Über meine Verwandten, die an der Front waren
Bereits in den ersten Tagen des Krieges meldete sich mein Großvater Timofej Andrejewitsch Gordejew beim Wehrkreiskommando, da er unbedingt an die Front wollte. Im Ersten Weltkrieg war er mit dem Georgskreuz ausgezeichnet worden. Wohin diese Auszeichnung verschwunden ist, ist mir unbekannt. Doch seine älteste Tochter, Tante Tanja, hatte ein Foto aufbewahrt (es ist jetzt im Besitz ihres Sohnes Tolja), das Großvater in Soldatenuniform zeigt. Das Georgkreuz an seiner Brust, mit gezwirbeltem Schnurrbart und Adlerblick. Ja, mein Großvater war in der Tat wie ein Adler! Heißblütig, wie er war, fuhr er leicht aus seiner Haut, und es gelang ihm nur schwer seine Zunge im Zaume zu halten (Möge der Herr ihm verzeihen!). Die dörfliche Einöde bei Smolensk, wo es kaum befahrbare Straßen gab, war für ihn einfach zu langweilig, zu eng! Wo hat er nicht überall mitgemischt – in Kriegen und bei der Revolution, der Kollektivierung und der Industrialisierung. … In der Dorfeinsamkeit bei Smolensk, im Dörfchen Kamenka, dagegen weinte meine Großmutter Alexandra mit einer Bande von kleinen Kindern „Wir haben unseren Vater fast nie zu Gesicht bekommen“ – erinnerte sich meine Mutter. Einmal hatte man meinen Großvater zum Kolchosvorsitzenden gewählt. Doch dann hat er wegen irgendeiner Ungerechtigkeit die Kreisleitung mit unanständigen Worten derart niedergemacht, dass man ihm sofort den Vorsitz wieder wegnahm, ihn aus der Partei ausschloss (natürlich war mein Großvater Mitglied der Partei) und fast hätte man ihn sogar verhaftet.
Mein Großvater war überzeugt, dass er, Träger des Georgkreuzes, auch im Großen Vaterländischen Krieg von Nutzen sein könnte. Doch das Wehrkreiskommando sah das anders. Er war Jahrgang 1888 und 1941 bereits 53 Jahre alt. Etwas alt, um einberufen zu werden. Doch immer wieder ging er hin, zum Wehrkreiskommando. Und jedes Mal, wenn er von dort zurückkam, kehrte er in den „Donauwellen“ ein (so nannte man in der damaligen Zeit die vielen Zelte von giftig-blauer Farbe, in denen Wodka ausgeschenkt wurde). Dort hat er sich dann sein Leid von der Seele getrunken, kam danach nach Hause, setzte sich auf die Treppe vor dem Hauseingang und … weinte. In diesen Minuten hatten alle Angst sich ihm mit Fragen zu nähern. Wir Kinder flüsterten uns nur gegenseitig ins Ohr: Die haben Großvater schon wieder nicht an die Front gelassen …“.
Großvater war sehr stolz darauf, dass zwei seiner Söhne und vier seiner Schwiegersöhne an der Front kämpften. Er dagegen reparierte die Landmaschinen der Kolchose, schärfte Sensen, flickte Leder- und Filzstiefel und jagte seine Enkel durch die Gegend, um sie zu necken – und diese „kreischten“ vor Vergnügen. Mein Großvater konnte alles. Er hatte goldene Hände. Mit seinem Herzen und seiner Seele war er jedoch dort: an der Front. Alle Straßen des Krieges – von der Westgrenze bis nach Berlin – ist er mit unseren Truppen „mitgegangen“. Er war nicht umsonst Träger des Georgkreuzes. Alle zusammenfassenden Berichterstattungen vom „Sowjetischen Informationsbüro“ trug er in einer Karte ein, kannte alle Frontlinien und Armeen sowie deren Heerführer und wusste über alle großen und kleinen Ereignisse während der vier Jahre des Krieges Bescheid. Da ich immer an seiner Seite war, – meine Mutter und meine Großmutter arbeiteten von morgens bis abends in der Kolchose – war das erste, was sich mir vom Leben einprägte, vom Krieg bestimmt.
In den letzten Tage des Krieges wurde über Radio direkt aus den Straßen von Berlins übertragen. Man konnte hören, wie geschossen wurde — das Donnern von Kanonen und Maschinengewehren und immer wieder Freudenschreie: „Hurra!“ Ich erinnere mich noch, als ob es gestern war, wie mein Großvater (in seiner uralten Soldatenmütze, die er sommers wie winters trug – die eine Ohrenklappe mit dem Schnürchen zum Verschließen hing immer irgendwie schief zur Seite, wie bei „Väterchen Schukar“ (Person in Scholochows Roman „Der stille Don“ – A.d.Ü.): sein Ohr an die schwarze „Schüssel“, das Radiogerät, drückte und lauthals und begeistert — und immer nicht ganz jugendfrei — die Reportage kommentierte. „Gefechte auf den Straßen Berlins“ – die Stimme Levitans (sowjetischer Radioreporter – A.d.Ü.) stockte vor Erregung. Sie riss mich förmlich aus meinem Sessel. Ich sprang auf, rann hinaus auf die Vortreppe unseres Hauses und schrie aus allen Kräften: Gefechte auf den Straßen Berlins! Das ist der Sieg!“ Diese Neuigkeit brachte unser gesamtes Dorf in Aufregung, alle kamen aus ihren Häusern, weinten und umarmten sich. Die Kinder liefen über die Straßen und riefen: „Hurra! Wir haben gesiegt!“ Mein Großvater – betrunken vor lauter Freude – machte sich auf den Weg nach Moskau — auf den Arbat zu seiner Tochter Tatjana und gleichzeitig auch, um das Feuerwerk anlässlich des Sieges auf dem Roten Platz zu bewundern. Auf dem Kiewer Bahnhof wurde er von einem Milizionär angehalten: „Deine Stiefel sind dreckig, Väterchen“. Mein Großvater umarmte den Polizisten ganz einfach: „Mein Lieber! Wir feiern den Sieg! Ich werde jetzt auf meine Söhne und Schwiegersöhne warten, und du kommst mir hier mit Stiefeln!“
Auf seinen ältesten Sohn Pavel wartete mein Großvater vergeblich. Er war in einem Krankenhaus in der Stadt Stalino im Donbass (heute Donezk) verstorben. Sein Name steht auf dem Obelisk eines Gemeinschaftsgrabes auf dem Soldatenfriedhof in Donezk. Wie haben davon erst viele Jahre nach dem Krieg erfahren. Iwan — er war Kundschafter an der Front – ist zurückgekehrt, hat aber nicht mehr lange gelebt. Er ist 1963 im Alter von 43 Jahren gestorben. Was für ein schöner Mann war er doch — unser Onkel Wanja! Da sind sie — die russischen Gene! Da fragt man sich nur woher? Wie konnte im letzten Winkel des Smolensker Gebiets in bitterer Armut des Dorflebens so ein Prachtkerl heranwachsen! Alles war an ihm perfekt — das Gesicht, der Wuchs, die Figur! Ein blonder Arier (sein Spitzname in der Familie war „der Graue“)! Ich erinnere mich an seine Erzählungen, wie er als Kundschafter auf Streife ging oder in Wien bei den Straßenkämpfen dabei war . Nicht von ungefähr wurden als Kundschafter nur die mutigsten und tollkühnsten „Adler“ eingesetzt. So einer war nämlich unser Onkel Wanja. Ich sehe es immer noch vor mir, wie seine Zähne weiß aufblitzten, wenn er lachte und den Kopf in den Nacken warf, weil er wieder einmal einen seiner Späße gemacht hatte. Später jedoch ist er unter Qualen gestorben. (Er hatte sich seinen Magen verbrannt. Man sagte, dass im Krieg unverdünnter Alkohol getrunken wurde. Vielleicht ist es daher gekommen. Was soll´s: über allem regiert der Wille Gottes).
Iwan Timofejewitsch Gordeew liegt auf dem Friedhof unserer Familie in Kunzewo begraben, dort, wo auch mein Großvater Timofej und meine Großmutter Stepanaida ihre letzte Ruhe gefunden haben. Später wird auch mein leiblicher Bruder Alik dort begraben sein. Neben dem Kreuz steht auf einem Eisenschild auch der Name unserer Großmutter Alexandra. Ihr Grab ist auf dem Wagankower Friedhof verloren gegangen. Hier ist sie wenigstens symbolisch mit den Ihren zusammen.
Von den Schwiegersöhnen sind die beiden Wasilijs nicht zurückgekehrt. Beide waren sie Chauffeure an der Front und beide sind sie durch Bombenangriffe der Luftwaffe zu Tode gekommen. Von ihnen ist nichts mehr übrig geblieben. Meine Tanten haben nur die Nachricht erhalten, dass sie „spurlos verschwunden“ sind, und natürlich keinerlei Beihilfe für die Kinder bekommen. Der dritte Schwiegersohn, der Mann von Tante Tanja — Onkel Petja — war bei der Volkswehr. Ein Granatsplitter hatte ihn am Kleinhirn getroffen. Er ist schwer verletzt worden. Operieren war nicht möglich, da man sonst das Gehirn beschädigt hätte. So hat er sein ganzes Leben lang mit diesem Granatsplitter gelebt. Apropos Granatsplitter. Der zweite Mann von Tante Marusja, Vasilij Grischko, ist auch mit einer solchen „Trophäe“ von der Front heimgekehrt. Mit einem Splitter in den Lungen hat er noch fast dreißig Jahre überlebt. Bei einer Operation hat man ein Stück Eisen mit Fasern eines Offiziersmantels aus seiner Lunge entfernt, das sich in einer Kapsel innerhalb der Lungen eingelagert hatte.
Doch zurück zu den Schwiegersöhnen meines Großvaters. Unter ihnen genossen Onkel Petja und mein Vater die größte Autorität. Beide rauchten nicht, beide tranken nicht. Dies galt damals bei einem Menschen als eine sehr ehrenhafte Eigenschaft (so wie es ja heute auch noch ist). Mein Vater wurde, als er zu Beginn des Krieges gerade dabei war, das Vieh der Kolchose in Richtung Osten zu treiben, auf der Stelle in die Armee eingezogen und leistete dort bei den Fernmeldediensten seinen Dienst. Er wurde schwer verletzt und hat lange in einem Krankenhaus in Sibirien gelegen, irgendwo in der Nähe vom Baikalsee. Er ist fast ein halbes Jahr lang dorthin unterwegs gewesen. Seine verletzten Beine entzündeten sich ständig, dann bekam er Fieber und wurde vom Zug aus in eines der Krankenhäuser an der Bahnstrecke verlegt, von denen es viele gab – fast in jeder Stadt. Dann wurde er wieder auf einen Sanitätszug geladen und weitertransportiert, bis zum nächsten Krankhaus. In welcher Stadt genau sich das „Krankenhaus meines Vater“ befunden hat, das wissen wir nicht. Mein Vater hat nicht viel darüber gesprochen, oder vielleicht haben wir uns auch zu wenig dafür interessiert.
Wie wir jedoch unseren Papa nach dem Krieg abgeholt haben, daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Meine Mutter, meine Oma Spepanaida und ich sind zum Sanitätszug gegangen, der aus den Lazaretten im Hinterland eingetroffen war. Es war Ende 1944. Ich war damals fünf Jahre alt. Mein Kindergedächtnis hat sich aber alles ganz genau eingeprägt. Der Kursker Bahnhof war voller Leute. Zwei Sanitäter brachten meinen Vater auf einer Trage aus dem Zug. Sie stellten ihn auf die Beine und schoben zwei Krücken unter seine Achseln. Meine Mutter und meine Großmutter schrien laut auf und brachen in Tränen aus (es gibt eine Redensart im Volke, die es genau trifft: „sie jammerten wie die Klageweiber“ – genau so war es). Ich aber noch viel lauter als alle – allerdings vor Angst! Soll etwa dieser spindeldürre, stoppelbärtige und verwirrte Onkel mein Papa sein?! Von der Eisenbahnstation Matwejewskaja bis in unser Dorf waren es fünf Kilometer. Wir brauchten mehrere Stunden dafür. Mein Vater musste sich schon nach wenigen Schritten immer wieder hinsetzen und ausruhen. Als wir den Garten der Kolchose erreicht hatten, sahen wir, wie uns die Kinder des Dorfes entgegenliefen. Sie kamen immer, um die Heimkehrer aus dem Krieg in Empfang zu nehmen. Schweigend gingen alle bis zu unserem Haus. Die Jungs versuchten ihre Schritte so zu setzen wie mein Vater seine Krücken. Viele von den Kindern jedoch haben vergeblich auf die Heimkehr ihrer Väter gewartet.
Schon bald begann mein Vater wieder in seinem Beruf als Müller und Facharbeiter in der Mehlfabrik zu arbeiten. Man hatte ihm zwar offiziell den Status eines Invaliden zugesprochen, gleichzeitig aber auch die Erlaubnis zu arbeiten nicht entzogen. Nach dem Krieg gewährte man selbst Schwerstverletzten dieses Recht, denn von irgendetwas musste man ja leben. Er konnte nur sehr langsam gehen und dann auch nur mit Krücken. Er humpelte stark, denn das eine Bein konnte er im Knie überhaupt nicht beugen. Das andere war übersäet mit Narben. Doch mein Vater hat oft wiederholt, dass „das Laufen ihn geheilt habe“, d.h. dass er seine verkorksten Beine wieder zum Funktionieren gebracht habe. Das ganze Leben lang war er unermüdlich auf den Beinen, entweder mit seinen Krücken oder einem Stock. Im Hause stolperten wir immer über sein Bein, das er nicht anwinkeln konnte. Es stand uns, meinem Bruder Alik und mir, einfach ständig im Wege, wenn wir durchs Haus rannten. Manchmal liefen wir unserem Vater entgegen, wenn er aus Moskau kam und Lebensmittel brachte. In unserem Dorfladen gab es ja nichts zu kaufen. Es gab nur Wodka und Krabben in Dosen („snatka“ – war auf dem Etikett gedruckt). Ach ja, es gab auch Bonbons. Die Sorte „Kleines Kissen“ war unsere Freude. Es gab damals keinerlei Vergünstigungen für Kriegsveteranen. Ich weiß noch, wie junge Männer aus dem Krieg heimkamen — die Väter meiner Freunde aus dem Dorf — und sich zu Tode tranken. Wodka floss damals in Strömen: in den Läden, den kleinen Kneipen, den blauen Zelten und den Bahnhofsbuffets. Und so gingen sehr viele zu Grunde. Der eine unter den Rädern eines Autos, ein anderer griff zum Strick, ein dritter starb im Delirium, der nächste erfror im Suff. Meine Mutter sammelte immer alle betrunkenen Männer des Dorfes ein und brachte sie in deren Häuser. Mein Vater schimpfte deswegen mit ihr. Er, der nicht trank, weil er in einer anderen, weiter östlich beheimateten Kultur aufgewachsen war, konnte es nicht verstehen, warum man so trinken musste. Immer wieder hat er gefragt: „Warum sind die Russen solche Säufer“?
In den 60iger Jahren des letzten Jahrhunderts hat man dann plötzlich begonnen, sich an die Verteidiger des Vaterlandes zu erinnern. Das war schon zu Breschnews Zeiten. Die ehemaligen Fronkämpfer begannen nun freimütig ihre Orden am Tag des Sieges anzulegen. Man begann ihnen zu danken. Trotzdem gab es zunächst noch keinerlei Vergünstigungen. Erst später erlaubte man es den Kriegsinvaliden, die städtischen öffentlichen Verkehrsmittel (Metro, Bus und Trolleybus) kostenlos zu nutzen, wenn sie ihren Invalidenausweis vorzeigten. Auch mein Vater bekam einen solchen Ausweis. Er war ungeheuer stolz darauf (obwohl er wegen seiner kaputten Knie und seinen steifen und ausgetrockneten Beinen die öffentlichen Verkehrsmittel überhaupt nicht betreten konnte). Wenn er in das Vestibül einer Metrostation ging, rief er meiner Mutter voller Stolz zu: „Dina, schau, ich habe hier kostenlos Zutritt“. Er nannte seine russische Frau Evdokia – Dunja auf moslemische Art „Dina“.
Er hat nie viele Gefühle gezeigt, war immer sehr schweigsam. Wenn meine Mutter ihn mit ihrem Gezeter auf die Nerven ging, dann legte er für eine Sekunde die Zeitung weg und sagte nur kurz: „Dumme Frau“. Danach nahm er seine Zeitung wieder zur Hand und vertiefte sich erneut in deren Lektüre. Zu Vorwürfen seitens meiner Mutter kam es deshalb immer wieder, weil er ihr nie im Haushalt half, obwohl sie sehr wohl verstand, dass er als Invalide eigentlich keine große Hilfe hätte leisten können. … Zu Hause machte deshalb die ganze Arbeit meine Mutter: sie heizte den Ofen mit Kohle, hackte Holz, holte mit dem Schulterjoch Wasser vom Brunnen, wusch die Wäsche, putzte das Haus und kümmerte sich um den Garten. Das alles machte sie ganz allein. Mir selbst hat sie nie etwas gezeigt oder beigebracht. So bin ich als Faulpelz groß geworden. Als ich dann Fedja Wolkow geheiratet habe, konnte ich einfach rein gar nichts. Doch aus eigener Erfahrung weiß ich jetzt, dass man alles, wenn man nur will (und die Hauptsache, wenn man es liebt), lernen kann. So habe auch ich alles gelernt.
Den Text ist uns von R.G. Wolkowa zur Veröffentlichung übergeben worden
Uebersetzt von Henrik Hansen
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