Von jungen Burschen, die kein Risiko gescheut haben
Als der Krieg begann, war ich gerade einmal neun Jahre alt geworden. Ich erinnere mich noch, wie alle am 22. Juni unter großer Anspannung der Rede von Molotow lauschten. Wir Bengels dagegen — kleine ahnungslose Naivlinge — waren eher in freudiger Angriffslaune. Endlich werden wir es diesen verhassten Faschisten zeigen und ihnen beweisen, wer hier die Stärkeren und Kühneren sind! Doch die Tage vergingen und unsere Armee musste Stellung um Stellung räumen, sodass der Feind immer tiefer ins Landesinnere vordringen konnte. Die gesamte Lage schien völlig ausweglos und verzweifelt zu sein. Man konnte meinen, dass dies ewig so weiter gehen wird. Die Deutschen hatten bereits Leningrad eingeschlossen und waren bis nach Moskau vorgedrungen. Dort hatte man sie zwar mit Mühe und Not aufhalten können, doch kurz darauf waren sie schon bis nach Stalingrad vorgerückt! Es waren ungeheure Kräfte von Nöten, um diesen Vormarsch der Faschisten aufzuhalten. Es mussten ganze vier grausame Jahre vergehen. Doch dann endlich der Sieg. Die Helden, die noch übriggeblieben waren, machten sich auf den Weg zurück nach Hause. Über einige von ihnen möchte ich hier berichten. Alle hatten etwas gemein: ihnen stand etwas ganz Besonderes ins Gesicht geschrieben. Sie leuchteten vor Freude über den Sieg. Sie strahlten über ihren Triumph, es lebend aus der Hölle des Grauens herausgeschafft zu haben. Sie waren jung. Ganz jung! Sie waren gesund und hatten ihr gesamtes Leben, das sie gerade erst den Krallen des schonungslosen Todes entrissen hatten, noch vor sich.
Ende der Vierziger besuchte mich ein Bekannter. Grigorij Chatschaj, ein wunderbarer Mensch! Er war jung, etwa 25 Jahre alt. Er hatte ein männliches Gesicht. Seine linke Augenbraue war bereits ergraut. Er war Matrose bei der Schwarzmeerflotte, klein von Wuchs, drahtig gebaut und voller Muskeln. Die Matrosenmütze hing ihm schief über der Stirn, er trug viel zu weite Schlaghosen und seine aus grobem Leinen gewebte Matrosenbluse schmiegte sich eng an seinen Oberkörper. An kalten Tagen zog er dann eine Matrosenjoppe darüber. Man muss schon sagen, in seiner Uniform war er einfach eine Wucht!
Als der Krieg begann war er auf dem Panzerkreuzer „Tscherwona Ukraine“ stationiert, der dann jedoch bald von den Deutschen versenkt wurde. Grischa wurde daraufhin an Land der Marineinfanterie zugeteilt, in eine Abteilung der Landungstruppen. Zu dieser Zeit griffen die Faschisten bereits nach dem Kaukasus und nach Stalingrad. Sie waren immer noch voller Kraft und wir hatten überall das Nachsehen. Die Schlacht um den Kaukasus unter Führung des berühmten Generals Petrow, des Verteidigers des Kaukasus, hat der Schriftsteller und Held der Sowjetunion Wladimir Karpow ausführlich beschrieben. Ich jedoch habe sämtliche Details von Grischa schon viel früher zu hören bekommen. Weit vorher, als das Buch von Karpow „Der Heerführer“ herauskam.
Um den Ansturm der Faschisten aufzuhalten, hatte unsere Kommandozentrale einige spezielle Landungstruppen bilden lassen — in eine von diesen Gruppen war Grischa geraten – die mit Fallschirmen im Hinterland der Faschisten abgesetzt wurden, um dort die Kommandanturen, Garnisonen, die Waren- und Waffenlager der Faschisten, ja das gesamte besetzte Hinterland zu demolieren. Nach ihrer Rückkehr von dort bekamen dann diejenigen, die sich besonders hervorgetan hatten, eine Medaille und einige Tage Urlaub.
Diese Jungs waren sehr jung und kühn. Sie scheuten kein Risiko. All dies geschah so im Kaukasus, wo schon seit je her der Wein in Strömen fließt. Nach ihren schwierigen Kampfeinsätzen war es nur ganz natürlich, dass die Jungs abschalten wollten. Also kurz gesagt — wie mir Grischa berichtet hat — wurde immer gewaltig tief ins Glas geschaut, was dann stets mit einem Arrest in der Hauptwache endete. Nach wenigen Tagen brauchte man dann aber wieder Leute zu einem Einsatz, und so hatte man dann mit den Sündern plötzlich auch wieder ein Einsehen und setzte sie wieder im Hinterland der Faschisten ab. Grischa gehörte zur berühmten Landungstruppe unter Kommandeur Cäsar Kunikow und war bei der Schlacht um die sogenannte Malaja Zemlja am Kap von Myskhako dabei. Und eben genau von Grischa hatte ich das erste Mal — schon Ende der vierziger Jahre – den Namen Malaja Zemlja und von Cäsar Kunikow etwas gehört, aber auch von dem von Einschüssen total durchlöcherten Güterzug. Nur vom Heldenmut Breshnjews hatte Grischa nichts erzählt, obwohl er bei den Kämpfen um Malaja Zemlja vom ersten bis zum letzten Tag dabei gewesen war.
Später dann war Grischa dabei, als unsere Truppen auf der Krim, die Anlandung auf der Landzunge Eltigen verpatzt hatten. Die Landungstruppe wurde ins Meer zurückgeworfen und von den Faschisten vom Ufer aus scharf unter Beschuss genommen. Grischa hatte es geschafft, die Meerenge von Kertsch schwimmend zu durchqueren und war so mit seinem Leben davongekommen. Wie er mir berichtete, hat er sich zunächst der Matrosenjacke entledigt, danach die Stiefel von sich gestoßen und am Ende auch die Hose in die Tiefe gleiten lassen. Auf der Kaukasischen Seite angekommen, schlief er völlig entkräftet direkt am Strand ein. Als man ihn später fragte, wie er es denn geschafft habe, die Meerenge von Kertsch zu durchschwimmen, antwortete er stets bescheiden: „Was hätte ich denn sonst machen sollen?“
Als der Krieg zu Ende war, hatte man entschieden, den verzweifelten Grischa, der sonst ein lustiger und noch ganz blutjunger Kerl war, zum Studium an die Militärhochschule für Marineflieger zu delegieren. Die befand sich auch im Kaukasus. Ich glaube, es war in Jeisk. Grischa studierte mit Erfolg und es blieb ihm nur noch ein einziger, letzter selbständiger Nachtflug. Er absolviert diesen auch ohne Probleme. Doch auf dem Rückflug zum Fliegerhorst sah er plötzlich von oben die hell erleuchtete Tanzfläche, auf der es sich seine Freunde und die Offiziersschüler der Hochschule gut gehen ließen.
Grischa verspürte plötzlich Lust, sich mit seinen Kameraden einen kleinen Spaß zu erlauben. Er schaltete die Sirene ein und setzt zu einem Sturzflug auf die Tanzfläche an. Der Krieg war gerade erst zu Ende gegangen, allen saß die Angst vor Bombenangriffen und Flugzeugen immer noch in den Knochen. Die Tanzfläche leerte sich augenblicklich und Grischa wurde von der Militärhochschule geworfen. Ungeachtet dieses herben Schicksalsschlages war er trotzdem immer sehr freundlich und hatte für alle ein Lächeln übrig.
Panzerjäger
Unvergessen geblieben sind mir ebenfalls zwei andere meiner Freunde: die Shukow-Brüder. Nach dem Krieg — ich war damals ein Bengel von gerade mal 15 Jahren — lebte ich in Taschkent. Ganz in der Nähe von uns wohnten zwei Brüder, Wolodja und Georgij, beziehungsweise Shorka, wie wir ihn alle nannten. Wolodja war der ältere von beiden. Er war Jahrgang 1926, Shorka war erst 1928 geboren worden. Sie waren ein wenig älter als wir anderen Jungs, die damals noch nicht das nötige Alter erreicht hatten, um an die Front zu dürfen. Für uns war das damals eine richtige Tragödie! Den Shukow-Brüdern jedoch war es trotz ihres jungen Alters gelungen, an die Front zu gelangen. Sie müssen ihre Ausweisepapiere gefälscht haben, denn Shorka war, als der Krieg zu Ende war, gerade einmal 16 Jahre alt.
Die Brüder hatten beide Auszeichnungen bekommen und wurden wegen schwerer Verletzungen bald wieder nach Hause geschickt. Sie hatten aber nicht irgendwo gekämpft! Sie waren bei der Artillerie, auf der Jagd nach Panzern. Der Ältere von beiden, Wolodja, war vom Charakter her eher offen und erzählte gern von seinen Erlebnissen im Krieg. Ich erinnere mich noch, dass er eine sehr ungewöhnliche Uniform hatte. Keine grüne, wie alle, sondern eine schwarze. Am Ärmel hatte sie ein Emblem mit zwei sich überkreuzenden Kanonen — das Emblem der Artillerie. Shorka war dagegen eher verschlossen und wortkarg. Wie Wolodja berichtete, schossen sie mit ihrer Panzerabwehrkanone, die sie direkt an die Frontlinie hinausrollten, auf die Panzer, die ihnen entgegenkamen. Sie richteten das Kanonenrohr auf die Panzer und schossen einfach los. Es waren gefährliche Duelle. Ohne jedes Erbarmen. Wer tötet wen zuerst? Und in der Tat ist es nicht immer allen gelungen, in solch einem Zweikampf zu siegen und am Leben zu bleiben.
Eine Kindheit als Soldat
Meine Frau hatte einen Bruder, der ein wahrer Held war: Juri Kalugin. 1941 waren die Faschisten bis kurz vor Moskau vorgedrungen. Der vierzehnjährige Jura hatte zu Hause ein paar Filzstiefel stibitzt, diese verkauft und es mit Hilfe des Geldes bis an die Front geschafft. Seine Flucht war ihm in der Tat gelungen. Die Geschichte von Jura ähnelt in vielem der des Helden der Erzählung „Ivan“ des bekannten Schriftstellers Bogomolow. Nach den Motiven dieser Erzählung hat dann später der Regisseur Tarkowskij seinen Film „Ivans Kindheit“ gedreht. Jura war bei den Kundschaftern. Manchmal kleidete man ihn so, dass er wie ein vagabundierender Junge aussah, manchmal schlüpfte er sogar in die Rolle eines Mädchens. So getarnt wurde er in das Hinterland der Faschisten geschickt. Nach seiner Rückkehr von dort lieferte er den Kommandeuren wertvolle Informationen, ruhte ein wenig aus und machte sich dann erneut auf den Weg, um neue wichtige Dinge auszukundschaften.
Einmal war Jura in die Fänge der Faschisten geraten. Er wurde gemeinsam mit anderen erwachsenen Kriegsgefangenen zum Erschießen geführt. Während der Schusssalven schob sich ein unbekannter Matrose vor Jura, sodass die Kugel Jura nur an der Schulter traf. Er verlor das Bewusstsein und fiel zu Boden. Man verscharrte ihn daraufhin zusammen mit den anderen in einer Grube. In der Nacht jedoch kam Jura wieder zu sich, kroch aus der nicht sehr tiefen Grube heraus, überquerte die Frontlinie und kehrte nach Hause zurück.
Während der Schlacht bei Kursk war Jura schon sechzehn und bei den Panzerfahrern. Er kämpfte in der berühmt gewordenen Schlacht bei Prochorowka mit. Sein Panzer wurde zerschossen. Jura kroch auf die Haube und wurde von den Faschisten, die ihn mit ihren Maschinengewehren umzingelt hatten, unter Beschuss genommen. Zum Glück waren sofort unsere Soldaten zur Stelle. Dank ihrer blieb Jura am Leben und sogar unversehrt.
Zusammen mit seinem Panzerbataillon gelangte Jura bis nach Berlin. Sie hatten die Seelower Höhen eingenommen und waren bis in den Tiergarten vorgedrungen. Dort im Zentrum Berlins befindet sich der berühmte Berliner Zoo. Während der Kämpfe waren viele Tiere aus ihren Käfigen geflohen. So wie Jura erzählt hat, fuhr er einmal auf seinem Panzer durch Berlin, als ihm plötzlich ein Tiger entgegenkam, kein Panzer, sondern ein richtiger.
Nach der Beendigung des Krieges blieb Jura bei den Streitkräften im besetzten Deutschland. Nachdem er von der Armee entlassen worden war, arbeitete er eine Zeit lang als Chauffeur. Leider überfuhr er dabei einen Menschen. Er wurde verurteilt und musste einige Jahre im Gefängnis absitzen. Danach schwor er, sich nie wieder hinter das Steuer eines Autos zu setzen. Viele Jahre montierte er dann Reifen. Das ist eine schwere und schmutzige Arbeit. Kriegsfilme konnte Jura sich nicht ansehen, denn die versetzten ihn immer in große Aufregung. An den Krieg zurückdenken, mochte er auch nicht gerne, und auch nur dann, wenn man ihn sehr darum bat.
Den ganzen Krieg in Gefangenschaft
Und noch einer meiner Bekannten: Vasilij Korsjukow. Er hatte viel Pech. Gleich zu Beginn des Krieges war er in die Hände der Faschisten geraten und in ein Konzentrationslager gesteckt worden. Nachdem er sich dort beigemacht hatte, einen Tunnel unter dem Stacheldrahtzaun zu graben, versuchte er, zusammen mit anderen Kameraden von dort zu flüchten. Doch man hetzte die Hunde auf sie. Zurück im Lager wurden sie dann fast zu Tode geschlagen. Nachdem er sich etwas erholt hatte, unternahm er einen erneuten Fluchtversuch. Doch wieder wurde er gefasst. Daraufhin deportierte man ihn nach Ausschwitz. Vasilij gelang es, auch von dort zu flüchten. Aber auch dieses Mal wurde er wieder eingefangen und in das Konzentrationslager Sachsenhausen oder Mauthausen geschickt. Ich weiß es schon nicht mehr so genau. Ich weiß nur noch, dass es irgendwo in Österreich war. Vasilij berichtete mir, wie sie in einer Kette stehend, auf einem schmalen Pfad in den Bergen riesige Steine schleppten mussten. Die SS-Männer machten mit ihnen ihre Späße. Sie schubsten manchmal den einen, der ganz oben stand. Das hatte zur Folge, dass dann mit ihm auch alle anderen in der Kette zu Boden fielen. Einige stürzten aber auch den Abhang in die Tiefe hinunter.
Vasilij floh aber auch von dort. Wie er erzählte, hatten Leute ihn und seinen Freund unter dem Fußboden eines sich im Bau befindlichen Hauses versteckt. Dort verbrachten sie einige Tage, während die Deutschen intensiv die gesamte Gegend nach den entlaufenen Häftlingen absuchten. Als die Deutschen die Suche aufgegeben hatten, drückten Vasilij und sein Kamerad ein vorher nur leicht angenageltes Dielenbrett nach oben, kletterten aus dem Haus heraus und machten sich auf den Weg in Richtung Osten. Nachdem sie auf ihren Märschen des Nachts halb Europa durchquert hatten, gelangten sie an die Frontlinie, zu den Stellungen der polnischen Befreiungsarmee. Lange konnte niemand dort begreifen, wer sie waren: ob nun Freunde oder Feinde. Doch dann wurde eine Entscheidung getroffen. Die Polen gaben ihnen erst einmal zu Essen und überstellten sie dann unseren Truppen. Aber auch hier erst einmal völlige Unklarheit: Verhöre und endlose Klarstellungen, wie sie denn in Gefangenschaft geraten und wie von dort wieder entkommen waren. „Zu seinem Glück“ war an diesem Tag aber gerade der Fahrer des Divisionskommandeurs gefallen. Vasilij hatte nämlich bis zum Beginn des Krieges als Chauffeur gearbeitet. Der Divisionskommandeur nahm ihn anstelle seines gefallenen Fahrers, und bis zum Ende des Krieges kutschierte Vasilij den Divisionskommandeur in einem amerikanischen Willys durch die Gegend.
Eingeschickt zur Veröffentlichung von Valentin Vasiljewitsch Tschanzew
Uebersetzt von Henrik Hansen
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