10 Januar 2014| Voronin Ilja, еrzpriester

Mir hat meine spartanische Erziehung zu Hause geholfen

Ich bin im August des Jahres 1924 in Jessentuki  geboren worden. Wir waren viele Kinder in der Familie und arm. Schon von klein auf an wurden wir Jungs (wir waren sechs) zur Arbeit in der Hauswirtschaft mit herangezogen: wir hüteten die Gänse, fütterten die Schweine und trieben die Pferde auf die Weide hinaus. Für Kinderspiele oder Streiche gab es einfach keine Zeit.

Familie Voronin

Natürlich haben wir auch die Schule besucht, waren aber alle nicht so besonders gut. Niemand konnte uns helfen. Unsere Eltern waren immerfort mit ihrer Arbeit beschäftigt, denn wir alle sollten ja auch ernährt werden.

Die siebte Klasse schloss ich einigermaßen ordentlich ab. Ich mochte besonders die sogenannten humanitären Fächer wie Geschichte, Geographie und Literatur. Nach Beendigung der siebenklassigen Grundschule machte ich in Rostow am Don eine Ausbildung zum Bauarbeiter, von der ich die ersten zwei Jahren erfolgreich abschloss.

Ilja Voronin

Doch dann kam der Juni 1941. Der Krieg begann, die Deutschen fielen in unser Land ein. Sie bahnten sich zielstrebig ihren Weg durch die Ukraine und drängten nach dem Kaukasus zum Öl von Grosny und Baku. Ich musste die Ausbildung abbrechen und nach Hause nach Jessentuki zurückkehren. Dort nahm ich den Arbeitsplatz meines Vaters ein, der an die Front eingezogen worden war. Bald wurde auch mein älterer Bruder einberufen und auch ich musste etwas später mein Bündel schnüren und meinen Dienst antreten.

Das Wehrkreiskommando sandte mich in die Allgemeine Infanteriefachschule (die frühere Kadetteneinheit) von Ordshonikidse. Die Deutschen hatten Rostow am Don und Armawir eingenommen und griffen nun nach Mineralnye Vody.

In der Fachschule wurde uns nur das Nötigste beigebracht, denn sehr bald schon wurde unsere Schule evakuiert. Unsere Schultern von uns noch nicht ganz ausgereiften Jungs wurden mit viel zu schweren Lasten beladen: Gewehre, die damals viel mehr wogen als heute, und ganze Kampfausrüstungen (Kisten aus Blei mit Patronen), Gasmasken und ganze Ladungen mit Büchern aus der Bibliothek sowie vieles andere mehr. Auf der georgischen Heerstraße sind wir dann bis nach Tiflis gelaufen. Es war ein heißer August. Der Schweiß rann uns in die Augen. Die Hemden waren auf den Schultern ganz schwarz vom Schweiß. Fünf Kilometer marschieren und fünf Minuten ausruhen (Rast). Natürlich reichte es für niemanden um richtig neue Kräfte zu tanken. Jeder machte sich sofort ans Trinken, denn alle hatten riesigen Durst. Aber die Kommandeure verboten uns streng, uns mit kaltem Wasser zu betrinken.

Die Schönheit der Berge des Kaukasus jedoch hat uns besänftigt und beeindruckt: die Eisfelsen, die wie Diamanten glänzten und unsere Augen blendeten. Die Adler der Berge, die am Himmel ihre Kreise zogen und wie Kreuze aussahen, schienen uns von oben ihren Segen geben zu wollen. Es war sehr schwer für uns junge Kerle, mit einer solchen Last auf den Schultern durch die Hitze zu stiefeln. Die groben englischen Schuhe rieben unsere Füße bis aufs Blut auf. Auf unseren Fußsohlen hatten wir ständig Blasen. Viele von uns konnten die Belastung nicht ertragen und fielen immer wieder in Ohnmacht. Die Feldküche kam gewöhnlich hinter den Kolonnen, die ganz vorne gingen, nicht hinter her. Das Kommando „Aufbruch“ zwang die hungrigen Jungs dann, erneut die Last auf die Schulter zu heben und sich voller Bitternis wieder auf den Weg begeben. Hier hat mir meine spartanische Erziehung zu Hause geholfen.

Es war schwer und entbehrungsreich, doch ich bin nie hinter der Marschkolonne zurückgeblieben. Zum Abend haben die Kommandeure ein Plätzchen für das Nachtlager ausgewählt und sofort einige Soldaten als Wachposten für die Nacht eingeteilt. Ungeachtet der Tatsache, dass ich immer am Ende der Kolonne ging, weil ich der kleinste unter den Soldaten war, wurde auch ich für die Nachtwache eingeteilt. „Du – so meinte der Kommandeur – bist der zuverlässigste. Du wirst auf deinem Posten nicht einschlafen“.

Mehr als drei Wochen waren wir auf der Georgischen Heerstraße unterwegs. Als wir es endlich geschafft hatten, verkündeten die Spaßvögel unter uns, dass unsere Marsch wohl viel schwieriger war als der von Suvorov über die Alpen. Aber schon bald nach einem kurzen Aufenthalt, um zu verschnaufen, wurden wir in das Städtchen Lagadechi gebracht. Dort setzten wir noch einige Zeit unsere Ausbildung fort. Währenddessen griffen die Deutschen immer weiter aggressiv an. Es bestand die ernste Bedrohung, dass der Feind die Pässe des Kaukasus überschreiten könnte und so Baku für ihn direkt nicht mehr weit war. Deshalb wurde unsere 34 Offiziersschülerbrigade auf die Gebirgspässe verlegt. Dort erwarteten uns noch weit schwerere und gefährlicherer Tage. Der direkte Marsch in die Berge war um das zehnfache schwieriger als die Georgische Heerstraße. Wir bewegten uns ständig auf zwei-drei Tausend Meter über dem Meeresspiegel. Ewig blieb die Feldküche weit zurück und es wehten kalte Winde. Es war damals schon September. Die Nächte waren kalt, doch unsere Kleidung war für den Sommer bestimmt. Es gab nur nackte Felsen, also nichts womit man hätte Feuer machen können. So sammelten wir trockenes Gras und alles, was irgendwie brennen konnte.

Auf der letzten Anhöhe, bis zu der wir vordringen sollten, wurde der Befehl gegeben, eine Mulde in die Erde zu graben, um uns darin ein Nachtlager zu bereiten, die gleichzeitig aber auch eine Art Stellung zu Verteidigung – also als eine Art Schützengraben dienen sollte. Die Steine waren mit dem kleinen Spaten der Gefechtsausrüstung nur mit Mühe zu heben. Wir gingen vom Gipfel etwas weiter tiefer hinunter, wo man die Grasnarbe abheben konnte, um diese dann wieder nach oben zu tragen für eine Art Hütte aus Gras. Wir schliefen alle Rücken an Rücken. Die Steine waren hart und oft hatten wir Schürfwunden an den Schienbeinen. Einmal wurde unsere „Grashütte“ so stark eingeschneit, dass wir uns nur mit größter Mühe heil aus ihr befreien konnten. Es hatte stark geschneit. Der Schnee lag anderthalb Meter hoch auf dem Dach unserer Hütte. Wir wären fast erstickt, da die Luft knapp geworden war. Mein Kamerad Ljoscha war kräftiger als ich und hat es dann unter äußersten Mühen mit zwei Gewehrkolben geschafft, von unten eine Öffnung in den Schnee zu schlagen. Wir wurden bereits gesucht und als unsere Kameraden auf den aus dem Schnee hervorstechenden Gewehrkolben stießen, haben sie uns, die wir nur noch halb am Leben waren, ausgegraben.

Auf den Bergpässen „Artschi-Kudun“ und „Gilja-Mush“ lagen wir etwa 7 Monate bis endlich die Schlacht um Stalingrad dem deutschen Geier die Flügel stutzte. 22 Divisionen unter der Führung von Feldmarschall Paulus wurden eingekesselt und vernichtet. Der Feind zog sich in Richtung Westen zurück.

Aus Angst vor einer Einkesselung im Kaukasus begannen sich die gelobten deutschen „Edelweiße“ in Eile zurückzuziehen. Auch unsere Truppe wurde von den Bergen abgezogen. Wir hatten geklagt und gezetert, wie schwierig es war, als wir auf die Berge hinauf sind, dabei konnten wir uns nicht vorstellen, dass es noch weitaus schwerer war, in voller militärischer Ausrüstung wieder hinunterzusteigen. Mir war eine Kiste mit Minen übertragen worden. Diese sollte ich nach unten tragen. Ich hatte aber keine Kraft, um sie mir auf die Schulter zu hieven. Ja, auch für einen kräftigen Menschen wäre das nicht ohne weiteres möglich gewesen. So schnallte ich mir meinen Gürtel ab und befestigte ihn an am Griff der Kiste und begann die Kiste wie einen Schlitten hinter mir herzuziehen. Der Abhang war steil und so riss sich meine Kiste los und rutschte vor mir den Abhang hinab. Ich hatte große Mühe, sie wieder zu fassen zu kriegen. Der Kommandeur warf sich mit einer Pistole auf mich, schmiss mir allerlei nicht sehr ausgewählte Worte an den Kopf und drohte mich zu erschießen, um die anderen Soldaten der Kolonne vor einer ungeheuerlichen Explosion zu schützen.

Als wir unten angelangt waren, konnten wir uns einander oft nicht wiedererkennen. Wegen des ständigen Sauerstoffmangels ähnelten wir alle irgendwelchen Mongolen mit völlig runden Gesichtern. In Sotschi wurden wir auf ein Transportschiff verladen und in Richtung Noworossisk gebracht. Wir haben uns nie weit vom Ufer fortbewegt. Plötzlich tauchten über uns zwei deutsche Flugzeuge auf und bald fielen auch schon links von uns die ersten Bomben. Wir waren erstaunt über den Mut und die Kühnheit der Seeleute, die wie Artisten in einer Zirkusarena mit ihren Fliegerabwehrkanonen mutig die Attacke des Feindes abwehrten. Keine Bombe hatte unser Schiff getroffen und so fuhren wir erleichtert weiter zum Ziel, wo wir wieder ausgeladen wurden.

Nach vielen Monaten wurde dann dort für uns das erste Mal ein Badehaus angeheizt. Auf einem Abstellgleis standen eine Dampflock und ein spezieller Waggon, den man zu einem Badehaus umgebaut hatte. Daneben stand ein Wagon, in dem eine Desinfektionsstation eingerichtet worden war. Dorthin gaben wir alle unsere schmutzige und ungewaschene Uniform wie auch die Unterwäsche. Ich habe gesehen, wie man durch die Gitter des Wagons „gebratene“ Insekten nach draußen fegte, die uns die ganze Zeit vorher fast bis zu Tode gequält hatten.

Man hatte uns strengstens gewarnt, keinerlei Dinge aus Leder in die Desinfektionskammer zu geben: Gürtel, Revolvertaschen usw. Ein Soldat hat es sich aber trotzdem einfallen lassen, seine Schuhe in ein Hemd einzuwickeln. Das was er wiederbekam, waren kleine Kinderschuhe. Es gab aber keinen Ersatz, so musste der Arme dann barfuß durch den Wald laufen. Nur mit ein paar Lappen hatte er sich die Füße umwickelt. Wir wurden in den Wald geführt. Es regnete ständig und in der Nacht war es frostig kalt. Wir hatten keine Zelte. Erneut bauten wir uns kleine Hütten wie Robinson. Der Waldboden war ganz durchlöchert durch eingeschlagene Minensplitter. Wir versuchten uns eine Erdhöhle zu graben, doch immer wieder stießen wir dabei auf leicht in die Erde eingegrabene Leichen von jungen Soldaten. Hier mussten heiße Gefechte stattgefunden haben. Plötzlich stießen auch Aljoscha und ich auf nur leicht mit Erde bedeckte Beine, die in immer noch gut erhaltenen Chromstiefeln steckten. Es war ein junger Offizier, der scheinbar gerade erst eine funkelnagelneue Uniform erhalten hatte. Die Koppel, die Revolvertasche und der Gürtel glänzten noch, als ob man sie ihm gerade erst aus der Kleiderkammer gereicht hatte. Der Kopf des Soldaten war völlig entstellt, sein Gesicht konnte man nicht mehr erkennen. Neben im lag ein durchlöcherter Helm. Wir zitterten an Händen und Füssen beim Anblick dieses Grauens. Seine Mutter oder seine Frau werden wohl nie erfahren haben, dass ihr geliebter Sohn oder Mann hier seine letzte Ruhe gefunden hat. Es war furchtbar kalt. Unsere Hände wollten uns nicht gehorchen. Und plötzlich verteilte man an uns hastig amerikanische Fleischkonserven, für vier Mann eine und für jeden ein Stück Brot: In einer Stunde Ausrücken zum Gefecht! Ungeachtet der Tatsache, dass wir alle immer hungrig waren, bekamen einige von uns keinen Bissen herunter, denn wir hatten alle furchtbar Angst. Nur einer, Wasja Tytschschuk, ein wunderbarer Sänger und Spaßvogel, machte sich mit Vergnügen über alles her, was noch in den Konserven verblieben war. Wenn sie uns schon töten, dann doch besser mit vollem Magen – meinte er immer wieder. Als ob er seinen Tod im Voraus gespürt hätte. Eine deutsche Mine, die ganz in der Nähe explodierte, riss ihn in Fetzen. Wie bitter war es, all das, was passierte zu verstehen und sich bewusst zu machen. Möge Gott dich im ewigen Frieden ruhen lassen, mutiger russischer Soldat Wasjenka.

Nun waren wir diejenigen, die angriffen. Die Deutschen zogen sich immer mehr zurück. Dabei jedoch legten sie überall Minen aus und fletschten uns auf bestialische Weise die Zähne. Wir stießen immer wieder auf deutsche Leichen, aber auch viele von uns mussten ihr Leben lassen. So einer von unseren Heckenschützen Mischa Kosolapow. Er hat vielen deutschen Schützen den Garaus gemacht. Während eines Gefechts hat er aus einem Versteck hinter einem Baum heraus einen deutschen Hauptmann verwundet, aus Freude kurz aufgelacht und sich dabei unvorsichtig hervorgelehnt. Die Kugel eines deutschen Schützen hat ihn dafür sofort getroffen, direkt in den offenen Mund. Sie zersprengte völlig den Nacken seines kecken Köpfchens.

Die Kämpfe gingen weiter. Wir lagen alle auf unserer Position, als plötzlich ein Pfeifen losging und völlig neuartige Geschosse um uns herum krachten und über unsere Köpfe flogen. Erstmalig kamen hier unsere „Katjuschas“ zum Einsatz. Ein schreckliches Bild. Feuerblitze flogen mit langen, leuchtenden Schweifen durch die Luft. Unsere Truppen eroberten die Kosakensiedlungen Krimskaja und Abinskaja. Viele Häuser wurden dem Erdboden gleich gemacht. In einem von diesen, von dem noch zwei Wände stehen geblieben waren, richteten wir ein Feldlazarett ein.

Nachdem auch ich schwer verwundet worden war, wurde ich in ein Hospital geschleppt, wo ich sofort unters Messer kam. Ich hatte eine große Wunde und viel Blut verloren. Doch der Chirurg bearbeitete meine Wunde sehr geschickt und schenkte mir zur Erinnerung ein großes Stück Minensplitter, das er aus meinem Bein geholt hatte. Und so begannen meine quälenden Wochen in den Krankenhäusern. Sieben Monate verbrachte ich in einem Krankenbett. Als ich entlassen werden konnte, bescheinigte man mir den Status eines Invaliden der 2. Gruppe und schickte mich nach Jessentuki nach Hause zur Genesung. Mein junger Organismus, eine gute Pflege und die berühmten Schlammbäder taten das ihre. Ich kam schnell wieder auf die Beine, besser gesagt auf die Krücken. Nachdem ich all die Grauen des Krieges miterlebt und das Sterben meiner Kameraden mit ansehen musste, habe ich mir in meiner Seele geschworen, das ganze Leben für die ewige Ruhe der gefallenen Soldaten zu beten. Ich bin oft in die Nikolaikirche in meiner Heimatstadt Jessentuki gegangen und habe dort erfahren, dass man in Stawropol ein Geistliches Seminar eröffnet. Meine Seele erzitterte voll freudiger Erregung. Dorthin also berief mich Gott der Herr, damit ich mein Versprechen, für meine auf dem Schlachtfeld getöteten jungen Kameraden zu beten, erfüllen kann.

Die ersten, die von 1946-1950 am Geistlichen Seminar von Stawropol studiert haben. Der dritte von links in der zweiten Reihe ist Ilja Voronin.

Ich war einer der ersten, die das Seminar beendet haben und erfülle nun schon ein halbes Jahrhundert voller Freude und dank Gottes Gnade meinen Dienst als Priester. Ehre sei dir oh Herr für deine unzähligen Wohltaten.

Wenn mich jemand fragt, wie ich lebe, dann antworte ich stets: „Ich singe meinem Gott, solange ich lebe.“

 

Abgegeben zur Veröffentlichung auf www.world-war.ru durch die Tochter des Autors
Galina Iljinitschna Voronina.

 Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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