein Stück Brotrinde!“ Ich dachte. Oh mein Gott, wird denn unser Kleiner nie wieder ganz gesund werden?

Meine Verletzung an der Wirbelsäule machte aus mir eine „Heldin“. Die einen dachten, dass ich Alik, indem ich ihn an mich gepresst habe, vor dem Schlag durch die Druckwelle beschützt und ihm somit das Leben gerettet habe. (Als ob man dieser Druckwelle überhaut hätte entkommen können!) Die besondere Nähe, die Alik zu mir verspürte, wurde als Beweis für meine Heldentat gedeutet. Ich versuchte zu erklären, dass alles nur ganz zufällig so gekommen war, dass ich einfach näher an der Wand stand und Alik vor mir. Alles war ganz simpel. Doch die Erwachsenen lächelten milde und begannen mich noch kräftiger zu loben. … noch dazu für meine Bescheidenheit. Das Unangenehmste an dieser Geschichte jedoch war, dass dann später auch meine Mutter mir nicht glauben wollte und auf ungerechtfertigte Weise mit ihrer Tochter, „der Heldin“ zu prahlen begann. Diese Lüge quälte mich noch eine ziemlich lange Zeit, doch allmählich trat dieser Schicksalstag gemeinsam mit meiner „Heldentat“ in die Vergangenheit und geriet für alle, außer für mich, in Vergessenheit. Dieser Tag bleibt für mich auch deshalb unvergessen, weil die Schmerzen in der Wirbelsäule, die mit Alik überhaupt nichts zu tun haben, immer wieder auftreten. Sie quälen mich nun schon fast mein ganzes Leben lang. Manchmal lassen sie nach, dann werden sie wieder stärker und rufen mir die klagende und neurotische Bitte unseres eingequetscht gewesenen Kleinen in mein müde gewordenes Gedächtnis zurück: „Ach gebt doch dem Alik ein Stück von der Brotrinde!“ Dann  bekomme ich jedes Mal Angst und mich befällt große Trauer.

Alexander Bajkeev

Sommer 1942        

Sascha kam zu uns ins Kinderheim auf Krücken. Ihm fehlte ein Bein. Er wollte uns nicht erzählen, wie dies passiert war. Wir hatten das schnell begriffen und fragten deshalb auch nicht weiter. Irgendwer sagte, dass Sascha in den Ruinen eines eingestürzten Hauses ein Kind gerettet habe, ein anderer behauptete, dass er an der Front, zu der er sich, in dem er sein wahres Alter verheimlichte, auf eigene Faust selbst durchgeschlagen haben soll, verletzt worden sei. Er war etwa 13 oder 14 Jahre alt. So oder so hielten wir Sascha für einen richtigen Helden und waren stolz auf ihn. Nicht nur weil er weder weinte noch sonst über irgendwas klagte. Er versuchte vielmehr ständig, alle unseren trübseligen „Hungergerippe“ aufzumuntern. Er erzählte ihnen verschiedene lustige Geschichten oder Märchen von Zaubern und Feen, obwohl er selbst unter starken Schmerzen litt. Der Stumpf eines amputierten Beines tut ständig weh. Doch er hielt alles aus und lächelte den kleinen Kindern immer wieder zu, weil sie so dann aufhörten zu wimmern. An der Seite von Sascha über etwas zu jammern, gehörte sich einfach nicht. Ohne es selbst zu bemerken, wurde Sascha die Seele unserer Gemeinschaft und durch seinen starken Einfluss war er uns mehr Autorität, als so mancher von unseren Erziehern. Überall konnte man hören: „Sascha hat gesagt … Sascha meint …“. Dabei sprach er immer sehr leise und mit ruhigem Ton. Doch alle hörten auf ihn, ohne Widerrede.

Was Sascha jedoch in erster Linie von seinen Altersgenossen unterschied, war, dass er ein Pionierhalstuch trug. Niemand von uns hatte, als man kam, um uns zu holen, daran gedacht, sein Pionierhalstuch oder sein Abzeichen, das uns als Oktoberkind auswies, mitzunehmen. Er jedoch hatte es nicht vergessen. Auch deshalb hatten wir unwillkürlich gewisse Schuldgefühle vor diesem Jungen, der an Krücken ging und dabei immer ein Pionierhalstuch trug.

Sascha sah nicht abgemagert aus. Wahrscheinlich war die Verpflegung, die er im Krankenhaus bekommen hatte, ausreichend uns gut gewesen. Er ging mit seinen Krücken für Erwachsene, die irgendwie gar nicht zu seinem kleinen Wuchs passten wollten, trotzdem recht sicher. Er machte Späße damit und sagte, dass ihm die Krücken dazu angefertigt worden seien, damit er größer werde, also quasi in sie hineinwachse. Als er zu uns kam, wurde er sofort der Gruppe der Kinder zugeteilt, die auf besondere Weise auf eine Evakuierung aus der Stadt vorbereitet wurden. Sascha kam mit dem körperlichen Training gut zurecht und lief sogar schneller als viele andere aus dem Kinderheim durch den langen Korridor. Selbst auf ihren zwei Beinen kamen sie kaum hinter ihm hinterher. Durch seine Späße machte er jedoch den anderen, die zurückblieben und sich auf keinen Fall vor ihm blamieren wollten, Mut.

Für die Kinder dieser Gruppe gab es über einen gewissen Zeitraum vor der Evakuierung eine zusätzliche Ration an Essen. Die Glücklichen aßen ihre Extraportion, obwohl auch die sie nie richtig satt werden ließ. Sascha teilte dazu noch seine Ration mal mit dem einen, mal mit dem anderen von den Kleinen. Er suchte die Schwächsten und die Magersten aus der Gruppe heraus, die deshalb für eine Evakuierung aus der Stadt in der nächsten Zeit zunächst mal überhaupt nicht in Frage kamen.

Am Abend vor der Abreise schlief Sascha nicht. Er saß am Fenster und dachte konzentriert an irgendetwas. Vielleicht daran, dass alles, was nun kommen wird, ihm schwerer fallen wird als allen anderen. Wie soll er in ein Auto einsteigen, wie vom Trittbrett springen? Wie soll er über einen Steg auf ein Boot steigen, ohne ins Wasser zu fallen? Und wie in den Wagon des Zuges klettern, der ihn weit ins Hinterland bringen wird? Wir versuchten ihn zu überreden, sich um nichts einen Kopf zu machen, weil doch alle ihm helfen werden. Doch trotzdem waren auch wir gemeinsam mit ihm aufgeregt.

Am nächsten Morgen kam ein geschlossener Lastkraftwagen vorgefahren. Der Fahrer und die Erzieher hoben die Kleinen hinten auf den Wagen hinauf. Sascha selbst halfen sie in die Fahrerkabine. Wir anderen schauten auf den Fensterbrettern sitzend zu und verabschiedeten die Glücklichen. Lange winkten wir ihnen nach.

Am späten Abend kehrte Sascha zurück. Allein, auf Krücken. Was war geschehen? Gar nichts war geschehen. Er war weder von seiner Gruppe zurückgeblieben noch verloren gegangen. Er hatte einfach entschieden, in Leningrad zu bleiben. So hatte er es erklärt. Er könne seine Heimatstadt nicht verlassen. Man überredete ihn, mit der nächsten Gruppe von Kindern mitzufahren. Doch alles war vergebens. In seinen Entschlüssen war Sascha eisern. Bald darauf verließ er das Kinderheim, nachdem er sich von jedem von uns verabschiedet hatte. Warum war er gegangen? Er wollte arbeiten. Während der Blockade arbeiteten in den Fabriken der Stadt viele Kinder in Saschas Alter. Doch die hatten beide Beine! Unser Sascha jedoch …

Sascha, Alexander Bajkeev, ein früh gereifter Leningrader, mit einem stark ausgeprägten Gefühl für die Pflicht seinem Staat gegenüber und voller Sorge für das Wohlergehen seines Volkes.

 

Quelle: Die Schlacht um Leningrad in den Schicksalen seiner Einwohner und der Bewohner des Leningrader Gebiets. (Erinnerungen der Verteidiger und Bewohner der Stadt und der besetzten Gebiete). Sankt Petersburg. Universitätsverlag, 2005.

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

 

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