30 November 2013| Scheljachowskaja (Gruzdewa) Maria Alexandrowna

Schon zwei Jahre getrennt

Alexander Iwanowitsch Gruzdew und Sofia Iwanowna Gruzdewa im Jahre 1937

Meine Altersgenossen und ich, die wir kurz nach dem Krieg geboren worden sind, hatten von klein auf an eine Ahnung davon, wie schrecklich der Krieg ist und was für schwere Zeiten er mit sich bringt. Wenn man jedoch nach einigen Jahrzehnten wieder zu den Briefen greift, die von damals noch erhalten sind, und sie einen nach dem anderen noch einmal liest, beginnt man zu verstehen, wie lange – wie unglaublich endlos — sich die Jahre damals für alle die hingezogen haben müssen, die an der Front waren, wie auch für all jene, die auf ihre Heimkehr gewartet haben – die Monate und Tage des Krieges, in denen alle von ihren liebsten Menschen getrennt waren …

1943, 7. März [von an A. I. Gruzdew an S. I. Gruzdewa in Totma]

Was die sinnlosen Gedanken und das Bedauern betrifft, hast du völlig Recht. Dass es Milch zu kaufen gibt, ist sehr gut. Für den Februar habe ich dir tausend Rubel geschickt, dann noch das Attest 600 und was man dir in der Schule noch so bezahlt. Ich denke, dass es dir für Milch reichen wird.

Viele tausend Mal ist es mir immer wieder klar geworden, was für eine wunderbare Seele dir gegeben ist. Wenn es ein Leben nach dem Tod geben und ich an es glauben würde, bräuchte ich mir auch nach meinem Tod keine Sorgen machen, denn ich könnte mir sicher sein, dass du auch weiterhin vernünftig und anständig leben wirst und in deinem Leben viel Nützliches tust.

Lass das Leben aber nicht „zu einer einzigen Sorge“ werden. Mach dich nicht wegen der Schule verrückt. Das musst du nicht, es hat keinen Sinn.

1943, 8 März [von S. I. Gruzdewa an die Front]

In der Schule scheint sich alle zum Besten zu fügen. Ich beginne, die Kinder zu begreifen, alle ihre Tricks und Schliche. Aber es muss auch gesagt werden, dass eine andere an meiner Stelle schon längst in Tränen ausgebrochen wäre und das Handtuch geschmissen hätte. Wie oft musste ich nach einer schlaflosen Nacht voller Schmerz im Herzen zum Unterricht gehen, ohne mich wenigstens ein wenig vorbereitet zu haben. Mir scheint es, dass es auch um meine Gesundheit etwas besser steht. Wir kaufen immerzu Milch und mit eisernem Willen trinke ich sie. Auch Valja gebe ich etwas ab, obwohl die Kinder sie eigentlich am nötigsten haben. Wir brauchen sie aber auch. Ich habe nur oft Kopfschmerzen, fühle mich schwach und bin schnell kraftlos. Wir essen immer noch unsere getrockneten Kartoffeln, Rote Beete und Pilze.

1943, 12. März [von S. I. Gruzdewa an die Front]

In der letzten Zeit fühle ich mich besser, obwohl ich nicht weniger arbeite. Ich habe mich aber irgendwie daran gewöhnt und es ist schon nicht mehr so schwer. Ich muss aber oft des Nachts noch sitzen, denn am Tage stören die Kinder. Ab 8 Uhr bin ich dann  schon so müde, dass ich mich erst einmal etwas hinlegen muss, um dann nachts wieder aufzustehen. Ich habe Kopfschmerzen.

Meine Hand merke ich immer noch etwas, obwohl ich bereits Holz kleinschlage und auch schon gesägt habe. Bei uns zeigen sich die ersten Anzeichen des Frühlings. Bald sind es zwei Jahre, die wir uns nicht gesehen haben. Oh mein Gott, es scheint mit eine Ewigkeit zu sein!

1943, 18. März [von S. I. Gruzdewa an die Front]

Bei uns ist alles beim Alten. Am 16. habe ich vor den Bildungsbürgern der Stadt einen Vortrag gehalten über das Thema „Das Heldentum des Bürgerkrieges in der Literatur“. Dem Publikum hat es gefallen – ich habe begeisterte Reaktionen erhalten. In der Schule ist jetzt auch alles viel besser geworden, obwohl mich vieles an meiner Arbeit noch immer unzufrieden macht. Es gelingt mir nicht, zu den Kindern den nötigen Kontakt herzustellen. Aber ich leide nicht mehr darunter. Ich habe es generell gelernt, mich weniger dem Leiden hinzugeben und nicht den Mut zu verlieren. Ich mache nun alles viel langsamer, dafür aber energischer.

Es ist furchtbar, dass man nun weniger Milch für sein Geld bekommt. Ich bin aber guter Hoffnung, dass wir noch irgendwo Milch auftreiben können. Seit den letzten zwei Tagen beginnt Natascha schon wieder zu kränkeln. Sie klagt über Kopf- und Bauchschmerzen. Ich kann mich aber auch nicht gerade bester Gesundheit rühmen.

Ich muss viel Vertretung machen. Viele Lehrer sind krank. Dabei habe ich auch meine eigenen 20 Stunden in der Woche – und dann auch noch die Klassenleitung, Versammlungen und vieles andere. Valja hat 16 Stunden. Sie hat viel versäumt wegen des Kleinen. Er hat die Krätze und wird deshalb in der Krippe nicht genommen.

1943, 25 März [von A. I. Gruzdew an S. I.  Gruzdewa in Totma]

Meine liebe Sonjuschka. Ich habe heute deine Briefe vom Februar noch einmal gelesen. Ich begreife, dass dir das Leben nicht leicht fällt. Man muss natürlich alles dafür tun, dass es mit der Arbeit besser geht. Von einem jedoch sollte man sich immer zurückhalten – von sinnlosen Sorgen.

In den letzten zwei Wochen haben wir wunderbares Wetter. Tagsüber klettert das Thermometer sogar bis auf 10 Grad plus. Die Nächte sind ungewöhnlich klar und frostig. In Erwartung ernsthafter Gefechte haben wir mehr Freizeit als gewöhnlich.

Gerade eben, während ich diesen Brief an dich hier schreibe, habe ich gemeinsam mit meinen Kammeraden einen Zyklus von Vorträgen geplant. Einer meiner Untergebenen ist ein Regisseur. Er ist auch Komponist. Posdnjakow sein Name. Er wird einen Kurs mit Vorträgen zur Musikgeschichte halten. Ein zweiter – ein Künstler – wird über die Geschichte der Malerei und der Skulptur sprechen (Er ist ein Bildhauer). Ich selbst habe Literaturgeschichte gewählt. Ein Ingenieur wird über die Geschichte der Technik und ihren Einfluss auf die Kulturgeschichte lesen. Ein ehemaliger Schuldirektor hält einen kurzen (einen sehr kurzen) Vortrag über die Geschichte der Pädagogik, ein ehemaliger Verkäufer erklärt uns die Richtlinien für Verpackungen und die Frischhaltung von Obst. Einer meiner Assistenten spricht über die politische Arbeit mit den Massen und ihre Ergebnisse im Gebiet von Kostroma. Eine Tippse (sie ist bei mir ein Mann) wird über die allgemeinen Prinzipen der Schlamperei auf dem Gebiet der Sportbewegung (oder der Sowjetische Sport und seine Schmarotzer) sprechen.

Wenn diese Vortragszyklen gehalten sein werden – obwohl es dazu wohl nie kommen wird – werden wir alle eine sehr breit angelegte Allgemeinbildung haben.

1943, 31. März [von A. I. Gruzdew an S. I. Gruzdewa in Totma]

Meine geliebte Sonjuschenka. Ich möchte dir von dem Verfall der Sitten und dem Verlust der Achtung vor dem Allerheiligsten während des Krieges berichten. Du hast schon von den Freuden der willensschwachen Wollüstlinge geschrieben: „der Krieg radiert alles aus“. Natürlich kann er alles ausradieren. Im selben Moment vernichtet er aber auch die Reinheit des Gefühls.

Nein, ich kann mir keine Vereinigung ohne ernsthafte und tiefe Empfindungen für einander vorstellen. Ich kann mir nicht ausmalen, jemals jemandem besseren (in jeglicher Hinsicht) als dir zu begegnen. Ich selbst habe dich erwählt, wir sind zusammen aufgewachsen, haben zusammen so viele Ideen bewegt und gemeinsam so vieles erlebt, dass ich mir mein Leben ohne dich nicht vorstellen kann.

Unsere Beziehung ist so tief und zart und voller Anmut, dass mir all das, was sich hier vor meinen  Augen abspielt, nur als irritierende Grobheit erscheint. Es ist eine Verrohung der Gefühle. Oh Gott, wie sehr möchte ich euch sehen, dich und Natascha!

1943, 31. März [von S. I. Gruzdewa an die Front]

Die Versorgung mit Milch ist unterbrochen. Wir werden uns wohl nach einer anderen Quelle umsehen müssen. Wir hoffen aber, dass in Kürze auch unsere eigenen Ziegen tragend werden und selbst Milch geben. Leider werden wir uns aber noch anderthalb Monate gedulden müssen.

Was den Garten betrifft, kann ich dir folgendes berichten: Im letzten Jahr haben im gesamten Haus nur zwei Familien gewohnt. So haben wir uns den Garten geteilt. Jetzt sind wir aber 5 Familien und deshalb steht uns statt der Hälfte nur ein Fünftel des Gartens zu. Außerdem hatten wir ein Stück Land außerhalb der Stadt, das wir aber ohne einen Mann nicht umgraben können. Wir haben bisher auch noch keine Saatkartoffeln. Etwas aus Leningrad zu erbitten, kriege ich irgendwie nicht übers Herz. Es kann auf dem Weg hierher verloren gehen, irgendwer kann es sich da selbst unter den Nagel reißen. In der Tat möchte ich dort niemandem Schwierigkeiten machen.

Es ist wahr, man sollte sich in jedem Augenblick darum bemühen zu leben und das „Heute“ mit Licht zu erfüllen, ja, es das Beste werden lassen. Wenn es aber so bestimmt ist, dass wir einander Ade sagen müssen (das ist nur möglich in dem Fall, wenn einer von uns sterben wird) – dann lebe, Sascha, das Leben in all seiner Fülle! Ich gebe dir deine Worte zurück, die du mir vor zwei Jahren zum Abschied mit auf meinen Weg gegeben hast: Möge ich dir nie im Wege stehen – sei es lebendig oder aber tot. Wenn ich sterben sollte, dann lebe zusammen mit denen, die am Leben sind! Freue dich, liebe und sei glücklich. Das wird für mich der beste Trost sein.

Die letzten Zeilen bedeuten aber nicht, dass ich mich aufmache zu sterben. Im Gegenteil! Ich möchte so wie Turgenjew laut rufen: „Sei willkommen Frühling! Seid gegrüßt Leben und Glück! (Oder sollte ich doch lieber Ade sagen?) Alles kann eintreten. Bleib du nur gesund, bleib wohl auf und werde nicht krank!

1943, 4. April [Aus dem Tagebuch von S. I. Gruzdewa]

Ich würde mir sehr wünschen, dass Sascha irgendwann einmal diese Zeilen lesen könnte. Denn eigentlich schreibe ich sie nur für ihn und für mich. Ich habe ja niemanden, dem ich erzählen kann, was ich fühle, weil ich dies alles nur einem Menschen anvertrauen kann, der stärker ist als ich. Valja hat noch viel weniger Kraft als ich und andere mir nahe stehende Menschen habe ich nicht. Dabei möchte ich einfach nur jemandem sagen, dass es mir sehr sehr schlecht geht. Ich habe keine Kraft. Ich bin heute wie immer zum Fluss gegangen, um Wasser zu holen. Dabei wäre ich fast ins Wasser gefallen. Ein Eimer hat sich vom Schulterjoch gelöst. Ich hatte dann einfach keine Kraft mehr, den Eimer auf die Schulter zu heben. Zu Hause habe ich nichts gesagt. Es kann ja doch kein Anderer diese Arbeit machen, wem soll ich da mein Leid klagen.

Ich habe schreckliche Kopfschmerzen. Aber auch mein Rücken und meine Brust tun mir weh. Mir ist schwer ums Herz. Ich möchte mir einfach nur eingestehen, dass ich überhaupt nicht so viele Kräfte habe, wie es scheint. Lebe ich etwa nur von der Hoffnung auf ein glückliches Leben mit Sascha? Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er am Leben bleibt. Wenn er und ich, wir beide am Leben bleiben, wird dies wie ein zweites Leben sein – ein Traum, den man kaum zu glauben wagt. Das alte Leben jedoch ist zu Ende. Ich denke sehr oft – warum sollte ich nicht überleben und mich aufrichten – auch wenn die Arme und Beine voller Blei sind und man sich nicht mehr vom Bett erheben kann.

Ich habe lange nicht mehr geweint. Ich möchte ausruhen. Ich möchte, dass irgendwer begreift, dass auch ich es schwer habe, dass ich oft an meinen Vater denke, den ich nie wiedersehen werde, dass ich endlich ein Kämmerchen für mich allein brauche, weil es mir so schwer fällt, immer unter Menschen zu sein, ja sogar die Anwesenheit eines Einzigen kann ich kaum ertragen.

Die Väter der Kinder, die ich unterrichte, kämpfen für mich und es ist meine Pflicht, dass ich ihren Kindern etwas beibringe. Ich habe kein Recht darauf zu jammern und nichts zu tun. Doch es ist mir alles viel zu viel. Dieser Krieg – möge er verdammt sein! Man muss es lernen, ganz im Heute zu leben, es im Licht des Morgen scheinen zu lassen und es mit den Erfahrungen des Gestern zu meistern. Ich bemühe mich mit aller Inbrunst darum. Manchmal gelingt es mir nicht, oft schaffe ich es nicht.

1943, 19. April [von A. I. Gruzdew an S. I. Gruzdewa in Totma]

Deine letzten Briefe sind sehr betrüblich. Ich habe nicht vor zu sterben oder mich von jemandem erschießen zu lassen. Meine Gesundheit ist bisher noch ganz in Ordnung. Für dich ist es schwerer. Wir werden hier gut verpflegt und eingekleidet. Uns unsere Behausungen irgendwie halbwegs komfortabel zu gestalten, haben wir auch gelernt. Ich befürchte, dass mein unterirdisches Zimmer, dass ich mir vor kurzem eingerichtet habe, besser ist als deins.

PS: In der Leningrader Prawda vom 16. 4. 43 hat irgendwer ein paar gute Zeilen über mich geschrieben. Ich weiß aber nicht, wer es war. 

1943, 26. April [von S. I. Gruzdewa an die Front]

Deine Briefe sind immer noch voller Liebe und tiefer Zärtlichkeit, du empfindest Begeisterung für mich wie ein junger Bursche — wie vor 10 Jahren. Erinnerst du dich noch, mein Liebster, an unseren Frühling im Jahre 33. Es scheint, dass es eine Ewigkeit her ist. Was ich für dich empfinde, hat Nekrassow in seinen Worten über Darja am besten ausdrücken können: „Ich fürchtete, ihn anzusprechen, so habe ich ihn geliebt! …“ Was die Sitten der Kriegsjahre betrifft, hast du Recht. Ich habe lange nichts bemerkt, weil ich einerseits ein sehr zurückgezogenes Leben geführt habe und es andererseits auch einfach nicht glauben wollte.

Jetzt verbringe ich die Hälfte des Tages in der Schule. Ich bin viel zusammen mit den Lehrern und den Eltern und mir kommen erschütternde Dinge zu Ohren — und diese in einem sehr umfangreichen Ausmaß. Es sind natürlich die Zeichen der Zeit. Das ist verständlich. Denke jetzt nicht, dass ich, wenn ich dafür Verständnis zeige, es auch gleichzeitig gutheiße. Wir haben beide nicht nur einmal darüber gesprochen, dass wir das, was uns beiden ganz persönlich wertvoll und heilig ist, durch alle Anfechtungen hindurchtragen können, weil wir es beide für nötig erachten. So werden wir es auch schaffen. Ich glaube an dich Sascha. Hab auch du Vertrauen zu mir. Ich werde dich nicht betrügen. Wenn wir uns doch nur sehen könnten!

Ich schreibe dir schlechte Briefe, Saschenka. Ich bin sehr erschöpft. Mit meiner Gesundheit, besser gesagt mit meinen Symptomen, steht es wieder schlechter. Es ist auch sehr schwierig, Zeit zu finden. Ich bin den ganzen Tag unter Leuten, sowohl in der Schule als auch zu Hause.

Seit heute haben wir noch ein Problem mehr. Valja liegt im Krankenhaus. Sie muss operiert werden. Ich muss ihre 10. Klasse übernehmen und auch alle Arbeit im Haushalt. Es kommt zwar ihre Großmutter vorbei, um mir zu helfen, aber trotzdem ist es sehr schwer.

In der Schule hat sich das Leben mehr oder weniger gut eingespielt, obwohl mich meine Arbeit wie auch früher schon nicht befriedigt. Trotzdem habe ich mir so einige Kniffe angeeignet, die mir helfen, der Dinge Herr zu werden.

Was deine Bitte bezüglich Nataschas betrifft, möchte ich dir sagen, dass die Kinder jetzt ganz allgemein sehr grob geworden sind. Sie sind gereizt und voller Bosheit. Für all das lässt sich natürlich eine Erklärung finden. Ich werde natürlich mit ihr reden. Aber dafür ist immer nur mal zwischendurch Zeit und natürlich ist das völlig unbefriedigend.

Sie ist sehr auf meine Zärtlichkeit angewiesen, doch so selten bekommt sie sie zu spüren. Morgens geht sie in den Kindergarten. Wenn sie abends nach Hause kommt, geht es ganz schnell ins Bett, denn für die ganze Truppe hier sind anderthalb Stunden nötig, bis alle im Bett liegen. Dann muss ich noch arbeiten und mich vorbereiten.

In der Schule bekomme ich etwa 500 Rubel. Jetzt habe ich mit der 10. Klasse 24 reguläre Stunden. Und dann noch die Klassenleitung. Es ist schade, dass überhaupt keine Zeit bleibt, um mich vorzubereiten. Am Tag bin ich in der Schule, am Abend habe ich die Kinder. Gegen 8 oder 9 Uhr bin ich dann schon so erschöpft, dass ich kein Buch mehr aufschlagen kann. Für die zehnte Klasse muss ich Nachtschichten einlegen.

1943, 1. Mai [von S. I. Gruzdewa and die Front] Nr. 1

Wir haben die Maifeiertage. Wie viele zärtliche Erinnerungen aus meiner Jugendzeit verbinde ich mit diesen Tagen! Kannst du dich, mein Liebster, noch an unsere Maitage erinnern, als wir Studenten waren? Und dann die Mainächte in Leningrad? Ach Sascha, mein Sascha, wie glücklich wir damals waren! Wie gut, dass wir es immer gefühlt haben! Vielleicht waren wir deshalb noch glücklicher.

Jetzt ist es Abend. Die Kinder schlafen. Valja ist im Krankenhaus. Die Operation ist gut verlaufen. Sie fühlt sich ganz gut. In zwei Wochen wird man sie entlassen.

In der Schule fand ein festlicher Abend statt. Ich bin für eine Stunde hingegangen. Während des künstlerischen Teils gab es eine Aufführung. Ich habe die Legende vom heißen Herzen Danko erzählt. Die Kinder haben voller Aufmerksamkeit zugehört. Auch die Lehrer haben sehr zufrieden reagiert. Auf einem feierlichen Empfang danach hat mir die Direktorin der Schule ein herzliches Dankeschön übermittelt — für meine gewissenhafte Arbeit und mein feinfühliges Verhältnis zu den Kindern meiner Klasse. Mir scheint es aber, dass ich dieses Lob nicht verdient habe. Ich habe ja nichts besonderes geleistet, ja sogar ganz im Gegenteil, ich hätte viel mehr machen müssen. Wenn es sich so fügt, dass ich auch im nächsten Jahr hier noch arbeiten werde, dann werde ich versuchen, es besser zu machen.

Am Vormittag war ich im Kindergarten zu einer kleinen Matinee. Natascha hat einen tadschikischen Tanz aufgeführt. Man hat den Kindern etwas zugesteckt und ihnen Tee mit Milch gegeben. Mit einem Wort, die Kinder waren zufrieden.

Die exakte Größe von Natascha beträgt jetzt 1 m und 2 cm. Sie hat dir heute einen Brief geschrieben. Ich habe ihn aber noch nicht gesehen. Sie hat ihn während meiner Abwesenheit verfasst, als ich in der Schule war.

Ich arbeite jetzt mit der 10. Klasse. Der Unterricht mit ihnen bringt mir richtige Freude. Sie hören mir sehr aufmerksam zu, ja die ganze Klasse bleibt nach dem Unterricht noch da. Ich muss nur zu ihnen kommen und etwas erzählen. Das Thema bisher war „Die Literatur der Völker der Sowjetunion“, jetzt werden wir uns aber Shakespeare und Goethe zuwenden.

Nataschenka geht es jetzt besser. Die Verpflegung  im Kindergarten ist reichhaltiger geworden. Ich kann leider nichts Besonderes von mir berichten. Ja, ich kann sagen, dass mir, obgleich Krieg herrscht, nichts weh tut, dass ich dafür aber völlig kraftlos bin.

Wie kommt es, dass einige Männer Heimurlaub bekommen und ihre Familien besuchen, du aber nicht? Das Fährschiff von Wologda ist ganze vierundzwanzig Stunden unterwegs. Dafür muss man sich in den Zug mit Ellenbogen durchkämpfen, um irgendeinen Platz auf dem Schoß eines anderen zu ergattern.

1943, 4. Mai [von A. I. Gruzdew an S. I. Gruzdjewa in Totma]

Hier bei mir ist alles beim Alten außer der Tatsache, dass ich wieder einmal befördert worden bin. Das bedeutet, dass ich jetzt andere Schulterstücke trage, die nun ein Majorsstern ziert.

Du schreibst, dass man dich für deine Arbeit lobt. Das ist doch völlig richtig. Auch ich habe dir nicht nur einmal darüber geschrieben, aber du hast scheinbar meine Äußerungen nie richtig wahrgenommen. Auch jetzt schreibst du, dass du solchen Dankesbekundungen keine Beachtung schenkst. Ich sage dir aber, dass du damit im Unrecht bist. Jeder Mensch sollte es vermögen, die Qualität seiner Arbeit selbst halbwegs einzuschätzen, ohne sie als geringer zu erachten, als sie ist. Wenn du selber siehst, dass du nicht schlechter, sondern besser bist als andere, dann solltest du die Bedeutung deiner Arbeit nicht herunterspielen. Viele Menschen schauen auf deine Arbeit mit deinen Augen, weil sie sie überhaupt nicht sehen oder nicht sehen können. Wenn du immer nur über die Mängel deiner Arbeit sprichst, dann können andere denken, dass es außer Mängeln nichts anderes an deiner Arbeit gibt.    

Mir ist gerade ein Gedanke gekommen, dass du vielleicht mit dem Institut in Kontakt treten solltest, um zu erfahren, wie es bei ihnen aussieht. Ich befürchte, dass du sonst völlig aufhörst, etwas für deine geistige Bildung zu tun.  Es reicht schon, dass ich für die Wissenschaft bereits verloren bin. Ich denke ernsthaft darüber nach, ob ich nicht eine Laufbahn beim Militär einschlagen sollte.

Meine Überlegungen bezüglich des Wechsels meiner Arbeit hängen damit zusammen, in Zukunft Material für eine Dissertation über ein Thema zu sammeln, das Geschichte und Militärwesen verbindet. Auf jeden Fall ist eine Dissertation auf dem Gebiet der Militärwissenschaft völlig real. Ja, es ist natürlich schade, der Literatur den Rücken zu kehren. Man kann mit ihr aber kein Geld verdienen, obwohl sie geistig viel viel reicher ist als andere Gebiete.

Wie unterrichtest du die Kinder eigentlich ohne Papier?

1943, 7. Mai [von A. I. Gruzdew an S. I. Gruzdewa in Totma]

In allen deinen Briefen, Sonja, schreibst du, dass Natascha so dünn ist. Mir scheint aber, dass neben besonderen Gründen ein dünner Leib auch mit dem Wachstum zusammenhängt. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, dann weiß ich noch, dass ich im Alter von 6-9 Jahren extrem dürr war und so ein kränkelndes blasses Kind war. Wegen letzterem — das erinnere ich noch sehr genau — war ich oft sehr unzufrieden, da alle meine Altersgenossen rosafarbene Pausbacken hatten. Um ihnen ähnlich zu sein, rieb ich meine Wangen an irgendeinem rotabfärbenden Papier. Ich kann mich noch erinnern, dass ich oft krank war und alle Krankheiten hintereinander hatte. Besonders schwer tat es mir mein Magen. Übrigens hat man meinen Magen gewöhnlich mit einer halben Teetasse dickflüssiger Lauge aus Speisesalz zu heilen versucht, die ich immer trinken musste. Daraufhin musste ich mich auf den Bauch auf den heißen Ofen legen und all das geduldig über mich ergehen lassen. Das Liegen auf dem heißen Ofen hat mich im Nu wieder gesund werden lassen.

Mit 16-17 Jahren hatte ich dann irgendwoher plötzlich Kräfte und sogleich so viele, dass ich mich selbst wunderte. Ebenfalls wunderte es mich, dass die rosafarbenen und wohlgenährten Jungs dann doch keine Recken geworden sind, sondern dass ich plötzlich mit 18 Jahren einer der kräftigsten Jungen in unserem Dorf war. Seitdem kann ich mich — so auch bis jetzt — über meine Gesundheit nicht beklagen.

Ich würde mir wünschen, dass auch mit Natascha eine solche Metamorphose vonstatten ginge, auch wenn sie nicht dem männlichen Geschlecht angehört.

Du, meine Liebe, bist sehr erschöpft und mit deinen Nerven am Ende. Ich möchte Valja gerne noch mitgeben, dass man sich keine größere Absurdität ausdenken kann, als die Suche nach dem Grab eines Soldaten. Erstens gelingt es nicht immer, alle Gräber in einem guten Zustand zu bewahren. Zweitens muss man ein ausgezeichneter Geograph sein, um einige der Gräber wiederzufinden (man kann sich doch vorstellen, dass es hier keine Friedhöfe gibt, auf denen schon seit Jahrhunderten die Leute auf angelegten Wegen zu bewachten Gräbern gelangen).

Ein weiteres ist die Frage, wem diese Fahrten nützen sollen. Warum? Das beste Gedenken an einen Toten ist doch ein gutes Wort über ihn unter den Lebenden. Das ist auch aus religiöser Sicht irgendwie verlockender und schöner. Du, meine Liebste, hast tausendmal Recht: Man muss mit den Lebenden leben. Was für ein Glück, Sonja, dass wir nichts zu bereuen haben wegen irgendwelcher vergangenen Beziehungen. Wir sind nicht schlauer als andere, doch wir haben uns wahrhaftig geliebt und lieben einander. Darin besteht auch der ganze Reiz eines Familienlebens.

1943, 9. Mai [von A. I. Gruzdew an S. I. Gruzdewa in Totma]

Nun, mein Täubchen, morgen wechsle ich meinen Posten. Ob ich dort zurechtkommen und die Arbeit packen werde? Ich habe eine Arbeit gewählt, die mit dem Beschreiben des allgemeinen historischen Sinnes der Arbeit zu tun hat. Meine „Werke“ werden Leute lesen, die im militärischen Sinne richtige Fachleute und sehr einflussreich sind. Bisher schreibe ich immer in allen Formularen, dass ich keine militärische Ausbildung habe. Was auch kommen mag, die Frage ist entschieden. Ich werde weiter ins Hinterland versetzt. Das wird dich sicherlich freuen, doch ich persönlich bedauere es wegen der Gefechte und meiner Kameraden, die ich hier zurücklasse. Da wir es jetzt sind, die angreifen, herrscht eine angenehme aufgeheizte Atmosphäre.

Wenn ich mit meiner Arbeit zurechtkomme, dann eröffnen sich mir ziemlich interessante Perspektiven. Material, wenn man es so sagen darf, ist für eine Dissertation zu einem Doktor der Militärwissenschaften mehr als genug vorhanden. Was es doch für unerwartete Wendungen gibt. Innerhalb von zwei Jahren Krieg bin ich vom Unterleutnant bis zum Major aufgestiegen und für meine Arbeit zwei Mal mit staatlichen Auszeichnungen geehrt worden.

Deshalb mache dir um mein Schicksal keine Gedanken mehr. Auch mein altes Aufgabenfeld werde ich nicht aufgeben. Da habe ich bereits einiges erreicht. Natürlich werde ich auch kämpfen auf diesem Posten, es wird Fußmärsche geben und militärische Strukturen. Solange ich jedoch auf diesem Posten bin, werde ich weniger marschieren müssen. Bei all diesem reizt mich eine einzige Sache: eine Arbeit mit einer wissenschaftlichen Ausrichtung, wenn auch ohne die Lektüre einer Unmenge von Büchern.

Ich schreibe bei großem Lärm. Verzeih deshalb bitte das Chaos in meinen Zeilen.

1943, 10. Mai [von A. I. Gruzdew an S. I. Gruzdewa in Totma] Nr. 5

So, meine Liebste, ich bin auf meinem neuen Posten angekommen. Dich wird es jetzt eher schlechter treffen, denn du wirst weniger Geld erhalten, weil man hier für die Verpflegung bezahlen muss und auch das Haareschneiden und Rasieren hier aus der eigenen Tasche zu begleichen sind. Gerade ist meine Stimmung etwas am Boden. Ich denke mit Bedauern an meine Kameraden von der Front. Unter ihnen habe ich mehr Freunde finden können, als ich es mir vorstellen konnte. Als sie erfahren hatten, dass ich von ihnen gehe, wollte jeder von ihnen mir ein gutes Wort mit auf den Weg geben und mir zeigen, dass er mich mag. Das drückte sich ganz konkret darin aus, dass mir alle um die Wette ein Gläschen Wodka eingegossen haben, obwohl wir seit dem 1. 5. 43 keinen Wodka mehr ausgehändigt bekommen. Es scheint, dass es jetzt überall keinen Wodka mehr gibt.

Als ich jedoch zu jedem meiner Kameraden kam, wurden von irgendwoher das bekannte Fläschchen oder eine Feldflasche hervorgeholt und wir haben mit einem kleinen Gläschen angestoßen. Hier kann man natürlich schon nicht mehr trinken, weil hier niemand Wodka ausschenkt.

Meine neue Adresse ist: Feldpost 72572A.

1943, 18. Mai [von A. I. Gruzdew an S. I. Gruzdewa in Totma] Nr. 8.

Meine Teuerste! (ich liebe diese Worte, weil ich außer Natascha nur dich noch so nennen kann).

Ich habe alle deine Briefe aus dem Jahre 1941 noch einmal durchgelesen und es scheint mir, dass ich dich erst während des Krieges wirklich begriffen und so richtig schätzen gelernt habe, was ich an dir habe. Viele meinen, dass alle Frauen von Natur aus dazu neigen, „fremdzugehen“ (wenn man das mal so delikat ausdrücken darf). Ich dagegen behaupte: „Oh nein, wenn ich auch nicht für viele sprechen kann, so gibt es da doch eine, an deren Treue ich keine Minute zweifle. Das ist meine Frau“. Mit mir einverstanden ist nur mein bester Freund Andrej Popow. Auch er hat vollständiges Vertrauen zu seiner Frau. Vielleicht ist er auch deshalb mein bester Freund.

1943, 21. Mai [von S. I. Gruzdewa an die Front] Nr. 2.

Seit dem 1. Mai sind nun schon 3 Wochen vergangen. Ich konnte dir nicht einmal eine kleine Notiz schreiben. Heute habe ich mir den Wecker auf 4.30 gestellt und schreibe dir nun.

Valja ist aus dem Krankenhaus nach der Operation entlassen worden. Sie ist sehr schwach, denn es hat sich eine Entzündung gebildet.

Im Wehrkreiskommando hat man mir ein Pud (16 Kilo) Kartoffeln ausgehändigt und etwa 100 Quadratmeter Land zugewiesen. Ich habe die Kartoffeln schon neben unserem Haus eingepflanzt. Auf das andere Stück Land gedenke ich Kohl und Kartoffeln zu pflanzen, die man Valja versprochen hat. Wir mussten leider eine Ziege schlachten. Sie war alt geworden. Die andere ist noch am Leben und gibt etwa 4 Glas Milch am Tag.

Natascha ist gesund. Du bringst dich als Beispiel an, dabei ist sie sogar besser als du: Sie war in 2 Jahren drei Mal krank. Jetzt seit Anfang Mai läuft sie barfuß (ich spare so Schuhe ein) und alles ist in Ordnung. Sie denkt viel an dich.

Was mit Valja werden wird, weiß ich nicht. Zurzeit helfen mir ihre Eltern viel. Sie graben das Stück Land um, ihre Großmutter kocht zu Hause und macht sauber. Sie möchten sehr gerne alle mit Valja in einer Familie zusammen leben.

Liebe mich wie früher, glaube an mich und warte auf mich! So wird unsere Liebe gegen alles Böse in der Welt unsere Rettung sein.

1943, 27. Mai [von S. I. Gruzdewa and die Front] Nr. 5.

Nun beginnen für uns die schwersten Monate, was die Ernährung betrifft. Alles geht zu Ende, aber zum Glück wachsen schon die Zwiebeln heran. Wenn es doch nur genug von dem gäbe, was man meint, wenn man sagt, dass sich der Mensch nicht nur von Brot allein ernährt, dann wäre alles ertragbar.

In der Schule gibt es nach wie vor viel Arbeit. Ich wurde im Radio für meine guten Zensuren gelobt. Scheinbar haben die Kinder die russische Sprache gut verstanden. Natascha kränkelt schon wieder. Sie hat Ziegenpeter.

 

Quelle: Bestätigung in der Liebe. Die Geschichte einer Familie: 1872-1981. Sankt Petersburg: Verlag der Zeitschrift „Zwezda“, 2010. S. 244-255 (Auflage 1000 Exemplare)

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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