21 März 2014| Ogandshanjan Sergej Benikowitsch, Doktor der Technischen Wissenschaften

So wie im Gleichnis aus dem Evangelium

Erst als ich bereits in die Jahre gekommen war, habe ich das erste Mal das Evangelium zur Hand genommen. Eines der Gleichnisse ließ meine Erinnerungen damals wach werden und ich dachte an eine Geschichte aus dem Großen Vaterländischen Krieg zurück, die man sich in meiner Familie erzählte und die ich bereits während meiner Kindheit gehört hatte. Die Hauptperson in dieser Erzählung ist mein Onkel Suren Martirosowitsch Martirosjan.

***

Suren Martirosowitsch Martirosjan

Suren Martirosowitsch wurde 1911 in Tiflis (dem heutigen Tiblissi) geboren. Im Jahre 1938 hat er die Internistische Fakultät des Medizinischen Instituts von Jerewan mit Auszeichnung beendet. Danach bekam er eine Stelle als Hausarzt im Gebiet von Gukasjan in der Armenischen SSR. Bald vertraute man ihm dort die Leitung des Kreisgesundheitsamtes an. 1941 trat er dann in die Kommunistische Partei ein.

Ab Oktober 1942 kämpfte Suren Martirosjanowitsch an der Front. Er diente dort als Kommandeur der Lazaretteinheit der 89. Schützendivision von Taman.

Die 89. Schützendivision von Taman — Trägerin des Rotbannerordens und des Roten Sterns – ist eine der 6 armenischen Divisionen, die neben vielen anderen aus nationalen Wehrverbänden gebildeten Armeen zu den Streitkräften der UdSSR gehörten. Sie war am 14. Dezember 1941 in Jerewan (auf Beschluss Nr. 935 des Nationalen Verteidigungsrates vom 22.11.1941) als 474. Schützendivision formiert worden. Am 26. Dezember 1941 wurde sie dann in 89. Schützendivision umbenannt. Im Oktober 1943 wurde ihr für die geleisteten Kampfhandlungen der Ehrentitel „Taman“ zugesprochen. (Einem ihrer Heere war es unter dem Befehl von Oberst Erwand Karapetjan gelungen, die Verteidigungslinie des Feindes bei der Stadt Dolgaja auf der Halbinsel Taman zu durchbrechen). Die Division war vom 10. August 1942 bis zu 9. Mai 1945 an den Gefechten beteiligt, hat insgesamt einen Weg von 7250 km hinter sich gelegt, dabei 3640 km unter aktiven Kampfhandlungen. Das waren die Schlacht um den Kaukasus (1942-43), die Schlacht um Stalingrad (1942-43), die Offensiven von Rostow (1943), am Donbass (1943), auf der Krim (1944), die Befreiung von Sewastopol (1944), die Gefechte um Lwow-Sandomir (1944), die Schlacht und der Sturm auf Berlin (1945) und die Schlacht um Prag (1945). Die Division hat mehr als 900 Siedlungen befreit. Mehr als 12000 Kämpfer – die „Tamanen“ wurden mit Orden und Medaillen geehrt. 9 von ihren wurden zu „Helden der Sowjetunion“ ernannt. Während des Krieges hatten folgende Offiziere das Kommando über die Division: Oberst Semjon Sakian (15.12.1941 — 09.02.1942), Oberstleutnant, vom 16.10.1942 Oberst Andranik Sarkisjan (23.03.1942 – 01.11.1942), Oberst Artasches Vasiljan (05.11.1942 – 10.02.1943) und dann Oberst und vom 20.12.1943 Generalmajor Nver Safarjan (19.02.1943 – 09.05.1945).

Die 89. Division von Taman war die einzige aus den nationalen Verbänden der Roten Armee, die am Sturm auf Berlin beteiligt war. Dort hat sie eine starke Stellung der Deutschen im Humboldthain, im Zentrum der Stadt, zerschlagen. Für diese Operation wurde der Division der Kutusow-Orden zweiten Ranges verliehen. Großen Anteil am Erfolg der Einheit hatte ihr Kommandeur Generalmajor N. Safarjan. Wegen seines Vermögens, sich aus komplizierten Situationen immer wieder zu befreien, stets die richtigen Entscheidungen zu treffen und nicht zuletzt wegen seines persönlichen Mutes genoss er unter den Soldaten und Offizieren unbestreitbares Ansehen. Es waren Soldaten dieser Division, die mit ihrem Siegestanz, einem Kotschar (ein armenischer Volkstanz, der von vielen Männern zusammen getanzt wird), im Mai 1945 vor den Mauern des Reichstages für immer in die Geschichte eingegangen sind.

Nach dem Krieg kehrte die Division „Taman“ nach Armenien zurück und gehörte seit dem zu den Truppen des Kaukasischen Militärbezirks. 1956 wurde sie im Zusammenhang der Abschaffung nationaler Einheiten in der Sowjetarmee aufgelöst.

Den Weg der Division von Taman durch die Gefechte vom Kaukasus bis nach Berlin ist gemeinsam mit ihr auch Suren Martirosowitsch Martirosjan gegangen. Er hatte das Kommando über die Lazaretttruppe und war so – manchmal auch entgegen der Regel — direkt mit an der Feuerlinie. In den Tagen heftiger Gefechte war er nicht nur als einfacher Arzt im Einsatz, sondern auch als Chirurg. Wer, wenn nicht der Arzt Martirosjan hat mehr Menschen sterben und leiden sehen, wer hat mehr Blut gesehen? Doch darüber hat er uns nie etwas erzählt. Aus seinem Mund bekam ich, wenn man es so sagen kann, nur eine Geschichte von der Front zu hören. Später stellte ich mir die Frage, warum gerade diese Geschichte Suren Martirosowitsch im Gedächtnis geblieben ist – eine Geschichte, die sehr einfach ist und überhaupt nichts Heldenhaftes hat? Vielleicht weil sie einen guten Ausgang hat. Scheinbar war das für den Arzt das Wichtigste. Hier nun seine Geschichte:

In den letzten Tagen des Krieges tobten in den Vororten Berlins heftige Gefechte. In unserem Hospital lagen viele Soldaten mit schweren Verwundungen. 70 von ihnen konnten sich überhaupt nicht bewegen. Als die Deutschen, die zurückgedrängt worden waren, in tiefer Nacht begannen, wie wild das Lazarett unter Beschuss zu nehmen, brach im Gebäude ein Feuer aus und drei der Verwundete wurden erneut stark verletzt. Überall loderten Flammen und der Raum war voller Rauch. Ich und drei Untergegebene machten uns daran, die Verwundeten in das Kellergeschoss zu evakuieren. Wir hatten alle bis auf einen nach unten gebracht. Dieser war gerade einer von denen, die bei diesem Brand erneut verletzt worden waren. Wir konnten ihn in dem Rauch und bei diesem Beschuss aber einfach nicht finden. Wohin war er geraten, was war mit ihm passiert? Dann waren auf dem Hof des Hospitals plötzlich deutsche Stimmen zu hören. Wir konnten uns also aus unserem Versteck im Keller nicht mehr hervorwagen. Es dauerte aber nicht lange, als schon bald armenische Worte zu vernehmen waren. Soldaten unserer Division hatten unter der Führung von General N. Safarjan, den Feind, der bis auf den Hof des Hospitals vorgedrungen war, zurückgeschlagen. Als die Feuergefechte vorüber waren, machte ich mich auf, den Verwundeten, der uns verloren gegangen war, zu suchen. Was für eine übergroße Freude erfasste mich, als ich ihn am Leben fand. Er hatte sich in einer Ecke unter einem Bett verkrochen und begrüßte mich mit einem Lächeln: „Ich bin hier, Doktor!“

In dieser Geschichte beschreibt sich Suren Martirosowitsch gutherzig und schüchtern, ja sogar bescheiden. Scheinbar hat er überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem Helden, obwohl er viele Male dem Tod in die Augen gesehen hat und oft in aller Kürze jene grausame, jedoch einzig richtige Entscheidung hatte treffen müssen, von der das Leben vieler Verwundeter abhing.

Gerade an diese Geschichte habe ich mich damals erinnert, als ich das erste Mal im Evangelium das Gleichnis vom Hirten gelesen habe, der seine Herde zurücklässt, um sich auf die Suche nach dem einen verlorenen Schaf zu machen. „Wer von euch, der hundert Schafe hat, eines davon jedoch verloren hat, lässt nicht die anderen neunundneunzig in der Wüste zurück und macht sich nicht auf, um das eine verlorene Schaf zu suchen, bis er es dann gefunden hat? Wenn er es dann aber gefunden hat, dann nimmt er es voller Freude auf seine Schulter und ruft, wenn er zu Hause angekommen ist, seine Freude und Nachbarn zusammen: Freut euch mit mir, ich habe das verloren Schaf gefunden“ (Lk. 15,4-6). Vielleicht hat Suren Martirosjan dieses Gleichnis auch gar nicht gekannt oder sich nicht an es erinnert. Die Regung seiner Seele jedoch – Liebe und Verantwortungsbewusstsein – von denen er sich leiten lies, stehen ohne Zweifel in direktem Zusammenhang mit dem Sinn des Textes aus dem Evangelium.

Nach dem Ende des Krieges kehrte Suren Martirosjanowitsch mit seiner Division nach Armenien zurück. Dort hat er in einem Garnisonskrankenhaus seinen Dienst getan. 1950 wurde er zum Leiter der Abteilung für Innere Medizin im Krankenhaus der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland ernannt. Von 1954 bis 1964 diente er im Stab der 7. Gardearmee Armeniens. 1964 trat er mit dem Dienstgrad eines Oberstleutnants der Militärmedizin aus den Reihen der Armee aus und arbeitete bis 1978 als stellvertretender Leiter und dann als Leiter des 5. Medizinischen Universalkrankenhauses von Jerewan. Bis zum Ende seines Lebens galt  er als der beste Spezialist für Altersmedizin in Jerewan. Dort ist er im Jahre 1990 gestorben.

Suren Martirosowitsch wurde mit folgenden Auszeichnungen geehrt. „Orden des Vaterländischen Krieges — Zweiten Ranges“, zweimal der Orden „Roter Stern“, zwei Medaillen „Für Verdienste bei Gefechtshandlungen“, die Medaillen „Für die Verteidigung des Kaukasus“, „Für die Befreiung Warschaus“, „Für die Einnahme Berlins“, „Für den Sieg über Deutschland“, „Für hervorragende Arbeit im Großen Vaterländischen Krieg“ und andere. Er war ebenso Träger des Titels „Verdienter Arzt der Armenischen SSR“.

 

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

Comments (login)