19 Dezember 2013| Machalowa Valeria Viktorowna

Sozialarbeit für die Front

Valeria Viktorowna Machalowa

Die Jahre vor dem Krieg

Ich wurde im Jahre 1937 in Wolsk, im Gebiet von Saratow, geboren. Meine Mutter Korotkowa, Evgenia Iwanowna hatte die ersten vier Schuljahre einer kirchlichen Grundschule besucht und war sehr belesen und gebildet. Unser Großvater, Iwan Iwanowitsch hielt eine Kuh, ein Pferd, fünf Ziegen und unendlich viele Hühner. Das Haus lag am Stadtrand gleich neben einem kleinen Flüsschen. Das Pferd und die Kuh verkaufte er später, die Ziegen jedoch behielt er, denn sie gaben gute Milch. Die eine Ziege, eine weiße, war kleiner als die anderen und kletterte immerfort auf das Dach seines Hauses. Zuerst stieg sie nur auf das Dach, dann aber auch noch auf den Schornstein. Immer wieder kamen dann die Nachbarn vorbei und meinten: „Väterchen Iwan Iwanowitsch, deine Ziege steht schon wieder auf dem Schornstein“. Er trat dann aus dem Haus heraus und sagte zu ihr: „Los komm runter!“ Sie aber rührt sich nicht vom Fleck. Ein zweites Mal sagt er zu ihr: „Komm da runter!“. Sie aber steht wie eine Eins. Daraufhin drohte er ihr mit der Faust und sprach ein drittes Mal: „Komm da runter, du Früchtchen!“. Wenn mein Großvater „Früchtchen“ sagte, dann hieß dies, dass er ärgerlich war und dass es besser ist, hinunterzuklettern. Und das tat dann auch.

Hinter dem Haus des Großvaters gab es eine asphaltierte Straße, der ein Damm folgte, auf dem die Eisenbahngleise entlangführten. Als der Krieg begann, begann man dort Soldaten zu „verladen“. Früher fuhr dort ein Regionalzug. Man nannte ihn „Kukuschka“. Er brachte Arbeiter zur Arbeit und wieder nach Hause zurück. Der Zug mit den Soldaten wurde neben dem Flugplatz zusammengestellt und dann bis zum Eisenbahnknotenpunkt Priwolskaja gebracht. Das war weit entfernt. Busse dorthin gab es nicht. Unsere Ziege hatte es sich nun zur Angewohnheit gemacht, zu den Soldaten auf die Bahnstation zu laufen. Dort gab ihr der eine ein Stück Zucker, ein anderer ein Stück Brot. Irgendwann dann hat  sie irgendwer mit auf das Dach des Zuges gehoben, sodass sie so mit ihren „Freunden“ bis nach Priwolskaja fuhr. Meine Tante ist dann bis dorthin gegangen, um sie zurückzuholen. Sie kam erst am Abend dort an und fand einen Kreis von Soldaten, die sich vor Lachen krümmten. In der Mitter des Kreises läuft die Ziege auf zwei Beinen, auf den Hörnern trägt sie einen Hut und zwischen den Zähnen eine Zigarette. Meine Tante wollte die Ziege mitnehmen, doch die Soldaten geben sie nicht her, sondern meinen nur: „Beweise uns, dass es deine Ziege ist!“ Meine Tante wandte sich daraufhin an den General. Diesem nämlich hatte mein Großvater ein Paar Stiefel genäht, und er kannte deshalb meine Tante Galina. Sie erzählte ihm alles. Der General trat heraus und befahl, dass man ihr die Ziege zurückgeben solle. „Lauft ein Stündchen spazieren. Ich fahre gleich zum Flugplatz — an eurem Haus vorbei. Ich bringe euch nach Hause“. So sind sie dann auch gefahren: vorne der General mit seinem Chauffeur, hinten Tante Galina mit der Ziege.

Am nächsten Tag hat sich die Ziege dann erneut auf dem Dach eines anderen Zuges aufgemacht und ist wieder bis zur Bahnstation Priwolskaja gefahren. Ein zweites Mal haben wir sie aber nicht mehr zurückgeholt. Mein Großvater meinte nur zu meiner Tante: „Lauf ihr nicht hinterher“. Die anderen Ziegen hat mein Großvater dann auch bald geschlachtet und das Fleisch in Salz eingelegt. Ich weiß noch, dass wir danach ständig Suppen aus gesalzenem Fleisch gegessen haben.

Mein Großvater war ein Gerber. Man holte ihn oft in die Lederfabrik als Berater – wie man es in moderner Weise auszudrücken pflegt. Er konnte bestimmen, was bei einer Farbzusammensetzung noch fehlte und was man noch dazugeben müsste. Er hatte auch einige Lehrlinge, denen er zeigte, wie man Leder glättet und es zum Glänzen bringt.

Mein anderer Großvater, der Vater meines Vaters, Denis Sergejewitsch hat als Brigadier gearbeitet. Er stand einer Gruppe von Bauarbeitern vor und hat die Arbeitsabläufe geleitet. Ich habe nur wenig von ihm in Erinnerung behalten. Im Krieg ist er dann gefallen.

Seine Frau, meine Großmutter Elena Kondratjewna hat nicht gearbeitet. Sie hat mit uns zusammen gewohnt. Sie war eine sehr gute Köchin und ihre Piroggen waren immer ein wahres Wunder. Man rief sie immer zu Hilfe, wenn zum Beispiel der Bischof unsere Stadt besuchte, damit sie für ihn eine richtige Fischsuppe koche und Piroggen backe. Der Bischof war immer sehr angetan und meinte, dass er noch nirgends eine bessere Fischsuppe als bei uns gegessen hätte. Wenn meine Großmutter zum Kochen der Fischsuppe gerufen wurde, schickte sie immer eine Frau, die ihr half, auf den Markt, damit diese dort Fischgräten kaufe. Daraus machte sie dann eine fette Fischbrühe und die Gräten warf sie dann den Hunden zum Fraß zu.

Mein Vater, Viktor Denisowitsch, hat in der Militärfachschule die Sanitätsausbildung geleitet. Er hat selbst Lötkolben gebaut, gelötet und auch den Offizieren beigebracht, wie es geht. Er wurde oft nach Schichany gerufen. Dort befand sich ein geheimes Werk, wo Versuche durchgeführt wurden. Er hat dann bei den chemischen Kampftruppen gedient.

Krieg. Die Organisation der Frauenkomitees.

Als der Krieg begann, kamen zu uns zwei Familien aus Moskau in die Stadt: die Ehefrau von Oberst Filatow (sie war 40-45 Jahre alt und hatte keine Kinder) mit ihrer Haushälterin und die Frau von General Karepin, Dora Grigorjewna, mit ihren beiden Kindern und der Großmutter. Die Großmutter war eine Russin, sie selbst jedoch war Jüdin. Sie war eine sehr schöne, kluge und gebildete Frau. Scheinbar hatte man sie extra aus Moskau fortgebracht, denn die Deutschen hatten besonders mit den Frauen von Offizieren und Kommandeuren wenig Nachsicht.

In Wolsk schuf Dora Grigorjewna einen Frauenrat und wurde dessen Vorsitzende. Meine Mutter war ihre Stellvertreterin. Der Frauenrat, das war eine gesellschaftliche Organisation, die es nur während des Krieges in Wolsk gab. Ihm gehörten etwa 50 Mitglieder an. Dora Grigorjewna teilte alle Frauen zu Arbeiten ein. So gab es zum Beispiel bei uns im Haus einen langen kalte Korridor, wohin sämtliche zerschlissene Wattejacken von Soldaten, die an der Front verwundet worden waren, gebracht wurden. Zu uns kamen dann die Frauen aus der gesamten Stadt und machten sich daran, die Jacken wieder zu flicken. Auf die Risse legten sie Watte und nähten dann ein Stück Stoff darauf. Die so geflickten Wattejacken wurden dann zurück an die Front geschickt. Die Schwester meiner Mutter Galina meinte, dass sie statt Wattejacken zu flicken, viel lieber Handschuhe für Heckenschützen nähen möchte. Das sind so spezielle Handschuhe mit zwei Fingern. Diese Arbeit war komplizierter und man konnte sie nicht mit jeder beliebigen Nähmaschine machen, nur mit einer „Singer“. Und eine solche „Singer“ hatten nur meine Mutter und meine Tante.

Die Frauen organisierten auch Konzerte. Dora Grigorjewna hatte eine schöne Stimme und konnte sehr gut singen. So sammelten die Frauen Geld für die Familien von Gefallenen, für die sie Kartoffeln kauften und sie ihnen dann ins Haus lieferten. Auf eine solche „Dienstreise“, um Kartoffeln zu besorgen, machten sich eines Tages auch meine Mutter und Tante Galina. Meine Mutter nähte unterwegs einen Rucksack aus dickem Wachstuch. Dieser war voller Geld und sie trug ihn auf dem Rücken. Sie hatten die Wolga bereits überquert und sollten im nächsten Augenblick schon das andere Ufer betreten, als meine Mutter plötzlich im Eis einbrach. Schwimmen konnte sie nicht. Sie versucht sich an den Rändern des Eises festzuhalten, doch das Eis bricht überall ab. Nur der Sack mit dem Geld hält sie noch an der Oberfläche. Meine Tante versucht ihr zu helfen, aber auch unter ihr beginnt das Eis zu bersten. Daraufhin legte sie sich auf den Bauch und kroch langsam zu dem Eisloch hin, in dem meine Mutter am Ertrinken war. Sie ergriff ihre Hand und zog sie aufs Eis. Der weitere Weg führte sie durch einen Wald. Sie laufen und von allen Seiten nähern sich ihnen Wölfe. Meine Tante ging voran und schlug mit einer eisernen Schöpfkelle gegen einen Blecheimer. Solange sie schlägt weichen die Wölfe zur Seite, sobald sie aber eine Pause macht, kommen die Wölfe sofort wieder näher. Nach dem Wald hatten sie nur noch ein Feld zu überqueren, um in das Dorf zu gelangen. Die Wölfe weichen aber trotzdem nicht zurück. Plötzlich erschien ein Hubschrauber am Himmel. Dort hatte man begriffen, dass die Frauen ganz von Wölfen umzingelt waren. Die Piloten gaben Schüsse ab und die Wölfe liefen auseinander. In Wolsk gab es zwei Kasernen (in der einen wurden Offiziere ausgebildet, in der anderen dienten Zeitsoldaten) und eine Hubschrauberschule, von der auch der Hubschrauber war.

Sie gelangten also in das Dorf und klopften an alle Häuser – vom ersten bis zum letzten. Niemand wollte ihnen ein Nachtlager gewähren. Die Kleidung meiner Mutter war ganz mit einer Kruste aus Eis bedeckt. Meine Tante meinte noch ein letztes Mal: „Schau, dort brennt ein Licht, lass es uns auch dort versuchen. Wenn man uns nicht einlässt, dann werden wir eben sterben“. Und so gingen sie und klopften. Ihnen öffnete ein junger Kerl. Er war der Förster und hatte nur ein Bein (das zweite Bein hatte er an der Front verloren). Er meinte nur zu ihnen: „Mensch Mädels, ihr hättet gleich zu mir kommen sollen. Hier im Dorf leben doch nur Kuluguren. Sie reichen dir nicht einmal ein Glas Wasser. (Der Glaube der Kuluguren hängt irgendwie mit den Altgläubigen zusammen). Sogar wenn sie zu einem Totenmal gehen, nehmen sie ihre eigene Tasse, ihren Löffel und ihren Pott mit“. Im Haus des Försters gab es einen russischen Ofen, eine eiserne Ofenplatte um ganzen Ofen und eine Steppdecke. Meine Mutter schickte der junge Mann auf den Ofen und meinte nur: „Komm mir von da ja nicht herunter“. Er kletterte in die flache Unterkellerung und holte Kartoffeln von dort herauf und meinte: „Brot habe ich nicht, dafür aber einen ganzen Haufen Kartoffeln. Er gab ihnen zu Essen und machte Tee. Meiner Tante trat er sein Bett ab und kümmerte sich die ganze Nacht um das Trocknen der Kleidung von meiner Mutter und meiner Tante. Bis zum Morgen war dann alles getrocknet. Am nächsten Tag standen sie auf und gingen die Kartoffeln besorgen. Es wurde immer schon vorher verabredet, in welches Dorf die Frauen gingen, um dort Lebensmittel zu kaufen. Dorthin schickte man dann einen Wagen. Der Frauenrat verfügte über einen. Der Fahrer war das sechzehnjährige Mädchen Katja.

Man schrieb das Jahr 1943. In der großen vierstöckigen Schule, die ich dann später auch besuchte, wurden auf allen Etagen deutsche Kriegsgefangene untergebracht. Über den Frauenrat wurde meine Mutter zur Arbeit mit den Deutschen eingeteilt. Wenn die Notwendigkeit bestand, fuhr meine Mutter mit ihnen in den Wald, um Holz zu beschaffen. Sie konnte kein Deutsch, erklärte alles auf Russisch, doch die Gefangenen verstanden sie schon. Es war frostig und kalt. Im Wald versank man manchmal bis zum Bauchnabel im Schnee. Es waren etwa zwanzig Deutsche. Von den Russen waren nur meine Mutter und der Fahrer zugegen. Den ganzen Tag wurde geschlagen, gehackt und gesägt und an der Straße zu Holzmieten gestapelt, scheinbar für Unterstände. Die Deutschen legten sehr ordentlich Stämme und Äste zusammen.

Nach der Arbeit im Wald brachte meine Mutter alle mit zu uns nach Hause, damit sie sich aufwärmen können. Wir hatten eine sehr große Küche mit einem russischen Ofen. Da stand auch ein Bett und unter dem Bett lagerten wir Kürbisse. Als die Deutschen die Kürbisse sahen, krochen sie auf den Knien und schrien: „Mütterchen, Kürbis! Mütterchen, Kürbis!“ Meine Oma, Elena Kondratewna, schlug ihnen mit einer Schöpfkelle auf die Finger: „Ihr Barbaren, wartet, haltet ein! Was seid ihr für Barbaren! Obwohl meine Großmutter nie Schreiben und Lesen gelernt hatte, war sie doch weise und gewandt. Sie wusste, dass meine Mutter hungrige Deutsche mit nach Hause bringen würde und hatte einen ganzen Eimer Kürbisse zubereitet. Sie brachte eine große Schüssel aus Emaille und holte aus dem Ofen einen eisernen Kübel voller gedünsteter Kürbisse. In diesen passte genau ein Eimer. Die Gefangenen saßen auf dem Boden, weil wir keine Hocker hatten und aßen die Kürbisse mit den Händen. Einige meinten: „Wir haben zu Hause auch Kinder, wir sind nicht schuld, wir wurden gezwungen“. Einige begannen zu weinen. Uns Kindern wurde nicht erlaubt, die Küche zu betreten. Wir öffneten die Tür aber trotzdem einen Spalt weit und schielten hindurch.

Deutsche, die zu Russen geworden waren

Einmal kam ein deutsches Flugzeug. Wir dachten natürlich, dass es nun Bomben abwerfen wird. Doch es flog weiter bis an den Stadtrand und warf einige Packen Flugblätter ab, die an die Wolgadeutschen adressiert waren. Darin wurden diese aufgerufen, sich mit der Wehrmacht zu verbinden und im Hinterland Anschläge zu organisieren. Nach diesem Vorfall haben sich die Stadtverordneten entschlossen, alle Deutsche bis hinter den Ural zu deportieren. Dabei waren es Deutsche, die man auch als Russen hätte ansehen können. Und es waren gute Leute dabei. Bei uns lebte zum Beispiel eine Familie: Iwan Iwanowitsch und Maria Iwanowna Krestjan. Ich weiß schon gar nicht mehr wie sie auf Deutsch hießen. Sie hatten zwei Kinder. Es waren sehr gute Menschen. Ich erinnere mich noch, wie damals noch niemand Hühner hielt, nur sie. Sie hatten viele Hühner und waren sehr fleißig und ständig am Arbeiten. Wenn Maria Iwanowna Brot backte, dann kam es oft vor, dass sie mit dem frischen Brot auf den Hof trat, es anschnitt und allen ein Stück abgab. Wir liebten ihr Brot, wir leckten uns alle Finger danach ab. Dann waren sie plötzlich fort. Ich weiß noch, wie Iwan Iwanowitsch einmal nach zwanzig Jahren, nachdem man sie weggebracht hatte, zurückgekommen ist. Er ist einfach nur gekommen und wollte wissen, wer nun in dem Haus lebt, in dem sie früher gewohnt hatten. Und es stellte sich heraus, dass es immer noch die gleichen Leute waren. Nichts hatte sich verändert. Wir stellten einen Tisch auf dem Hof auf und saßen alle beisammen. Er erzählte, dass man sie in eine Gegend mit nackten Felsen gebracht hatte, und das im Winter. Sie huben sich eine Grube aus und bauten dann auch drei Gewächshäuser, die ihnen dann sehr das Leben erleichterten. In dem ersten hatten sie gerade etwas ausgesät, im zweiten noch irgendwas gemacht, als sie im dritten schon ernten konnten. So konnten sie Gemüse verkaufen und Geld bei Seite legen, um sich dann später ein Haus zu bauen. Meine Mutter fragte, ob sie gedenken würden, zurückzukehren, aber seine Antwort war Nein, da sie am neuen Ort schon Wurzeln geschlagen hatten.

Die Kinder

Wir waren alle zusammen viele Kinder. Drei Geschwister , die vierte eine Nichte und dann noch zwei fremde Kinder. Das eine Mädchen, Joanna Budnikowa hatte man uns zugeteilt, als ein Zug aus Leningrad angekommen war, das durch die Blockade völlig eingeschlossen war. Das zweite Mädchen, Walja, war mit einem Zug mit Flüchtlingen aus Weißrussland gekommen. Von dort brachte man die Kinder gemeinsam mit ihren Müttern zu uns. Die Mütter wurden jedoch sofort weitergeschickt, in entlegene Kolchosen und Sowchosen, damit sie dort arbeiteten. Die Kinder steckte man in fremde Familien. Wir bekamen einen Jungen. Meine Mutter meinte nur, dass sie nicht wüsste, was sie mit ihm anfangen soll und wie man überhaupt mit Jungs umgeht: „Gebt uns lieber ein Mädchen, es können auch zwei sein!“ Eigentlich wurde jeder Familie nur ein Kind zugeteilt, wir bekamen so aber zwei. Insgesamt waren wir also 6 Kinder.

Die Nichte war schon 14 Jahre alt. Sie hat natürlich meiner Mutter sehr geholfen. Man gab uns einen halben Hektar Land. Ich weiß noch, dass wir Kartoffeln und Bohnen gepflanzt haben und an der Seite Kürbis. Früher war die Erde federleicht. Meistens haben wir weiße Kartoffeln gepflanzt, denn die waren reicher an Erträgen als die roten. Meine Mutter hat nur einen Eimer roter Kartoffeln gepflanzt, dabei schmeckte die rote Kartoffel besser. Hunger hatten wir nicht, weil wir ausreichend Kartoffeln hatten.

Dora Grigorjewna vermochte es, alles wunderbar zu organisieren. Sehr oft kochte sie Essen für alle Kinder der Stadt. Deshalb ist auch bei uns niemand an Hunger gestorben. Die gesamte arbeitsfähige Bevölkerung wurde zu irgendwelchen Arbeiten herangezogen. An den Rändern der Felder der Kolchose wurden Streifen mit Wald gepflanzt, damit die Saat nicht von den Feldern geweht wird. Auch meine Mutter und ihre Nichte halfen beim Pflanzen des Waldes: eine Reihe Kiefern, nach anderthalb Metern eine Reihe Akazien. Der Förster erlaubte es meiner Mutter zwischen den Baumreihen im Wald Kartoffeln zu pflanzen.

Wir bekamen aber noch ein weiteres kleines Stück Land, um dort Kohl anzubauen. Meine Mutter pflanzte den Kohl und grub zwischen den Reihen kleine Gräben, sodass, wenn der Wächter den Wasserhahn aufdrehte, immer ein wenig Wasser über das Beet floss und man so nicht ständig mit der Gießkanne laufen musste. Meine Mutter entfernte regelmäßig die untersten Blätter vom Kohlkopf und kochte daraus Kohlsuppe mit Bohnen. Die war immer so lecker, dass wir ganz mucksmäuschenstill waren, wenn wir sie aßen.

Auf den Gemüsefeldern gab es nicht so viel zu tun. Wir mussten nicht umgraben, dafür kam ein Traktor. Ich erinnere mich noch, dass ich, als ich gerade einmal sieben Jahre alt war, schon Eimer mit geschnittenen Kartoffeln zu meiner Mutter aufs Feld getragen habe, damit sie diese dort eingrabe. Wir alle halfen unserer Mutter, so viel wir konnten. Meine Mutter und ihre Nachbarin holten die Kartoffeln vom Feld. Sie spannten sich vor den Wagen, die eine vorn, die andere hinten. So brachten sie die Kartoffeln zuerst in die eine Familie und dann in die nächste. Es gab damals ja keine Autos. Alles musste man selbst transportieren. Der Kohl wurde in Fässern eingelegt, die Strünke, die zusammen mit den Wurzeln ausgegraben wurden, hängten wir direkt mit der Wurzel an die Decke (so überstand sie den Winter besser). Wir wohnten in einem aus Ziegel gebauten Haus, das einen großen Keller besaß, der einem Luftschutzkeller glich. Dort befand sich früher eine Tabakfabrik. Es gab immer noch die Ringe an den Wänden, an denen scheinbar einst der Tabak zum Trocknen aufgehängt worden war. Wir nutzten diese nun zum Aufhängen des Kohls. Während des Kriegens nähte meine Mutter viel, sie strickte und sie stickte. Sie konnte sowohl für Männer als auch für Frauen nähen, vom Schlüpfer bis zum Mantel.

Nach dem Krieg

1945 wurden die Deutschen weggeschickt und die Schule war so wieder frei, dass wir mit dem Lernen beginnen konnten. Zuerst lernten Jungen und Mädchen getrennt, dann wurden später gemischte Klassen eingeführt. Bei uns wurden alle Fächer unterrichtet, so auch Deutsch.

Als Deutschlehrerin hatten wir eine Frau, die an der Front gekämpft hatte. Sie war eine sehr schöne Frau, fast wie eine Puppe. Sie kannte die Sprache sehr gut, da sie an der Front als Dolmetscherin gearbeitet hatte. Sie hat uns so viel beigebracht, dass wir sogar Aufsätze auf Deutsch schreiben konnten. Ihr Mann war ein Künstler, der dem Alkohol sehr zugetan war und sich deshalb auf keiner Arbeitsstelle lange halten konnte. Überall jagte man ihn davon. Und so ist sie mit ihm in eine andere Stadt gezogen und wir haben sie verloren.

Unsere Geographielehrerin war schon eine ältere Dame. Sie hatte so einen langen Hals, weshalb die Jungs sie „Giraffe“ nannten. Ich habe das am Anfang gar nicht begriffen und gedacht, dass dies ihr Familienname sei. So habe ich es dann auch in mein Hausaufgabenheft geschrieben: „Giraffe, Klavdia Petrowna“. Das Hausaufgabenheft musste ich natürlich auch einmal abgeben. Als ich es wiederbekam war der Name „Giraffe“ durchgestrichen und „Tabatschnowa“ darübergeschrieben. Sie hat mir aber nichts weiter dazu gesagt.

Die Klassen waren sehr groß, bis zu 40 Schülern. Aber auch die Familien waren damals groß. Selten hatte eine Familie nur 1-2 Kinder, in der Regel waren es 3-4. Meine Mutter gehörte zum Schulrat. Für die Schüler wurden an Samstagen und Sonntagen Tanzabende organisiert, für die ein kleiner Eintritt erhoben wurde. Für diese Eintrittsgelder hat man dann für bedürftige Familien Mäntel, Filzstiefel oder Schulkleidung gekauft.

Joanna Budnikowa, die bei uns gelebt hat, wurde von ihrer Großmutter aus Leningrad ausfindig gemacht. Sie hatte einige Monate nach ihr gesucht. Zuerst war sie nach Saratow gefahren, wo man sie dann zu uns, zum Wehrkreiskommando nach Wolsk, geschickt hat, wo alle Listen auslagen. Von dort kam sie dann direkt zu uns nach Hause. Sie hat erzählt, dass ihre Tochter während der Blockade in Leningrad umgekommen sei. Sie nahm ihre Enkelin mit sich, meinte jedoch, dass sie niemals mehr in ihrem Leben nach Leningrad zurückkehren wird. Man gab ihr ein Zimmer in einer Kommunalwohnung. Sie kam jeden Tag zu uns und sagte immer wieder, dass wir nun ihre nächsten Menschen seien. Die Großmutter starb aber bald und Joanna fuhr daraufhin entweder nach Wolshsk oder nach Wolgograd. Das zweite Mädchen Walja — so dachten wir — bleibt bei uns. Doch als der Krieg zu Ende war, kam ihre Mutter und nahm sie mit sich.

Dora Grigorjewna verließ uns auch. Wie sie in einem Brief schrieb, wohnte in ihrer Wohnung in Moskau, als sie dorthin zurückkehrten, irgendein Mann aus dem Militärstab. Doch dieser packte sofort seine Koffer und verließ die Wohnung. In der Wohnung stand noch alles an seinem Platz, so wie an dem Tag, an dem sie evakuiert worden waren. Niemand hatte etwas mitgehen lassen.

Als mein Vater von der Front heimkam, hatte er immerfort den Eindruck, dass irgendwo Schüsse fallen. Zu Hause hatten wir keine Waffen. Dafür hatte meine Vater ein Stück Eisenbahnschiene mit nach Hause gebracht – für alle Fälle. Die Wände in unserem Haus waren anderthalb Meter dick. Einmal versuchten Einbrecher bei uns einzusteigen, um Lebensmittel zu stehlen. Sie versuchten sogar einzelne Ziegelsteine aus dem Mauerwerk herauszuschlagen, doch scheinbar waren sie so kräftig vermauert, dass die Diebe keinen Erfolg hatten. Die Tür war aus Eisen und wenn man sie berührte, donnerte es immer etwas. In diesen Momenten nahm mein Vater das Stück Eisenbahnschiene auf die Schulter und ging zur Tür. Wenn er dort ankam, war schon niemand mehr an der Tür. Dann später machten wir es anders: Mein Vater schloss ein Kabel an die Tür an und wenn jemand sie berührte, dann leuchtete bei uns eine Glühbirne auf. Deshalb wurde wir nicht ein einziges Mal ausgeraubt. Wir waren immer auf der Hut. Zu meinem Vater kam die halbe Stadt: Er reparierte Töpfe, Schlösser und nahm von niemandem auch nur eine Kopeke.

Er hatte eine sehr schlechte Meinung von den Polen. Er berichtete, wie sie in Polen in eine Einkesselung geraten waren. Einmal waren er und sein Kommandeur gemeinsam unterwegs, als ihnen ein Pole entgegenkommt: „Grüß dich, Pan“. Dieser ist einfach weitergegangen. Ein Glück, dass mein Vater sich instinktiv noch einmal umgedreht hat, denn der Pole wollte gerade schießen. Mein Vater meinte, dass er seinen Kommandeur umgestoßen und sich selbst zu Boden geworfen hat. Mein Vater hat auch erzählt, dass sie ein Schwein dabei hatten. Als sie einmal aus der Luft bombardiert wurden und sich alle versteckten, flüchtete auch ein Ferkelchen mit in ihren Unterschlupf. Dieses nahmen sie dann mit sich. Als das Ferkel dann schon groß geworden war und sie wieder aus der Luft bombardiert wurden, hielten die Soldaten eine Decke auf und das Schwein versteckte sich zusammen mit den Soldaten in einem Schützengraben. Es hat ihnen dann später sehr geholfen, denn als sie wieder einmal in einen Kessel geraten waren, habe sie das Schwein einfach gegessen.

Meine Mutter ging sehr oft ins Theater, kannte alle Opern und Operetten. Bei uns zu Hause wohnten zeitweise sogar Künstler und Sänger, denn meine Cousine Vera arbeitete als Leiterin im Hotel. Und oft war das Hotel voll ausgebucht, wenn Künstler in unsere Stadt kamen. Dann meinte sie nur, dass sie wisse, wo man noch übernachten könnte und gab den Künstlern die Adresse meiner Mutter. Bei uns blieben einmal Mitglieder der Tanzgruppe „Bolero“ über Nacht. In unserer Stadt gab es ein sehr gutes Theater. Ich weiß aber nicht, ob es heute noch existiert. Früher, als es noch in Betrieb war, habe ich da die „Hochzeit in Malinkowka“ gesehen.

Das Leben zu Friedenszeiten.

Nach dem Krieg beendete ich die Schule, begann ein Studium an einer Medizinischen Fachschule und fuhr dann in den Ural in die Stadt Asbest im Gebiet von Swerdlowsk. Dort habe ich 3 Jahre als Krankenschwester gearbeitet. Dann war ich 10 Jahre lang Oberschwester. Dort lebten viele Russlanddeutsche. Oft haben sie als Krankenschwestern gearbeitet. Sie haben in Baracken gewohnt. Mir fiel die Zusammenarbeit mit ihnen sehr leicht, leichter als mit Russen, weil man ihnen nur einmal sagen musste, dass eine Generalreinigung durchgeführt werden muss. Ein zweites Mal brauchte man es ihnen nicht zu sagen, denn sie hatten schon alles gründlich sauber gemacht. Russen dagegen musste man immer alles mehrfach sagen und sie immer wieder darum bitten. Ich erinnere mich noch an die Krankenschwester Shenja Zahn. Sie hat im Operationssaal gearbeitet, weil sie sehr auf Sauberkeit bedacht war.

Später dann zog meine Schwester Alewtina zu mir. Sie hat in einem Kindergarten als Kindergärtnerin gearbeitet. Nach 13 Jahren sind wir dann gemeinsam nach Balakowo umgezogen. Unsere Eltern sind in Wolsk geblieben. Mein Vater ist im Alter von 52 Jahren an Lungenkrebs gestorben. Nach dem Krieg hat er wieder in Schichany gearbeitet. Das liegt 14 km von Wolsk entfernt. Dort wurden Tests mit Chemiewaffen durchgeführt. Bei meinem Vater ist einmal während eines der viele Versuche unter dem rechten Schulterblatt der Schutzanzug geplatzt. Scheinbar hat er da von der gefährlichen Strahlung etwas abbekommen. Bei meiner Mutter bildeten sich, nachdem sie während des Krieges im Eis eingebrochen und kaltem Regen ausgesetzt war, unter der Haut immer wieder irgendwelche erbsengroßen Beulen – eine Art Allergie gegen Kälte. Sie hat sich dann immer sofort mit irgendetwas eingerieben. So ging es über viele Jahre. Später dann wurde es besser. Mit 63 Jahren ist meine Mutter dann an einem Schlaganfall gestorben.

Aufgeschrieben von Tatjana Aljoschina

Uebersetzt von Henrik Hansen
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