Ohne Vater
Mein Vater, Sergej Michailowitsch Chartschenko, stammt aus Krasnodar. Beide seine Eltern kommen aus großen Familien. 1933 starb sein Vater an Hunger im Kuban. Mein Vater schickte dorthin Pakete, doch die Familie da hatte viele Kinder und man steckte ihnen alles zu. Der ältere Bruder meines Vaters ist seit dem Bürgerkrieg verschollen.
Unsere Großmutter mütterlicherseits hatte 10 Kinder. Vier von ihnen sind bereits im Kindesalter gestorben. Drei Söhne und drei Töchter haben überlebt. Meine Mutter, Olga Alexandrowna, war das zweite Kind. Der Vater meiner Mutter hatte sich in Leningrad bei einem Markt in der Nähe der Fontanka niedergelassen. Er arbeitete dort für einen Händler, der Fisch verkaufte.
Mein Vater hatte zunächst eine Ausbildung zum Grundschullehrer absolviert, dann aber zusammen mit S. M. Kirow [1] im Smolny gearbeitet. Sie haben sich sogar äußerlich sehr ähnlich gesehen. Meine Mutter hat mir erzählt, dass Kirow meinen Vater „Namensvetter“ genannt haben soll. Zu Hause hat mein Vater viel von ihm gesprochen. Ich habe immer noch viele Fotografien meines Vaters, wo er in Uniform zu sehen ist. Jedoch ohne Kragenspiegel — man nannte die „Kirowka“ — denn solche hatte nur Kirow. Aber ebenso wie Kirow trug mein Vater immer russische Stiefel. Mein Vater blieb oft bis spät in der Nacht auf der Arbeit. Damals war das so üblich. Stalin schlief gewöhnlich nicht und dann waren alle verpflichtet zu arbeiten. Wenn mein Vater zu Hause war, war es für mich immer wie ein Fest.
Mein Vater hat sehr stark gelitten, als Kirow dann nicht mehr da war. Dies geschah am 1. Dezember 1934. Er war ihm sehr verbunden. Deshalb stand im Flur immer ein kleiner Koffer mit einigen Sachen, die er zusammengepackt hatte. Es wurden viele Menschen damals verhaftet.
Die Postboten, die die Zeitungen und Briefe brachten, kamen damals noch in jede Wohnung herein. Ich war noch klein und lief ihnen stets als erste entgegen und deshalb bekam ich immer alle Briefe und Zeitungen. So kam es dann, dass ich in der Zeitung das Porträt Kirows mit einem Trauerflor erblickte. Für mich war das ein richtiger Schock: „Das ist doch Papa!“ Ich ergriff die Zeitung und lief ins Kinderzimmer, kroch unter den Tisch und habe so geweint, dass mich niemand unter dem Tisch hervorziehen konnte. Ich dachte wirklich, dass mein Vater gestorben war.
Nach dem Tod von Kirow wurde mein Vater auf eine andere Arbeitsstelle versetzt. Er wurde Direktor über sämtliche Restaurants und Cafés im Stadtteil Kujbischew. Zu den November- und Maifeiertagen wurden auf den Plätzen kleine Basare organisiert. Manchmal nahm mein Vater mich dorthin mit. An einem dieser Tage meine ich zu ihm: „Papa, los lass uns doch für mich einen Roller kaufen“. Mein Vater antwortet mir: „Das ist eine sehr schöne Idee, doch was wird Mama dazu sagen?“ Für meinen Vater war es immer sehr wichtig, was unsere Mutter über etwas dachte. Ich entgegnete ihm: „Wir sind doch zwei und Mama nur eine“. Wir gingen nach Hause und brachten den Roller in die Wohnung. Meine Mutter fragte:
— Serjoga, was ist das denn?
— Mama, kannst du denn nicht sehen? Das ist ein Roller – mischte ich mich ein.
— Ja, aber wir haben bei uns zu Hause keinen Jungen.
— Der ist auch nicht für einen Jungen, den hat Papa für mich gekauft.
— Serjoga, ich verstehe – da ist sie, aber was hast du dazu zu sagen?!
Am Ende durfte ich den Roller behalten.
In einem Winter erkrankte Lara [2] an Diphterie und ich an Scharlach. Ich war 8 Jahre alt. Ich wurde ins Rauchfuß [3] gebracht. Dort „gelang es mir“, mir auf irgendeine Weise auch noch einen Keuchhusten einzufangen. Niemand wurde ins Krankenhaus gelassen. Nur einmal nutzte mein Vater seine Stellung als Abgeordneter des Stadtbezirksrates und ging zum Leitenden Arzt, den er darum bat, dass man eine Bekannte meiner Mutter, die Ärztin war, zu mir lassen möge. Ich erinnere mich noch sehr gut, dass es mir dort sehr schlecht ging. Ich habe die ganze Zeit geweint und wollte nach Hause. Ich wurde dann mit einer schweren Komplikation am Bein entlassen. Ich konnte nicht gehen. Mein Vater hatte seinen eigenen Chauffeur, Onkel Walja. Er hat mich auf Händen die Treppe hinunter getragen, mich dann durch die Stadt gefahren und danach auf Händen auch wieder die Treppe hinaufgetragen. Später dann, im Juni 1938, hat man mich zur Genesung in ein Sanatorium nach Peterhof gebracht.
In der dritten Klasse hatten wir noch Zeichen– und Gesangsunterricht. Unser Musiklehrer hieß übrigens Pavel Londowitsch. Er kam mit einer Geige in den Klassenraum und sagte: „Heute singen wir das Lied: ´Gequält durch schwere Knechtschaft`“. Eine andere Lehrerin hieß Lydia Alexejewna Scheronowa. Alle in ihrer Familie waren Lehrer. (Sie war noch eine aus der Zarenzeit). Sie hatte uns Kinder sehr gern.
Hier ein Brief aus dem Jahre 1940 von meinem Vater: „ … Vielen Dank, dass du in der zweiten Klasse so fleißig gelernt hast und deshalb in die dritte Klasse versetzt werden konntest! Durch deinen Fleiß machst du mir und besonders unserer lieben Mama so viel Freude. Ich danke dir und küsse dich! Gib Mama und auch Lara einen Kuss von mir! Papa“.
Hier ein anderer: „Meinem lieben Töchterlein Innotschka vom ihrem Papotschka. Ich möchte dich immer so sehen können: gesund und wohl genährt, wie der Mond. Ich küsse dich. Grüß Larotschka von mir! 1940, 30. Mai“.
Die Angehörigen meines Vaters, die Familie Sachartschenko, wohnten in der Gorochow-Straße. Sie alle hatten sehr klangvolle Stimmen. Mein Vater hatte einen Bariton, Onkel Jona (Jona Petrowitsch) einen Bass, Tante Vassa einen schönen Mezzosopran, Aleschka eine Altstimme und der Bruder von Tante Vassa einen dramatischen Tenor. Wenn sie zusammen ukrainische Volkslieder sangen, hat das so wunderbar geklungen.
Meine Mutter fuhr jedes Jahr auf die Krim. Sie hatte starke Probleme mit ihrer Lunge. Sie schrieb im Jahre 1938 aus Jalta (geschrieben mit Bleistift): „Grüß dich, mein Töchterlein Larotschka. Ich küsse dich voller Inbrunst und verkünde dir, dass ich gestern den ersten Brief bekommen habe. Richte Innotschka meinen Dank aus, denn sie hat mir ja als Erste geschrieben. Ich warte auch auf einen Brief von dir mit einer Karte. Schreib mir, wie es dir in der Schule ergeht und was ihr so zu Hause macht. Ich liege immer noch im Bett, weil das Fieber nicht zurückgehen will. Am Tag ist es eigentlich erträglich, aber jeden Abend zwischen 18 und 23 Uhr steigt es wieder. Es ist sehr langweilig hier, denn es gibt keinen Strom und die anderen gehen am Abend alle spazieren. Gestern Abend hat man mir ein Grammophon in mein Zimmer gestellt und meine Zimmernachbarin ist bei mir geblieben. Tagsüber ist das Wetter wunderschön! Ich werde euch beiden jeden Tag immer abwechselnd einen Brief schreiben. Ich küsse dich. Mama“.
Der Krieg brach aus. Die ersten Ballons der Luftverteidigung erschienen am Himmel. Wir liefen hinaus, um sie uns anzusehen. Sie waren so ungewöhnlich. Mein Vater arbeitete in dieser Zeit als Direktor eines großen Betriebes, wo Konzentrate hergestellt wurden. Von Papas Betrieb aus sollten die Kinder dessen Mitarbeiter aus der Stadt evakuiert werden. Da mein Vater Direktor war, sollte er allen ein Beispiel sein, denn niemand wollte sein Kind aus den Händen geben. Er rief zu Hause an und sagte, dass wir unsere Sachen zusammenpacken sollen. Wir hatten ein Telefon mit einer direkten Linie zum Smolny. Während des Krieges wurde diese Verbindung dann abgeschaltet. Danach hatten wir dann lange kein Telefon.
Wir verabschiedeten uns voneinander im kleinen Zimmer. Ich habe dabei so stark geweint, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Ich bat ihn, mich nicht fortzuschicken. Er blieb jedoch hart und meinte: „Ljaletschka. Ich kann dies jetzt nicht. Ich konnte mir nur für einige Minuten frei nehmen und bin hergekommen, damit wir uns von einander verabschieden. Nimm deine Sachen und fahr zum Bahnhof!“
Wir sollten nach Luga gebracht werden. Doch schon nach einigen Tagen war die Stadt von den Deutschen eingenommen. Es ist schwer zu sagen, was passiert wäre, wenn wir dorthin gefahren wären. Hätte wir von dort wieder rechtzeitig die Flucht ergreifen können? Vielleicht wären wir auf dem Weg getötet worden oder wir wären auf besetztem Gebiet verblieben. An diesem Tag, am 4. Juli, kam die jüngere Schwester meiner Mutter Nina zu uns. Sie war die Frau eines Offiziers. Sie wohnten in der Stadt Nowogrudok, die als einer der ersten von den Faschisten unter Beschuss genommen worden ist und auf die die ersten Bomben fielen. Ihr Mann war bei der Artillerie und bereits an der Front. Sie selber hatte sich zwei — drei Kleider übereinander gezogen und kam ohne Schuhe, barfuß, zu uns gelaufen. Sie war ganz erschrocken und meinte nur immer: „Könnte man doch nur aus der Stadt fliehen“. An diesem Tag gingen meine Großmutter, die Schwester meiner Mutter Nina und ich auf den Bahnhof. Meine Mutter meinte, dass sie noch nicht fahren möchte. Ich wurde durch ein Fenster in den Zug gehoben, denn wegen der vielen Menschenmassen war es nicht möglich, normal in den Zug einzusteigen.
Wir kamen an die Bahnstation Wolga [4]. Dort suchten wir jemanden, der uns weiterbringen könnte. Meine Großmutter war schon lange nicht mehr da gewesen. Man fragte sie: „Wo liegt denn das Dorf? Was gibt es dort?“ Sie antwortete: „Es ist das Dorf Olifniki mit der Michaelis-Kirche“. Wir wurden also dorthin gebracht. Wir waren mit die ersten, die evakuiert worden waren.
Wir kamen bei einem Bruder meiner Großmutter unter. Nina, die lesen und schreiben konnte, wurde die Aufgabe des Briefträgers übertragen. Die Post musste sie auch bis nach Schipilowo [5] bringen, wo der Gemeinderat saß. Das war in die entgegengesetzte Richtung durch den Wald hindurch. Hier in diesem Dorf gab es weder Radio noch Strom und man bekam auch sonst nichts zu hören von der Außenwelt. Meine Mutter kam Ende August zu uns und hoffte noch nach Leningrad zurückkehren zu können. Wir dachten ja auch, als wir losgefahren sind, dass der Krieg bald zu Ende ist und dass wir am ersten September wieder in die Schule gehen können.
Solange wir noch zu dritt waren, war alles in bester Ordnung. Das Haus – ich weiß es noch — war sehr unvorteilhaft gebaut. Im Inneren des Hauses, wo es warm war, konnte man sich nicht einmal drehen und wenden. Als meine Mutter kam, schliefen wir mit ihr zusammen auf dem großen Bett. Nina und meine Großmutter schliefen auf dem Ofen. Auf der Stufe zum Ofen schlief unsere Wirtin. Für Onkel Kostja, dem Herrn des Hauses, bauten wir jeden Abend ein Bett aus zwei Böcken, legten ein paar Bretter darüber und auf diese eine Matratze.
Im Gebiet von Jaroslawl kam ich dann in die 4. Klasse. Unsere Lehrerin unterrichtete die 2. und 4. Klasse. Ihr Mann, Afrikan Fjodorowitsch, die 1. und die 3. In einem Raum saßen die Schüler der 2. und der 4. Klasse zusammen. Es gab kaum Seife. Die Lehrerin forderte deshalb alle auf, sich die Haare kurz zu scheren, damit keine Läuse gezüchtet würden. Meine Mutter bat darum, dass man mit mir eine Ausnahme machen möge, da wir Seife hatten. Doch die Lehrerin ließ sich nicht darauf ein.
Mitte Dezember besuchte uns ein Mann, der gemeinsam mit meinem Vater gedient hatte. Er brachte uns einige Sachen und erzählte, dass eine Granate in einen Bunker eingeschlagen ist und dass man meinen Vater in einem Einzelgrab neben einer Kirche beerdigt hat. In dieser Nacht erschien mir mein Vater im Traum. Wir gingen zu viert an einem Fluss entlang und auf dem Fluss bildete sich plötzlich ein Riss. Mein Vater war auf der anderen Seite des Risses. Ich wollte springen, aber mein Vater entgegnete mir streng: „Untersteh dich!“ Ich schrie: „Papa! Papa!“. Als der Krieg vorüber war, fuhren wir nach Ust-Ishora, wo er begraben lag. Leider war der Winter so kalt und schneereich, dass wir das Grab nicht finden konnten. Lara meinte, dass unser Vater es nicht gewollt hätte, dass wir, wenn es ihn einmal nicht mehr gibt, an sein Grab kommen und weinen. So ist sein Wunsch in Erfüllung gegangen.
Kurz nachdem wir vom Tod unseres Vaters erfahren hatten, sagte Onkel Kostja zu uns, dass es für alle im Hause zu eng ist, und dass Lara sich eine andere Bleibe suchen solle. Er hatte Recht. Eigentlich waren wir für ihn nun ein Niemand. Meine Mutter ging zum Gemeindevorsitzenden. Man schlug uns dort zwei Varianten vor. Entweder das Wärterhäuschen auf dem Friedhof, irgendwo am Rande des Dorfes oder ein Haus mit einem großen Raum, wo der Hafer gelagert wurde, in dem es aber an der Seite einen kleinen Korridor gab und ein kleines Zimmerchen. Im diesem Haus gab es ein Bett, einen Tisch, Bänke und ein Regal für Geschirr. Dorthinein sind wir dann gezogen
Im Gebiet von Jaroslawl, besonders nachdem wir die Nachricht vom Tod unseres Vaters bekommen hatten, war ich oft krank. Deshalb wurde entschieden, mich zu taufen. Und irgendwie war ich dann nicht mehr so viel krank. Lara war bereits getauft. Unser Vater hätte es sich nicht erlauben dürfen. Er wäre sonst aus der Partei ausgeschlossen worden.
Die erste Zeit war es sehr schwer, weil wir kein Holz hatten. Männer gab es keine, und so fuhren wir selbst in den Wald. Lara und ich sägten. Dabei war ich so schwach. „Los zieh an!“ – kommandiert Lara, aber die Säge will sich nicht ziehen lassen. Es war ein Albtraum. Unser größtes Glück war natürlich, dass meine Mutter eine ausgebildete Schneiderin war und das mit höchster Qualifikation. Sie hatte goldene Hände und konnte wunderbar nähen. Sie hatte eine Nähmaschine mit Handantrieb vom Typ Singer. Die war unsere Rettung. Mit Geld konnte man damals nicht viel anfangen, niemand brauchte es, denn es gab nichts, was man damit hätte kaufen können. Als Zeichen der Dankbarkeit jedoch brachten die Leute ihr etwas. Das erste, was man uns gab, war ein Huhn. Es war so dunkel wie eine Lerche. Wir haben es mit Hafer gefüttert. Dann brachte meine Mutter ein zweites Hühnchen. Jeden Morgen bin ich aus der Tür getreten und habe nachgesehen, ob eines ein Ei gelegt hat. Dann hat Mama uns eines Tages auch einen Hahn gebracht. Das war etwas. Der war so ein richtig schöner Bursche!
Es kam vor, dass wir nichts zu Essen im Hause hatten. Meine Mutter sagte dann, dass sie sich auf den Weg in irgendeine Kolchose macht und uns etwas zu Essen bringt. Und wirklich! Man gab ihr dort Erbsen und anderes Gemüse. Sie ist nie mit leeren Händen nach Hause zurückgekehrt. Sie hat es immer geschafft, die rechten Worte zu finden, die den Menschen ans Herz gingen. Wir haben unsere Mutter immer für einen sehr feinsinnigen Menschen gehalten. Als ich dann 12 Jahre alt geworden bin, habe ich sämtliche Arbeiten im Haushalt übernommen: ich habe den Boden gewischt und Wäsche gewaschen. Lara dagegen ist zur Armee gegangen.
Das Leben war schwer, doch unsere Mutter, obwohl sie von sehr zarter Statur und oft krank war, hat nie den Optimismus und ihre Liebe zu den Menschen verloren. Sie musste Berichte zum Gemeinderat bringen, der 7 km entfernt saß und arbeiten, um uns so zu ernähren. Und was meinen Sie, wer die Berichte abgeliefert hat? Ich natürlich. Ich musste mich damit bei jedem Wetter auf den Weg machen. Der Weg war sehr schlecht und führte durch den Wald. Seit dem verbinden sich für mich mit dem Wort Wald nicht die allerschönsten Gedanken. Es war besonders schwer, wenn es nass und kalt war, denn richtige Schuhe hatte ich ja keine. Und so bin ich gelaufen: auf dem einen Bein habe ich gestanden und das andere Bein hoch gehalten, um es aufzuwärmen. Dann bin ich weiter gelaufen und wieder stehen geblieben, um das andere Bein aufzuwärmen. Das alles hat sich sehr schlecht auf meine Gesundheit ausgewirkt. Ich bin regelmäßig in Ohnmacht gefallen.
Ich erinnere mich noch, wie man uns, als ich in der Schule gearbeitet habe, gemeinsam mit den Kindern an den Riza-See [6] geschickt hat. Das war 1952. Wir brachten die Schüler aus den oberen Klassen als Begleitpersonen an den Riza-See. Ich war 22 Jahre alt. Ich wollte nicht fahren, denn ich hatte irgendwie ein ungutes Gefühl. Zunächst sind wir bis nach Moskau gefahren, wo wir in einen anderen Zug umsteigen sollten. Natürlich sind wir, zum ersten Mal in Moskau, da wir noch Zeit hatten, bis unser nächster Zug abfuhr, auf den Roten Platz gefahren. Es war gegen Mittag und es stand eine Hitze von 30 Grad. Als wir in der riesigen Schlange vor dem Mausoleum standen, fiel ich plötzlich in Ohnmacht und schlug mir einen Zahn aus. Es kam der ärztliche Bereitschaftsdienst und brachte mich ins Sklifosowskij-Krankenhaus [7], wo man mich wieder auf die Beine brachte.
Nachdem wir uns in unserer neuen Bleibe, einigermaßen eingelebt hatten, wurde ein ganzes Leningrader Kinderheim in das neun Kilometer von uns entfernte Schipilowo evakuiert. Unter ihnen waren solche wunderbaren Menschen! Meine Mutter hat sich dorthin auf den Weg gemacht, um darum zu beten, ihr doch irgendeine Arbeit zu geben. Sie hatte einen allgemeinen Schulabschluss und konnte sehr gut nähen. Man sagte ihr, dass man sie brauchen könnte, da immer wieder Bettbezüge, Laken und Kopfkissenbezüge kaputt gehen werden. All das muss dann genäht werden.
Ich weiß noch, wie ich meine Mutter gefragt habe: „Mama, los lass uns ein Zicklein kaufen!“ Wir hatten die Mittel dazu, denn wir bekamen etwas Geld für unseren Vater. Mama ließ sich am Ende breitschlagen. Es war so ein charmantes Tier! Wir nannten die Ziege Majka, da sie im Mai geboren worden war. Doch womit sollten wir sie tränken? Wir brauchten Milch, aber die war sündhaft teuer. Die ersten Tage führte ich sie an einer Leine. Dann ließ ich sie frei, doch sie blieb immer bei mir. Die Damen — alle waren sie intelligent – sagten: „ Fräulein Von Esmeralda kommt mit ihrem Zicklein“.
Für den Winter brach ich für die Ziege Zweige von den Bäumen. Wir hatten ja kein Heu. Es gab aber eine Kantine, wo Arbeiter verpflegt wurden. Diese ließen manchmal etwas Heu für die Pferde da. Ich ging dann zu ihnen und bat etwas Heu für mein Zicklein, die immer neben mir ging. Ich hatte ein kleines Säcklein dabei. Ich nahm bei dem einen eine Hand voll, bei dem nächsten ebenso und auch der dritte legte mir etwas in mein Säcklein. So hatte ich wenigstens etwas, womit ich Majka füttern konnte. Später im Winter dann, als sie tragend war, mochte sie Erbsensuppe besonders gern. Ich teilte meine Portion mit ihr.
Ich habe Tagebuch geführt. Leider erst ab 1944, denn davor hatte ich kein Papier, auf dem ich hätte schreiben können.
Als das Gemüse im Garten herangewachsen war, wurde es leichter. In Schipilowa lebten wir überhaupt wie im Paradies. Im August und Anfang September ernteten wir die Mohrrüben. Wir hatten eine sehr gute Ernte eingebracht. Bei der Arbeit im Garten half mir eine Frau aus Leningrad. Beide trugen wir zusammen Stallmist auf. In Leningrad war sie in einen Bombenangriff geraten und konnte seit dem nicht mehr gut hören. Sie war über 30, ich war erst 13. Sie packt also den Dung auf die Karre – der war aber sehr schwer. Ich fühle, dass ich ihn schon nicht mehr tragen kann und rufe zu ihr. Sie hört mich aber nicht. Als wir die Möhren säuberten, kam Majka angelaufen und nagte alle an. Dann lausche ich, sie ist ganz ruhig geworden. Ich schaue nach und sehe sie still daliegen, sie hatte sich von den Mohrrüben überfressen. Ich laufe zum Tierarzt. Er meinte, dass es notwendig ist, dass sie sich bewegt. Wir zwangen sie daher umherzulaufen und konnten sie so retten.
Im Hause war ich das Arbeitstier: ich machte sauber, goss den Garten, wusch die Wäsche und bügelte. Meine Mama hatte mit all dem nichts zu tun. Zum Glück konnte ich noch nicht kochen, aber jeden Abend machten wir zusammen Plinsen. Wir schälten Kartoffeln und rieben sie. Milch hatten wir ja unsere eigene. Jeden Abend – das war noch 1944 – habe ich ein Körbchen mit Himbeeren aus dem Wald nach Hause gebracht. Den Wald nannten die Leute „Seelenloser“. Doch da gab es so viele Himbeeren! Das gesamte Kinderheim ist dort sammeln gegangen. Ganz in der Nähe befand sich ein Friedhof für die „Seelenlosen“. Man hatte sie nicht neben der Kirche beigesetzt.
Ich erinnere mich an das Leben im Gebiet von Jaroslawl voller Dankbarkeit, weil es, wenn wir in Leningrad geblieben wären, viel schwieriger gewesen wäre.
In der Schule habe ich niemals das dritte Viertel bis zum Ende durchgehalten. Es war immer so lang. Ich hatte während dieser Wochen immer Probleme mit dem Stoff mitzukommen. Meine Mutter schrie mich dann an und drohte mir, dass sie mich in eine Handwerkerschule stecken würde. Die Abschlussprüfungen legten wir vom 20. Mai bis zum 20. Juni ab. Im Zuge der Rückevakuierung der Kinderheime konnten auch wir so früher nach Leningrad zurückkehren. Doch meine Mutter meinte: „Warum sollte ich Inna aus ihren Prüfungen herausreißen? Lass sie erst einmal die Schule zu Ende machen und die Prüfungen ablegen. Danach fahren wir“.
Doch dann konnten wir endlich in unsere Leningrader Wohnung zurückkehren. Man hatte sie an niemand anderen vergeben und sie war auch nicht ausgebombt worden. Als wir ankamen, habe ich die Stadt überhaupt nicht wiedererkannt. Irgendwo in der Nähe des Moskauer Bahnhofs in der Vosstania-Straße gab es eine Schule, wo vorübergehend alle die Kinder untergebracht wurden, die in die Stadt zurückgekehrt waren, aber keine Eltern mehr hatten. Man hatte uns gesagt, dass wir dorthin gehen sollten, um etwas zu essen. In der Schule wurde Dienst geschoben, damit die Kinder nicht alleine blieben. Auch meine Mutter war dort manchmal und so ging auch ich dorthin. Frühstück und Abendbrot haben wir zu Hause gegessen, nur zum Mittagessen ging ich zu meiner Mutter in die Schule.
Die Stadt war natürlich stark zerstört, doch die Leningrader sind wunderbare Menschen. Sie haben unter großen Selbstopfern die Stadt wieder aufgebaut. Unsere zentrale Markthalle hatte keinen so starken Schaden genommen. Auch meine Schule zum Beispiel, in die ich vor den Krieg gegangen bin, war heil geblieben.
Ich musste einen Beruf lernen und meine Mutter gab mich in eine Fachschule für Zahnmedizin. Dort gab es zwei Abteilungen: eine für Zahnmedizin und eine für Zahntechnik. Für ein Studium in der zahnmedizinischen Abteilung musste man die 10. Klasse beendet haben. Mit meiner Schulbildung konnte ich nur Zahntechniker werden. Ich musste Prüfungen ablegen und das habe ich, so meine ich, ganz gut gemeistert. Doch als wir mit meiner Tante in die Schule kamen, stand mein Name nicht auf der Liste. Ich war enttäuscht. Meine Mutter aber meinte: „Nun was soll´s. Dann gehst du eben weiter zur Schule“. Später stellte sich heraus, dass man aus irgendwelchen Gründen vergessen hatte, meinen Namen auf die Liste zu schreiben, denn in der Liste für die einzelne Gruppe, in der ich studieren sollte, war mein Name aufgeführt. Ich besuchte die Schule dann zwei Jahre lang.
Im Alter von 17 Jahren sollte ich zum Arbeiten in das Gebiet von Kemerowo in die Stadt Prokopjewsk geschickt werden. Da kam meiner Mutter in den Sinn, dass mein Vater einen sehr guten Freund hatte, der zum Glück noch am Leben war. Meine Mutter hat ihn aufgesucht und ihn gebeten zu helfen. Er hat irgendwo angerufen und so wurde mir ein freies Diplom ausgehändigt. Doch mir gefiel die Arbeit eigentlich nicht.
Ich ging dann zur Abendschule und machte dort die 8. bis zur 10. Klasse nach. Danach bewarb ich mich im Herzen-Institut [8]. Dort schaffte ich 24 Punkte und hatte auch schon einige Mädchen kennengelernt. Vor dem Beginn des Studienjahres hatten wir zusammen die Fenster im Institut geputzt. Alles war bestens, bis plötzlich meine Mutter auftauchte und sagte: „Ich habe deine Unterlagen wieder zurückgezogen. Wir fahren jetzt zusammen ins 1. Fremdspracheninstitut [9]. Du wirst dort eine Prüfung ablegen müssen“. In diesem Sinne war meine Mutter ein richtiger Diktator. Mir blieb nichts weiter übrig, als mit ihr in dieses Institut zu fahren und die Prüfung abzulegen. Ich habe zwar die nötigen Punkte erreicht, aber es war wieder nicht das, was ich mir selbst überlegt hatte. Ich studierte ein Semester und sagte meiner Mutter dann, dass ich kein Englischlehrer werden möchte. Ich sei schon 20 Jahre alt, also schon erwachsen. Ich bin daraufhin nicht mehr in dieses Fremdspracheninstitut gegangen.
Und endlich im Jahre 1951 begann ich ein Studium an der Abendschule der Philologischen Fakultät des Herzen-Instituts. Dort lernte ich Inga Alexandrowna [10] kennen. Seit diesem Jahr sind wir miteinander befreundet, auch wenn wir ab dem dritten Studienjahr wegen verschiedener Spezialisierungen nicht mehr zusammen studiert haben.
Meine Mutter verschaffte mir einen kleinen Zuverdienst bei sich in der Schule. Damals gab es Schulen für Jungs und welche für Mädchen. Meine Mutter unterrichtete in allen Klassen Handarbeit: Nähen, Stricken und Sticken. Sie gab mir alle unteren Klassen. Dann ging später ein Teil der Mädchen in die Jungenschule und ein Teil der Jungen kam in die Mädchenschule. Die Jungen beschäftigten sich natürlich mit anderen Dingen, die zu Jungen passen. Die Mädchen kamen weiterhin zu mir.
1956, als ich das Institut beendet hatte, bekam ich eine Stelle in einer Schule für jugendliche Arbeiter. Das war eine sehr gute Schule. Dort waren die Schüler in der Regel älter als ich. Es gab ein Schichtsystem und Unterricht am Morgen und am Abend. Diejenigen, die abends arbeiteten, kamen morgens zum Unterricht und umgekehrt. Zuerst gab man mir die 8. Klasse. Meine ersten Schüler beendeten die Schule 1960. Der Klassenälteste war ein Hauptmann bei der Miliz. Wenn er zu spät kam, sagte er immer: „Teilen Sie bitte Inna Sergejewna mit, dass sich Hauptmann Jeroschin um 10 Minuten verspäten wird“. Es waren wunderbare Jungs. Einfach fantastisch!
Aufgeschrieben von Tatjana Aljoschina für
[1] Sergej Mironowitsch Kirow – Ein sowjetischer Partei- und Staatsmann. Von November 1927 bis Dezember 1934 war er Erster Sekretär der Leningrader Bezirksleitung der KPdSU.
[2] Larisa Chartschenko – die ältere Schwester von Inna Sergejewna
[3] Ein Kinderkrankenhaus mit dem Namen Rauchfuss in Leningrad am Ligowskij-Prospekt
[4] Bahnstation Wolga – eine Bahnstation für Passagier- und Güterverkehr im Gebiet von Jaroslawl – gehört zu Netz der „Nördlichen Eisenbahnen“.
[5] Siedlung Schipilowo – im Gebiet von Jaroslawl, Kreis Myshkin
[6] Riza – ein Bergsee, aus einem Gletscher hervorgegangen im westlichen Kaukasus im Kreis Gudauta in Abchasien
[7] Ein wissenschaftliches Forschungsinstitut für Schnelle Medizinische Hilfe mit dem Namen N.W. Sklifosowskij
[8] Das Leningrader Staatliche Pädagogische Institut mit dem Namen A. I. Herzen
[9] Das Erste Leningrader Pädagogische Institut für Fremdsprachen
[10] Schomrakowa, Inga Alexandrowna – russischer Buchexperte, Doktor der Philologischen Wissenschaften und Professor der Sankt-Petersburger Staatlichen Universität für Kultur und Kunst, Verdienter Mitarbeiter der Hochschulen Russlands.
Uebersetzt von Henrik Hansen
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