14 November 2014| Aristowa Lora Petrowna

„Viele kann ich nicht …“

Vater und Mutter

Meine Mutter, Olga Andrejewna, wurde am 11. Juli 1911 in Charbin geboren. Sie kommt aus einer russischen Familie, die vor der Revolution in dieses Gebiet gezogen ist. Ihre Mutter war Hausfrau. Ihr Vater war entgegen meiner Annahme, dass er bei der Eisenbahn gearbeitet hat, Schuster. Mein Urgroßvater, der Großvater meiner Mutter, Sachar Sorotschan war ein Zigeuner. Seine Frau jedoch war eine Russin. In den Büchern der Geographischen Gesellschaft der damaligen Zeit, die in der Leninbibliothek [1] aufbewahrt werden, fand ich seine Erzählung, wie sie von Poltawa bis in die Siedlungen von Nikolo-Ussuriskij gelangt sind. Der Familienname meiner Mutter vor ihrer Heirat war Sotnikowa.

Olga Andrejewna Aristowa

1913 starb die Mutter meiner Mutter und ihr Vater gab sie und ihren Bruder in ein Kinderheim. 1917 geriet ihr Vater unter einen Zug und starb. So war meine Mutter schon sehr jung eine Waise geworden. Als die Revolution ausbrach, emigrierte der Cousin meiner Mutter in die Vereinigten Staaten von Amerika. Von dort ist er dann nie wieder nach Russland zurückgekehrt. Mit meiner Mutter stand er jedoch im Briefwechsel, denn er wollte sie nachholen. Aus irgendwelchen Gründen ist es aber nie dazu gekommen. 1918 hat sie dann ein Cousin ihres Vaters, Georgij, aus dem Kinderheim geholt. Damit war sie in eine gutbegüterte Familie geraten, wo sie sich aber schon im Alter von neun Jahren um deren Kind kümmern musste. Sie konnte gut mit Kindern umgehen. Sie erzählte mir, wie sie einmal mit dem Kind auf einem Feld eingeschlafen war. Dabei hatte sie sich so die Hand verkühlt, dass man sie operieren musste. Nach der Operation ging meine Mutter nie mehr in kurzärmliger Kleidung auf die Straße.

Mein Vater, Pjotr Semjonitsch, stammt aus Leningrad. Er wurde 1902 geboren. Mein Vater war ein sehr talentierter und vielseitig gebildeter Mensch: er zeichnete und liebte die Holzschnitzerei. In Leningrad wohnte er in der Nähe der Akademie der Künste, die er seit frühster Kindheit immer wieder aufsuchte und dort das Zeichnen lernte. Er war ein aktiver Kirchgänger und sang sogar im Kirchenchor. 1916 verlor auch er seine Mutter. Der Vater meines Vaters, Semjon Parfjonowitsch, war bei der Leningrader Zollbehörde angestellt, die sich damals bei den Roten Säulen befand. Bis dorthin kamen die ausländischen Schiffe damals in die Stadt hinein. Was noch interessant ist: Mein Großvater hat sich selbst in der Zollbehörde einige Fremdsprachen beigebracht. Wenn er die ausländischen Schiffe in Empfang nahm, versuchte er mit der Mannschaft ins Gespräch zu kommen.

Mein Vater hat schon mit sechzehn Jahren wegen seiner Stiefmutter sein Elternhaus verlassen. Mit 19 ist er dann in den Bürgerkrieg in den Fernen Osten gegangen. In der Fernöstlichen Republik schloss er sich den Roten an und war bei den Partisanen in irgendeiner Brigade Kundschafter. Dabei hatte ich immer angenommen, dass er bei den Weißgardisten war. Er wurde damals durch einen Säbelhieb am Kopf verletzt, blieb aber am Leben. Der richtige Familienname meines Vaters ist eigentlich Petjuschew. Während des Bürgerkrieges hat er jedoch seinen Familiennamen geändert. Er war seinem Kommandeur sehr ergeben. Nachdem dieser gefallen war, hat mein Vater daraufhin offiziell dessen Familiennamen angenommen und ist so zu einem Aristow geworden. Meine Mutter hat die Unterlagen darüber, wie er in den 20iger Jahren seinen Familiennamen geändert hat, in verschiedenen Archiven gefunden. Deshalb wurde dann auch ich als eine Aristowa geboren.

Mein Vater besuchte die Arbeiter- und Bauernfakultät im Fernen Osten und dann die Seefahrtsschule. Er erlernte den Beruf eines Schiffstechnikers. Später dann wurde er Ingenieur für Flugzeugbau. Meine Mutter hingegen hat eine Ausbildung an einer Pädagogischen Fachschule absolviert. Ihr Werdegang ist sehr interessant. Sie hat – so wie auch ich – einen besonderen Hang Menschen zu heilen. Sie hatte dazu auch großes Talent und immer sehr viel Liebe zu den Menschen. Schon von Kind auf an wollte sie Ärztin werden, obwohl sie dann aber ihr ganzes Leben im Schulwesen tätig gewesen ist.

Sie hat nur deshalb nicht Medizin studiert, weil es für die Medizinstudenten kein Studentenwohnheim gab. Stattdessen ist sie auf eine Pädagogische Fachschule gegangen, weil man dort für die Studenten ein Platz in einem Wohnheim zur Verfügung stellte. Sie schloss ihr Studium 1931 ab und bekam 1932 eine Stelle in Grodekowo [2], wo sie meinen Vater kennen lernte. Meine Mutter ist 9 Jahre jünger als mein Vater. Gestorben sind sie beide im gleichen Alter: mein Vater 1977 und meine Mutter 1986.

1933 wurde meine ältere Schwester Ella geboren. Wir haben einen Altersunterschied von 2 Jahren. Meine Mutter hat sie unter extremen Bedingungen zur Welt gebracht – auf der Bahnstation Kargat. Die gehört zur Westsibirischen Eisenbahn und liegt im Gebiet von Novosibirsk.

Warum nannten meine Eltern mich Lora? Soviel ich weiß, ist Lora ein griechischer Name. Meine Eltern haben mir gesagt, dass sie mir einen Namen gegeben haben, der aus Buchstaben aus den Namen meiner Mutter und meines Vaters besteht: das O ist aus Olga, das R aus Pjotr und das A aus Aristowa. Getauft wurde ich auf den Namen Larisa. Doch niemand hat mich zu Hause bei diesem Namen gerufen, nur eine Lehrerin – eine gute Bekannte meiner Mutter. Meine Mutter unterrichtete ihre Söhne und sie mich.

Olga Andrejewna Aristowa und Lora

Krieg und Evakuierung

Als der Krieg begann, wurde mein Vater sofort an die Front zu einer U-Boot-Sonderabteilung einberufen. Seine Aufgabe bestand darin U-Boote zu reparieren. In dieser Abteilung hat er dann bis zum Ende des Krieges seinen Dienst getan.

Im Oktober 1941 wurden wir auf einem Dampfer nach Samara evakuiert. Dort lebten unsere Verwandten – eine Großtante meiner Mutter – Tante Katja – eine Schwester ihrer Mutter. Für mich ist sie wie eine Großmutter gewesen. Sie wohnte nicht direkt in Samara. Wenn ich mich nicht irre, gibt es da die Bahnstation Bezymjanka. Dort hat sie gewohnt. Alle Verwandten mütterlicherseits, die gesamte Familie, sehen aus wie Zigeuner. Nur meine Mutter war eine Ausnahme. Sie ist ein heller Typ gewesen.

Während der Evakuierung ist meine Mutter einmal, als das Schiff einen Halt eingelegt hatte, auf die Suche nach Äpfeln gegangen und zu spät zum Anleger zurückgekehrt. Meine Mutter kannte sich sehr gut in Geographie aus und kam direkt zu dem Punkt, wo das Schiff das nächste Mal anlegen sollte. Sie hatte verstanden, dass sie es nicht schaffen würde, rechtzeitig zum Ablegen zurück auf dem Schiff zu sein und ist daher sofort in die entgegengesetzte Richtung gelaufen, quasi dem Schiff entgegen. Der Dampfer hatte ohne Ende Signale gegeben, dann aber nicht mehr warten können und deshalb abgelegt. Der Kapitän hatte sich vielleicht auch überlegt, dass meine Mutter über die Landenge an das andere Ufer kommen würde. Meine Schwester und ich haben die ganze Zeit nur dagesessen und geheult.

Meiner Mutter wurde eine Stelle in Mordowa, im Kreis von Nowo-Bujanowsk angeboten. Sie ist zusammen mit Ella dorthin gefahren, denn ich war noch zu klein. Ich war gerade erst 6 Jahre alt und sollte bei Tante Katja bleiben. Dort habe ich mich aber überhaupt nicht wohl gefühlt. Ich war oft hungrig. Wenn ich ins Haus gerannt kam und etwas essen wollte, bekam ich oft die Antwort: „Es ist noch zu früh“. Wenn ich dann später wiederkam, hatten sie schon gegessen. Dann sagte man zu mir: „Warum kommst du auch zu spät?“. Auf dem Flur stand ein Sack mit Sonnenblumenkernen. Von denen habe ich mich ernährt. In dieser Familie habe ich ungefähr ein halbes Jahr gelebt. Dann ist meine Mutter gekommen, um mich zu holen. Ich erinnere mich noch, dass wir mit ihr zusammen sehr lange zu Fuß unterwegs waren und in den Dörfern übernachtet haben.

Während des Krieges war es sehr schwer mit der Versorgungslage. Einmal passierte folgendes: Meine Mutter hatte gehört, dass man Brot auch aus Melde backen könne. Sie wusste aber nicht, dass man dazu die Samen nehmen muss. Sie verwendete die Blätter. Was herauskam, war eine eklige, heiße grüne Masse. Wie ein Frosch sah sie aus. Wer war es, der immer den größten Hunger hatte? Ich natürlich. Und so hab ich mich auch satt gegessen. Dann jedoch haben meine Därme quasi nach außen gewollt und ich wurde in ein Krankenhaus gebracht. Gott sei dank, ist alles gut ausgegangen. Einmal habe ich einen Mistkäfer gesehen und geschrien. Meine Mutter — ich weiß es noch — dagegen hat gesagt: “Was für ein schöner Geselle, so wie neu!“ Ella hat einmal, als sie klein war, ein Pferd gesehen, das man vom Wagen losgespannt hatte. Sie hat sehr geweint und nur gemeint: „Mama, das Pferdchen ist zerbrochen.“

Ich erinnere mich noch, dass die Menschen in den Dörfern während des Krieges sehr zusammenhielten. Meine Mutter war sehr begabt. Sie hatte sehr viele Fertigkeiten. Unter anderem konnte sie auch nähen. So nähte sie für jemanden etwas wieder zusammen und bekam dafür als Zeichen des Dankes ein paar Eier. Jemand brachte ihr auch Milch. Später dann schaffte meine Mutter für uns eine Ziege und ein Ferkel an.

Der Umzug nach Tuschino

Nach dem Krieg wurde meine Mutter nach Tuschino versetzt. Tuschino gehörte damals noch zum Kreis Krasnogorsk im Moskauer Gebiet. Meine Mutter unterrichtete die unteren Klassen und kümmerte sich auch um Arbeiter, die bisher noch nicht Lesen und Schreiben gelernt hatten. Zuerst arbeitete sie ohne dafür bezahlt zu werden, quasi nur für eine Flasche Milch. Obwohl sie offiziell versetzt worden war, gab es kein Geld, um sie zu bezahlen. Später dann hat sie Gesellschaftskunde in der Schule unterrichtet. Sie war an allem interessiert. Vor dem Krieg hatte sie es geschafft, drei Jahre an der Fakultät für Fremdsprachen zu studieren. Das letzte Studienjahr absolvierte sie dann erst nach dem Krieg.

Mein Vater kam nach dem Krieg zu uns nach Tuschino. Unsere Familie wohnte im Eingangsbereich einer Baracke. Erst vor kurzem habe ich einen Brief meiner Mutter an die Abteilung für Volksbildung beim Rat des Krieses gefunden, in dem sie darum bat, in eine andere Schule versetzt zu werden, weil sich die Baracke genau neben der Schule befand und es ihr vor den Kindern peinlich war, dass sie als Lehrerin mit einer Familie aus 4 Personen im Eingangsbereich einer Baracke auf 2 mal 2 Metern lebt.

Aus dem Eingangsbereich zogen wir dann später in ein Zimmer in der Baracke um. Dort wurde uns ein 17 Quadratmeter-Zimmer zugeteilt. Darin haben wir dann bis 1950 gewohnt. Die Schule, in der meine Mutter die unteren Klassen unterrichtete, war ebenfalls eine Art Baracke. Als Toilette dienten zwei Löcher. Damit die Kinder nicht auf ein Dreckloch gehen mussten, machte meine Mutter, indem sie sich die Ärmel hochkrempelte, die Toilette selbst sauber. (Es gab niemanden, der es sonst hätte machen sollen). Mein Vater arbeitete in dieser Zeit schon als Flugzeugbauer in einem Betrieb in Tuschino. Dort lernte er einen wunderbaren Menschen kennen – Konstantin Adamowitsch. Er war ein Weißrusse. Dessen Vater war mit dem Leninorden ausgezeichnet worden, weil er gemeinsam mit Lenin am ersten kommunistischen Subbotnik teilgenommen hatte. Er war Lokomotivführer auf einer Dampflock und war darauf sehr stolz.

Die Freundin meiner Mutter, Elena Dmitrjewna Geneka, meinte immer wieder: „Unser Lörchen ist eine halbe Französin“. Elena Dmitrjewna war ein wunderbarer Mensch. Sie hat uns immer sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. Sie war auch Grundschullehrerin. Meine Mutter und Elena Dmitrjewna waren sehr eng miteinander befreundet. Irotschka, ihre Tochter, hat die Moskauer Universität besucht und an der Philologischen Fakultät studiert. Einmal hat sie erzählt, wie sie eine Prüfung im Fach Geschichte abgelegt hat. Irgendein Datum wusste sie nicht ganz genau. Der Prüfer mahnte sie an: „Das ist nicht ganz korrekt“. Sie entgegnete ihm darauf: „Entschuldigen Sie bitte, aber könnten Sie etwa, wenn sie nicht das Lehrbuch genau vor der Nase haben, alle Daten fehlerfrei aufsagen? So wurde sie dann doch an der Universität aufgenommen und bekam für diese Prüfung ein „Ausgezeichnet“. Sie ist Philologin geworden und hat als Pädagoge gearbeitet. Das wunderbare Buch über Landau [3] wurde unter ihrer Redaktion herausgegeben. Auch in ihrer Familie waren alle musikalisch gebildet. Ihr Vater war ein Musikant. Zu Beginn des Krieges war er ohne Ausbildung an die Front geschickt worden. Als Kanonenfutter sozusagen. In der Nähe von Palanga wurde er dann mit seinen Kameraden begraben. Einmal waren wir zusammen mit meiner Mutter in Palanga an seinem Grab. Im letzten Jahr konnte Irotschka nicht zu ihm. Die Reise kostet sehr viel Geld und man kommt jetzt auch nicht mehr so einfach nach Litauen. Sie hat versucht über das „Rote Kreuz“ wenigstens an das Grab des Vaters zu kommen, aber es hat nicht geklappt.

Von Kindheit an habe ich mich stets vor dem Spiegel hin- und hergedreht. Das hielt mein Vater für ein „Minus“. Wissen Sie, was komisch war? Oft kamen Schüler meiner Mutter zu uns nach Hause und haben mit verbundenen Augen und Kreide gemalt. Auf das Spiegelglas sind dabei Tropfen von Sonnenblumenöl geraten. Sie haben ein Haar genommen und konnten dieses nun mit einem Stock im Öl in jede beliebige Form bringen. Im Öl ist ein Haar sehr „gehorsam“ und kann jede beliebige Figur darstellen.

In der Schule hatten wir ein sehr gutes Theater. Es gab dort sehr interessante Mädchen. Sie waren gute Schülerinnen und waren überall erfolgreich. In Mathematik zum Beispiel hatte ich Einsen aber auch Vieren. Iwan Kusmitsch, ich erinnere mich noch an ihn, war Offizier in der Armee. Er hat ausgesehen wie Ives Montan. „Aristowa, haben Sie wieder einmal nicht zugehört?“ Er hat nie eine Frage wiederholt. Von ihm kam dann immer einfach nur: „Setzen! Vier“.

Meine Schwester Ella

Meine Schwester Ella hatte es sehr schwer im Leben. Mit 14 ist sie wegen des aufbrausenden Charakters unseres Vaters von zu Hause ausgezogen. Er war sehr musikalisch, er konnte mit geschlossenen Augen auf jedem beliebigen Instrument spielen. Er konnte alles, was man sich wünschte, nach dem Gehör nachspielen. Auch meine Mutter hat als Kind Balalaika und Geige gespielt. Ella hatte eine sehr schöne Stimme. Doch es ist so gekommen, dass sie mit 14 Jahren, wie man so sagt, nur „Flausen im Kopf“ hatte. Meine Mutter schrieb in ihr Tagebuch, dass Ella einen solchen Charakter hat, dass einem die Haare zu Berge stehen. Die Sache mit dem Vater hat sie das ganze Leben hindurch nicht überwunden. Sie hatte unserer Mutter gesagt: „Warum hast du dich nicht vom Vater getrennt?“ – ja auch so weit war es gekommen. Sie war dann für zwei Jahre verschwunden. Niemandem hatte sie erklärt, warum sie verschwunden war. Erst später erfuhren wir, dass sie nach Kiew gefahren war und dort in einer Textilfabrik gearbeitet und im Wohnheim eine Bleibe gefunden hatte. Wir dagegen hatten sie in den Kinderheimen im Umkreis von Moskau gesucht. Zwei Jahre später stand sie dann plötzlich vor der Tür und hat wieder mit uns zusammen gelebt. Dann ergab es sich, dass wir zusammen mit ihr in die 5. Klasse gingen. Bei uns in Tuschino gab es drei Schulen: die erste, wo nur Jungs lernten, die zweite, die meine Schwester besuchte – es war eine reine Mädchenschule – und die dritte, eine gemischte Schule, auf die ich ging. Später lernte Ella den Beruf eines Obstbauers und arbeitete dann in der Nähe von Tambow in einer Sowchose. Ich habe sie dort oft in der Sowchose, wenn ich Urlaub hatte, besucht. Nachdem sie dann später Landwirtschaft studiert hatte, wurde sie nach Jushno-Sachalinsk geschickt, wo sie als leitender Agronom gearbeitet hat.

Eintritt in die Berufsschule

Im Herbst 1950 bekam meine Mutter ein finnisches Haus in einer Siedlung, die von deutschen Spezialisten gebaut worden war. In dieser Siedlung gab es einen eigenen Laden, eine Poliklinik und ein Krankenhaus. Unser Haus war nach einem russischen Typus „Typ A“ gebaut worden. In der Mitte gab es einen Schuppen. In diesem winzigen Schuppen hielt meine Mutter 8 oder 9 Hühner und einen Hahn. Sie hat sie mit kleinen Steinchen gefüttert und für sie Brei gekocht. Sie wusste, wie man Hühner füttern musste. Und fast das ganze Jahr über hatten wir jeden Tag an die 8 bis 9 Eier.

1950 beendete ich nach der 7. Klasse die Schule und fuhr nach Noginsk. Dort gab es eine sehr gute Pädagogische Fachschule. Da ich unter Pädagogen aufgewachsen war, gab es für mich keinen anderen Berufswunsch. Ich geriet in den dritten Stoß von Bewerbern. Wir waren vier fünfzehnjährige Mädchen: eine aus Moskau, eine andere aus Taldom, eine dritte aus Podolsk und ich. Zu viert sind wir in ein Geschäft gegangen und haben Leberwurst gekauft (wir haben uns noch darüber lustig gemacht, dass diese so aufgedunsen war und eher einem kleinen Broiler ähnelte). Wir wussten damals noch nicht, dass einem im Geschäft auch verdorbene Ware verkauft wird. Dazu reichte unser Verstand nicht. Nachdem wir uns an ihr satt gegessen hatten, lagen wir dann während der letzten Prüfungen krank darnieder und erhielten so unsere Bewerbungsunterlagen wieder zurück.

In Noginsk gab es eine sehr gute Berufsschule, die auf Landschaftsbau spezialisiert war. Alle vier reichten wir unsere Bewerbungsunterlagen nun dort ein. Mein Vater war beunruhigt, dass ich so lange weg war und kam, um mich ausfindig zu machen. Wenn nicht mein Vater gekommen wäre, sondern meine Mutter oder wenn mein Vater so schlau gewesen wäre und gesagt hätte, dass ich die Tochter eines Lehrers bin, dann wäre ich ohne die Prüfungen abgelegt zu haben genommen worden. Früher wurden die Kinder von Lehrern ohne Prüfungen an den Pädagogischen Fachschulen aufgenommen. Aber mein Vater hat nichts gesagt und meine Mutter ist nicht gekommen. Und so ist es eben dazu gekommen, dass ich nicht Lehrer wurde.

Ich war eine gute Schülerin. Man bekam damals ein Stipendium von 14 Rubel. Von dieser Summe bezahlten wir 3 Rubel für das Wohnheim. 3 Rubel zahlten wir an Tante Fissa, bei der wir wohnten — direkt gegenüber des Bahnhofes in einem kleinen Häuschen. Die Häuser stehen heute nicht mehr, man hat sie abgerissen. Ich bin einmal dort hingefahren – keines von ihnen steht mehr. Wir haben Tee ohne eigentliche Teeblätter getrunken. Wir nannten ihn „Weiße Rose“. Im Prinzip war es nur heißes Wasser. Tante Fissa hatte so große Tassen, in die ein halber Liter hineinpasste. Während des Krieges haben wir keinen Zucker zu Gesicht bekommen. Später habe ich mir dann von meinem Stipendium Zucker gekauft. Dieser war, wissen Sie, eine Art „Riegel“ zu vier Stück. Ich habe eigentlich nie gemerkt, wie schnell dieser schon nach einem Tag alle war. Gleich am ersten Tag habe ich alle vier Stück aufgegessen. Knirsch, knarsch und weg waren sie.

Als ich auf der Berufsschule war, bin ich viel Ski gefahren. Wir sind auch auf die Eisbahn gegangen. Auf Schlittschuhen fühle ich mich wie ein Fisch im Wasser. Sogar noch kurz vor meiner Rente bin ich mit den Kindern zusammen Schlittschuhlaufen gegangen.

Der Tod Stalins

Im März 53 starb Stalin. Während er noch krank darniederlag, wurde in der Berufsschule über Lautsprecher seine Krankengeschichte verlesen. Alle waren über seinen Gesundheitszustand informiert. Als er starb haben die Züge Signal gegeben, Tante Fissa hat geheult und alle sind auf die Straße getreten: Was wird nun geschehen? Ich bin mit meiner Freundin Ira auf dem Trittbrett eines Zuges nach Moskau gefahren. Die Züge waren übervoll, es wurde einem der Einstieg verweigert. Von Noginsk bis Moskau fuhren wir, in dem wir uns an einer Haltestange festhielten. Etwa zwanzig Minuten vor Moskau hatte die Schaffnerin Mitleid mit uns und ließ uns in ihr Abteil. Man brauchte damals für die Fahrt 1,5 Stunden. Es war kalt. Doch der Wunsch war stärker als die widrigen Umstände und so gelangten wir bis auf die Majakowka. Überall waren Menschenmassen. Damals sind die Menschen aus der gesamten Sowjetunion nach Moskau gekommen. Auf der Majakowka wandten wir uns an einen Offizier. Er war aus Leningrad. Wir fragen ihn: „Wie können wir uns hier in die Schlange einreihen?“ Er entgegnete: „Mädels versucht es erst gar nicht erst. Ich bin mit meinem Sohn gekommen und der liegt nun im Krankenhaus.“ So ein Gedränge war es da.

Für mich war es einfach eine Sabotage. Die Menschenmenge zog über die Gorki-Straße. Wenn jemand ins Stolpern geriet, war er im nächsten Moment schon tot. Er wurde einfach totgetreten. Niemand konnte den Druck der Masse aufhalten. Es war eine Masse, die den Verstand verloren hatte, in der die Leute gezwungen waren in eine Seitenstraße umzubiegen, in eine andere Straße. Der Strom der Leute wurde von der Miliz abgeriegelt. Die Menschen fielen in Ohnmacht: sie hatten Hunger und wollten etwas trinken. Viele waren von weither gekommen. Aus den Fenstern sahen die Anwohner zu, was da vor sich ging. Sie ließen Brot hinunter und versuchten mit Essbarem zu helfen, so gut sie konnten. Die Anwohner hatten Mitleid, doch auf der Straße wurden die Durchgänge abgeriegelt. Die Krankenhäuser und Leichenhallen waren überfüllt. Es war das reinste Irrenhaus. Wir Mädels waren jedoch tapfer. Ira wohnte in der 3. Samotetschnij-Gasse und kannte sich gut im Stadtzentrum Moskaus aus. Da stand zum Beispiel am Straßenrand eine Reiterstaffel – und wir kletterten zwischen den Beinen der Pferde hindurch. Dort standen ein paar Geländewagen, wir machten uns platt wie eine Flunder und krochen unter den Autos unterdurch. Letzten Endes sind wir so bis zum Gewerkschaftshaus mit dem Saal aus Säulen gelangt. Doch hier war eine Gasse durch einen hohen Zaun verriegelt. Plötzlich kam über diesen ein Junge gesprungen. Ich weiß nicht wie und warum, aber die Miliz hat ihn gezwungen wieder zurück zu klettern und ihn nicht durchgelassen. Als wir dann bis in den Saal mit den Säulen vorgedrungen waren, haben wir Stalin gesehen. Neben dem Sarg standen Bulganin, Malenkow, Woroschilow und andere. Die Menschenmenge zog langsam an ihm vorbei, immer 3 bis 4 Menschen. Stalin lag etwa 10 Meter von uns entfernt. Mir ist aufgefallen, dass man ihn geschminkt hatte und dass er gar nicht blass aussah. Für uns war dieser Kondolenzbesuch natürlich ein Ereignis. Wir hatten es nur schaffen können, weil Ira sich in Moskau auskannte und wir keine Feiglinge waren und überall sämtliche Hindernisse überwunden haben.

Auf der Heimreise aus Moskau heraus fuhren wir dann in einem Zug auf der obersten Pritsche im Liegewagen. Jetzt fahren überall Regionalzüge, in denen man sitzen kann. Früher fuhren nur Fernzüge mit Liegewagen, in denen es drei Pritschen übereinander gab.

Bei einem Praktikum in der Produktion

Ich erinnere mich noch, wie wir 1953 im Sommer für einen Monat zu einem Praktikum in den Westteil von Weißrussland gefahren sind. Wir waren in Pinsk. Von Pinsk aus sind es nur noch etwa 200 km weiter und schon ist man in Polen. Wir waren drei Mädels und sind bei einer jüdischen Familie untergekommen. Die Hausherren hatten eine Tochter, die sehr lustig war. Sie hieß Polina. Der dreiteilige Garderobenschrank war vollgehängt mit Kleidern. Das Mädchen ging regelmäßig in das Haus der Offiziere zum Tanz. Sie öffnet den Schrank und sagt: „In diesem Kleid war ich das letzte Mal, dieses hab ich schon getragen, das hatte ich schon an … Mädels, ich habe für heute gar nichts zum Anziehen. Wir trauten unseren Augen nicht. Es war ein ganz anderes Lebensniveau da.

Die Miliz unterstand Beria. Im Sommer 1953, an dem Tag, an dem man Beria verhaftet hat, kam eine ganze Truppe Milizionäre und verriegelten die Grenze. Sie hatten Angst, dass Beria die Grenze öffnen wird.

1954 bin ich zu einem Praktikum nach Cherson gefahren. In Cherson gestalteten wir auf dem Territorium eines Reparaturbetriebs einen ganzen Platz – es war unsere Diplomarbeit. Es war ein großes Territorium. Wir haben Straßen aufgehauen und Rabatten bepflanzt. Als Hilfe bekamen wir einige Jungs. Es war immer sehr lustig, wenn wir mit ansehen durften, wie sehnsüchtig die Jungs den Feierabend erwarteten. Es waren noch 3 oder 4 Minuten bis zu Feierabendsirene, aber alle hingen sie schon wie Weintrauben an den Toren und warteten, dass man diese endlich öffnet.

Was war meine Mutter für ein Mensch?

Einmal hatte meine Mutter in der Zeitung „Izwestia“ eine Notiz gelesen: „Die Enttäuschung von Studenten der Pädagogischen Fachschule von Pawlowo“ (im Gebiet von Nishnij Nowgorod). Sie hatten darum gebeten, dass eine Moskauer Schule sie über die Winterferien aufnimmt. Diese hatte es aber nicht getan. Wir wohnten damals schon in unserer kleinen Wohnung (54 Quadratmeter) in der 5. Etage. Meine Mutter schickte daraufhin ein Telegramm: „Viele kann ich nicht aufnehmen, aber 6 Leute könnt ihr schicken“.

Und so entsandten sie 6 Studenten, die bei uns natürlich kostenlos unterkamen. Meine Mutter stand später bis zu ihrem Tode mit ihnen im Briefwechsel. Früher trug man so eine moderne Frisur — „Babetta“ wurde sie genannt. Die Haare wurden durch Kämmen hochtoupiert. Bei den Mädchen, die angereist waren, fanden sich aber ganze Völker von Läusen. Meine Mutter hat sie den Mädchen alle aus den Haaren gekämmt und mit Hilfe von Kerosin aus den Haaren entfernt. Von uns sind sie dann wieder sauber und akkurat nach Hause in ihre Fachschule zurückgekehrt. Meine Mutter ist – wie man so schön sagt – eine richtige Altruistin. Sie hat nie an etwas gespart.

[1] Leninbibliothek – heute die Russische Staatliche Bibliothek

[2] Grodekowo – eine Hafenstadt am Amur

[3] Bessarab M.J. Landau. 1968

 Aufgeschrieben von Tatjana Aljoschina

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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