5 März 2013| Kasakowa Raissa Konstantinovna

Mein Vater

Mein Vater

Konstantin Petrowitsch Kasakow

Mein Vater, Konstantin Petrowitsch Kasakow [i], stammte aus einer armen Familie von Waffenschmieden. Er wurde am 18. Januar 1902 in Tula — im Stadtteil Zarechenskij geboren. Die Familie lebte in einem kleinen Haus in der Voznesenskaja-Straße. Alle seinen Verwandten, sein Großvater Spiridon sowie auch sein Vater Pjotr, arbeiteten in der Tulaer Waffenschmiede — seine Mutter Ljubow Vasiljewna, seine Schwestern Sofia und Sinaida in der Patronenherstellung. Sie alle waren Meister ihres Fachs, doch sehr arm. Deshalb musste der kleine Kostja bereits nach der vierten Klasse die städtische Schule verlassen und in einer Gießerei anfangen, wo es seine Aufgabe war, die frisch gegossenen Teile zu waschen. Später dann wechselte er in die Waffenschmiede zu seinem Vater. Während seiner fünfjährigen Tätigkeit im Betrieb dort arbeitete er sich vom Handlanger bis zum Schlosser hinauf.

Um eine ganze Familie ernähren zu können, musste man sich damals noch nebenbei eine Arbeit suchen. Der Großvater reparierte Samoware und Kostja züchtete Tauben, die er dann verkaufte. Von dieser seiner „Nebentätigkeit“ haben wir nur zufällig etwas erfahren. Bereits im hohen Alter fertigte er für seine Enkelkinder auf meisterhafte Art und Weise Flugdrachen an, deren Schwänze er aus Bastwischen fertigte. Als wir sie dann steigen ließen, pfiff er verwegen auf zwei Fingern.

Mit 17 Jahren wurde Kostja Kasakow in den Komsomol aufgenommen. Sein erster Komsomolauftrag bestand darin, Maschinengewehre vom Typ „Maxim“ zu montieren. Damit war er Tag und Nacht beschäftigt. Im März 1920 wurde er vom Stadtkomitee der Russischen Kommunistischen Partei Tula — von den Bolschewiken — zu einem Studium an der Ersten Moskauer Maschinengewehrschule delegiert, die damals im Kreml untergebracht war und die dann in der Folge in Berufsschule des Allrussischen Exekutivkomitees, danach in Berufsschule des Obersten Sowjets und dann später noch einmal in Moskauer Allgemeine Hochschule für das Militärkommando umbenannt wurde. Der Leiter dieser Schule war ein Soldat des 192. Infanterieheers G.M. Oreshkin.

Mein gesamtes Leben vor dem Krieg ist mit dieser Schule des Allrussischen Exekutivkomitees verbunden gewesen, weil wir gleich um die Ecke wohnten. Zwischen dem Gelände der Schule und unserem Haus lag ein Schießstand, der im Moskauer Stadtbezirk Lefortowo schon unter Peter dem Großen eingerichtet worden war. Es war ein wunderbarer Schießstand, denn dort konnte man nicht nur das Schießen mit der Pistole, sondern auch mit einem Maschinengewehr trainieren. Heute ist das Panzerstraße Ecke Volotschaewskaja-Straße, die früher den Namen Buchardinskaja trug. Das Gebäude der Schule selbst lag dort, wo sich heute das Haus der Offiziere in der Krasnokazarma-straße befindet. In der Schule war eine Kaserne und auf dem zentralen Platz wurde den Offiziersschülern das Reiten beigebracht. Es war eine bemerkenswerte militärische Einrichtung. Dort wurden wahre Offiziere herangezogen. Ich würde sogar sagen — eine richtige Offiziersaristokratie.

Meine Schulzeit

Raissa Kasakowa mit ihrem Vater

Ich besuchte zunächst die Allgemeine Grundschule Nummer 405 in der Volotschaevskaja-Straße. Ich kam mit 8 Jahren dorthin. Damals bestand 10 jährige allgemeine Schulpflicht. Ich erinnere mich noch, wie ich das erste Mal die Schule betrat. Wir mussten zu einem Fahnenapell antreten. Danach wurde uns die Schultür von einem älteren, sehr gut aussehenden Wachtmann aufgemacht, woraufhin wir sofort in das Schulgebäude stürmten. In diese Schule gingen fast alles Kinder, deren Eltern in der Fabrik „Hammer und Sichel“ arbeiteten. Die meisten von ihnen waren kräftig und liefen mit einem Messer umher und wussten sich zu verteidigen. Von der ersten Klasse an ging ich mit einem Ranzen in die Schule. Die Trägerriemen waren jedoch schon bald abgerissen, weil wir uns gegenseitig mit unseren Ranzen eine überzogen, so wie es wohl alle Kinder tun. In die Schule ging ich allein, ich hatte keine Begleitung nötig. Doch wenn die Jungs mich am Zopf zogen, tat es schon sehr weh. Mein bester Freund aus der Schulzeit, Wolodja Kusnezow, lebt leider nicht mehr. Über ihn wollte ich sagen, dass er sich, als der Krieg ausbrach, zwei Jahre älter machen ließ und an die Front gegangen ist zu den Panzerfahrern.

Bis heute erinnere ich mich noch an den Namen meiner ersten Lehrerin – Anastasia Grigorjewna. Sie erschien mir damals schon sehr betagt. In Wirklichkeit jedoch war sie gar nicht so alt. Sie trug einen hübschen Dutt und Lockenkringel. Sie war eine bezaubernde Frau und liebte uns wie eine Mutter ihre Kinder.

Wir hatten wirklich sehr gute Lehrer: einen Physiklehrer, einen Mathematiklehrer und eine Lehrerin für Literatur, von denen ich dann später nach dem Krieg noch viel mehr erfahren sollte. Sie alle gaben uns eine solide Basis an Allgemeinwissen, das mir die Möglichkeit eröffnete, nach der Schule an der Mechanisch-Mathematischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität zu studieren. Alles was ich bis heute noch weiß, haben sie mir damals beigebracht. Man merkte schon, wenn sie vorbeigingen, dass es nicht irgendwelche Menschen waren, sondern wirklich zur Intelligenz der besonderen Sorte gehörten. Sie konnten auf sehr interessante Weise den Unterrichtsstoff vermitteln. Nur mit Deutsch hatten wir alle unsere Schwierigkeiten. In den Eliteschulen, die die Kinder Stalins besuchten, wurden Französisch und Englisch unterrichtet. In den gewöhnlichen Schulen – Deutsch.  Immer wenn ich nach Deutschland komme und die deutsche Sprache höre, habe ich das Gefühl, dass ich doch eigentlich im nächsten Moment lossprechen könnte. Es scheint mir, als ob Deutsch trotzdem in mir lebt.

Meine Mutter gab mir immer 10 Kopeken mit in die Schule, von denen ich mir ein Brötchen und noch irgendetwas anderes kaufte. Auch ein Besuch im Kino kostete damals nur ein paar Kopeken. Eine U-Bahnfahrt – 5 Kopeken. Mit den hohen Preisen heute kann ich mich irgendwie nicht abfinden. Wenn ich von der Arbeit komme und sehe, wie in der U-Bahn Kontrolleure die Jungs zu fassen bekommen, die über die Absperrungen springen, sage ich mir immer: „Fragt ihr euch eigentlich, wen ihr da jagt? Das sind doch Studenten, die zehnmal weniger verdienen als ihr!“. Sie bekommen 800 Rubel Stipendium und sollen davon 300 Rubel für eine Monatskarte für Studenten bezahlen. „Nein, — bekam ich einmal zur Antwort – wir jagen keine Russen, sondern nur die Zugereisten“. Ich dachte dann für mich: der Lohn für die Kontrolleure an den Sperren ist wesentlich höher als der Verlust an Einnahmen, den die jungen Leute verursachen, die über die Absperrungen springen.

Also. Vor dem Krieg beendete ich sechs Klassen. Obwohl wir noch sehr klein waren, waren wir doch schon sehr selbständig. Ungeachtet der Tatsache, dass es damals noch keine U-Bahnlinie bis in das Stadtzentrum von Moskau gab – diese wurde erst 1935-36 gebaut – gingen wir vom Stadtbezirk Lefortowa bis ins Stadtzentrum zu Fuß oder benutzen die Straßenbahn. Das ist ziemlich weit. Unser Stadtbezirk galt als ein Problembezirk.

Im Lefortowo-Park wurde regelmäßig in den Wintermonaten eine Eisbahn eingerichtet. Die einfachen Bengels haben uns mit ihren Schlittschuhen oft ein Bein gestellt, um uns so zu Fall zu bekommen. Doch wir hatten die Jungs aus der Militärfachschule des Allrussischen Exekutivkomitees auf unserer Seite, die auf sogenannten „Messern“ – so nannten wir die Schlittschuhe zum Eisschnelllauf  — auf dem Eis unterwegs waren. Die Jungs hatten es wirklich drauf und konnten fabelhaft auf ihnen laufen. Wir hielten sie alle für die Stars der Eisfläche von Lefortowo. Wegen ihnen lies man uns dann auch bald in Ruhe, denn alle hatten Respekt vor den Jungs auf den Schlittschuhen zum Eisschnelllaufen.

Wie sehne ich mich manchmal jetzt noch nach dem Paradies, das sich uns damals durch das Leckereis auftat. Überall standen Eisverkäuferinnen mit ihren Wagen, in denen sich mehrere Kübel befanden: einer mit Sahneeis, ein anderer mit Schokoeis und ein dritter noch mit Fruchteis. So ein Eis kostete nur Kopeken, für 10 Kopeken bekam man immer genug.  Die Eisverkäuferin hatte so eine spezielle Zange, die eine Halbkugel an der einen Seite hatte, in die sie zuerst eine Waffel legte, dann Eis aus den Kübeln kratzte und dann wieder eine Waffel oben drauflegte. Dann drückte sie die Zange zusammen und heraus sprang eine runde Waffel mit Eis darin, an der wir dann leckten. Was jedoch besonders interessant war: auf jeder Waffel war ein Name eingestanzt. Wir versuchten bei jedem Eis, das wir kauften, zu erraten, welcher Namen es denn diesmal sein wird, denn von diesen Namen versuchten wir abzuleiten, wer von den Jungs uns einmal heiraten wird. Jetzt gibt es diese Technologie schon lange nicht mehr, dabei hat sie so viel Spaß gemacht und war so interessant. Man trat zum Eisverkäufer und fragte sich, welcher Name es denn dieses Mal sein wird. Es war immer wie ein richtiger Feiertag.

Wir begeisterten uns für Opern und klassische Musik. Wir hörten Leonid Utesow, Klawdia Schulschenko und Vadim Kosin. Ich war ein Fan von Sergej Lemeschew. Im Theater saß ich immer ganz oben im 5. Rang und lauschte sämtlichen Konzerten und Opern mit ihm. Auch heute noch habe ich alle Schallplatten von ihm. Ich habe kein ideales Gehör, aber wenn jemand die Partien von Lemeschew nachsingt, höre ich sofort, dass dies nicht original seine Stimme ist. Heutzutage singt Nikolaj Baksow manchmal die von mir geliebte Partie des Lenskij aus der Oper Eugen Onegin, doch ich kann das nicht ertragen. Ich verlasse dann lieber den Saal.

An der Fachschule der Allrussischen Exekutivkomitees

In den Jahren 1934-35 befand sich die Fachschule des Allrussischen Exekutivkomitees auf dem Gelände des Kremls. Es wurde einigen Familien von den Kommandeuren sogar erlaubt, im Kreml zu wohnen. So auch uns. Unsere Wohnung lag in einem langgestreckten, gelben, zweistöckigen Gebäude. (heute steht an seiner Stelle der Staatliche Kremlpalast). An einem sehr langen Korridor reihten sich Tür an Tür eine Unmenge von Wohnungen. Außerdem gab es einen ziemlich großen Raum, der allen als Küche diente. Auf dem Korridor fuhren die Kinder Fahrrad. Wir Kinder durften auf dem gesamten Kremlgelände herumtoben. Besonders beliebt war bei uns der Tajnitskij-Garten, der an einen Abhang grenzte. Dieser war im Winter stets mit einer dicken Schneeschicht bedeckt und im Sommer mit dichtem Gras bewachsen. Wir genossen es zu jeder Jahreszeit, uns den Abhang hinabrollen zu lassen.

Unser Leben verlief auf sehr interessante Weise. Mein Vater spielte in unserem Leben eine wichtige Rolle, doch er verschwand immer wieder und war oft nicht zu Hause. Mal hatte er Dienst, dann fuhr er auf Dienstreise oder sonst noch etwas. Ich hatte es gern, wenn mein Vater ganze 24 Stunden Dienste hatte, denn bei diesen Diensten bekamen die Diensthabenden immer Weißbrotschnitten mit Jagdwurst. Schon allein den Geruch, der von dieser Wunderschnitte ausging, kann ich bis heute nicht vergessen. Papa hat diese Schnitten natürlich nie selbst gegessen, sondern für mich aufgehoben.

In der Fachschule des Allrussischen Exekutivkomitees waren wir Kinder in Pioniergruppen organisiert. Die Pionierleiter waren natürlich Offiziersschüler – wohl erzogene und gebildete junge Männer. Sie haben uns viel gezeigt und vermittelt. Wir probten gemeinsam an Theaterstücken und organisierten kleine Zirkel. Doch dann verschwanden sie plötzlich eines Tages alle. Erst nachdem ich erwachsen geworden war, begriff ich, dass sie damals alle zum Krieg einberufen worden waren.  Es tobten der Finnische Krieg und der Grenzkonflikt mit Japan am Chalchin Gol. Wir Kleinen bekamen von all dem natürlich nichts mit. Unsere gesamte Freizeit verbrachten wir zusammen mit anderen Kindern in den Pioniergruppen. Meine Mutter war auf Arbeit, mein Vater auch.

1936 hielt mein Vater auf dem 8. Außerordentlichen Parteitag der Kommunistischen Partei eine Rede. Es war ein wichtiger Parteitag, denn auf ihm ist die Stalinsche Verfassung verabschiedet worden, die dann praktisch das gesamte 20. Jahrhundert die Grundlage unseres Staatswesens gewesen ist. Mein Vater hatte damals den Dienstgrad eines Hauptmanns. Der Hauptmann Kasakow trat also damals mit einer sehr kurzen, aber eindrücklichen Rede auf, die mit den folgenden Worten endete: „Wir haben etwas zu verteidigen und wissen, womit und für wen wir es verteidigen!“ Diese Worte, die einer Losung glichen, wurden später in ganz Moskau überall auf Plakaten ausgehängt. Alle dachten, dass sie von Budjonnyj oder von Woroschilow stammen. In der Tat jedoch stammten sie von einem jungen Hauptmann — von meinem Vater.

K. P. Kasakow auf dem 8. Außerordentlichen Parteitag der Kommunistischen Partei

Mein Vater stellte einen Antrag, nach Spanien versetzt zu werden. Zuerst wollte man seinem Ersuch nicht sattgeben. Dann jedoch war mein Vater auf einmal verschwunden. Er kam einfach nicht nach Hause — einen Tag, zwei Tage. Als er dann plötzlich vor uns stand, haben Mama und ich ihn kaum wiedererkannt. Wir öffneten die Tür und dort stand ein schmucker junger Mann in einem langen violetten Mantel mit einem breiten Gürtel vor uns.

Konstantin Petrowitsch Kasakow

Er zog den Mantel aus und wurde noch schöner, denn er stand vor uns in einem Anzug. Später erfuhr ich, dass man ihn vor der Abreise auf spezielle Weise auf ein Leben im Ausland vorbereitete. Man lehrte ihn, Zivilkleidung zu tragen, denn er wurde dorthin zusammen mit anderen unter falschem Namen geschickt. Man gab ihnen den Namen von Jugoslawen oder Slowaken. Mein Vater war ein richtig schöner Mann: gefühlvolle Augen, leicht gewellte Haare. Er war schlank und asketisch gebaut. Seine Wangen waren leicht eingefallene und er hatte strahlend blaue Augen. Wann man ihn ansah, begriff man sofort, dass er ein Ehrenmann war, ein Mann der Pflicht sozusagen. Er war bereit, sich einer Sache voll hinzugeben, ja sogar für sie zu sterben. Er sagte uns damals aber nichts weiter. Wir verbrachten etwas weniger als einen Tag bei uns zu Hause mit ihm zusammen und dann verschwand er wieder. Meine Mutter konnte sich natürlich denken, wohin.

1936 war ein schwieriges Jahr. Die Überfahrt nach Spanien gestaltete sich sehr kompliziert. Die Deutschen hatten in der Ostsee fast ihr Schiff versenkt. Als sie dann in Spanien ankamen und die spanische Grenze überschritten hatten, wurde bekannt, dass die spanische Revolutionsarmee eine Niederlage erlitten hatte und dass sie auf schnellstem Wege wieder die Heimreise antreten sollten, um nicht in die Hände der Faschisten zu fallen. In Spanien war eine Tragödie geschehen. Die revolutionären Kräfte waren verraten worden. Meinem Vater gelang es jedoch, wieder heil nach Moskau zurückzukehren.

Man brachte damals viele spanische Kinder nach Moskau — auch zu uns in die Schule des Obersten Sowjets. Vielleicht waren ihre Eltern umgekommen oder aber sie waren einfach nur so in die Sowjetunion abgegeben worden. Diese Kinder wurden einzelnen Familien zugeteilt und lebten mit uns. Unsere Pioniergruppen organisierte Treffen mit ihnen. Wir lernten ihre Lieder. Ich erinnere mich noch immer an eins: „No pasarán!“ (Übersetzung aus dem spanischen: „Sie werden nicht durchkommen“).

Wie war unser Alltagsleben?

Es gab damals keine Kühlschränke, deshalb konnte man Fleisch nicht auf Vorrat kaufen. Ja überhaupt kauften wir Fleisch immer nur, wenn es Lohn gab. Dann standen bei uns Bouletten oder sonst noch etwas auf dem Tisch. Sonst waren es eher Getreidegrütze und Kartoffeln. Auch Wurst wurde nur am Zahltag gekauft. Butter hielten wir in einem Wasserbad frisch und im Winter hängten wir Quark und andere Milchprodukte in Taschen vor die Fenster. Es wurde immer alles nur in kleinen Mengen gekauft und nicht so wie heute kiloweise. Wir aßen damals auch nicht so viel wie heute. Es gab damals natürlich keine Schlangen vor den Geschäften.  Man konnte vor dem Krieg überall Krabbenfleisch kaufen. Die Konserven staubten in den Regalen ein. Niemand kaufte sie. Kaviar gab es bei uns zu Hause nicht. Die Wäsche wurde im Waschtrog gewaschen. Meine Mutter schrubbte die Wäsche auf einem Waschbrett.

Wenn wir ein wenig Geld gespart hatten, zogen wir feierlich durch die Geschäfte — auf der Suche nach schöner Kleidung. Für meine Mutter zum Beispiel kauften wir Wolle oder Stoff, um daraus eine Kombination zu nähen. Für meinen Vater gab es diesbezüglich keine Probleme. Er trug seine Uniform und kaufte sich keinerlei Kleidung. Ich war ganz gewöhnlich angezogen: Faltenrock und Baumwollstrümpfe mit Gummizug. Keinerlei Synthetik. Diese kam erst zum Ende des Krieges auf. Sie gelangte zu uns aus dem Westen. Hosen trugen Mädchen damals überhaupt nicht, ja es kam ihnen gar nicht in den Sinn. Es gab keine synthetischen Kragen auf den Pelzmänteln. Alles war aus reinen Tierfellen: Hasen-, Maulwurfs – oder Fuchsfell. Was für Kleider besaß meine Mutter? Mein Vater war nur Hauptmann. Sein Gehalt war nicht sehr hoch, doch es gelang uns trotzdem, Geld beiseite zu legen. Damals gab es wunderbare Seidenstoffe für Frauen zu kaufen: Krepp-Satin und Chinakrepp. In den letzten Jahren hat man hier alle Fabriken eingehen lassen. Es gibt jetzt keinen Chinakrepp mehr aus Russland, sondern nur noch welchen aus Italien oder aus irgendwelchen anderen Ländern. Doch der ist nicht der richtige. Der Stoff damals betonte in fließenden Linien die Figur der jungen Frau. Man musste sich gar keinen besonderen Schnitt ausdenken. Man konnte einfach gerade zuschneiden und trotzdem passte sich der Stoff den Formen des Körpers an. Es sah fantastisch aus. Wenn man sich heute Fotos, die meine Mutter zeigen, ansieht, kommt man ins Staunen — wie schön war doch damals alles!

Im Winter trugen wir Filzstiefel und Gummigaloschen — auch in Moskau. An Stiefel war überhaupt nicht zu denken. Die Galoschen zogen wir immer an. Ich halte sie für ein wunderbares Schuhwerk. Heute tritt man in ein Haus und zieht sich die Schuhe aus. Man bekommt Hausschuhe gereicht. Das ist nicht sehr hygienisch und auch nicht ganz richtig. Ich hatte einen sehr guten Freund. Vasilij Tschitschkow. Er war Journalist und spezialisiert auf Lateinamerika. Er war sehr gut mit Salvador Allende bekannt. Er erzählte mir, dass Allende, wenn er in die Sowjetunion kam, stets sofort ein Schuhgeschäft aufsuchte und Galoschen kaufte — in allen Größen: kleine und große. Sie gefielen ihm so sehr. Besonders schwarze mit rotem Futterstoff. Als Allende dann später zum Präsidenten von Chile gewählt wurde, kontrollierte das Wachtpersonal im Präsidentenpalast seine Anwesenheit im Hause anhand der Galoschen.

Die Frauen trugen Gummischuhe, die sie über ihre Absatzschuhe zogen. Es gab Gummiüberschuhe mit Absatz und welche ohne. Es gab sie aber nicht nur aus Gummi, sondern auch aus Filz und kurze mit Knöpfen. Wenn eine Frau irgendwohin zu Besuch kam, dann zog sie nie irgendwelche Latschen an. Ja, sie zog nie ihre Stiefel aus und musste so nicht dabei ihren Rock leicht anheben. Das Leben war sehr klug durchdacht, es war gesund und rechtens.

Vor dem Krieg wurde die Allunionsausstellung eröffnet. Damals hieß sie noch „Landwirtschaftsausstellung“, doch sie war etwas ganz Besonderes. Jede Sowjetrepublik (es gab insgesamt 15 solche Republiken) hatte ihren eigenen Pavillon. In diesem stellte jede Republik ihre Lebensmittel, ihr Gemüse, ihre Früchte, ja ihre besondere Atmosphäre aus. Jeder Pavillon war wie ein Palast. Alles war ordentlich und zugänglich. Im Pavillon von Georgien gab es Mandarinen und Apfelsinen. Gern gingen wir auf diese Ausstellung. Es war immer ein besonderer Tag. Man betrat einen Pavillon und konnte essen, so viel man wollte. Ich erinnere mich noch an sehr leckere Brötchen, die zur Hälfte aufgeschnitten und in der Mitte mit einer Créme bestrichen waren. Wir fuhren manchmal nur der Brötchen wegen in diese Ausstellung. Unter unseren Familienfotos gibt es eins, das zeigt, wie wir in Festtagskleidung über das Ausstellungsgelände spazieren.

Der Beginn des Krieges

1941 wurde mein Vater aus China abberufen und nach Zhitomir versetzt. Heutzutage versucht jeder mit allen Mitteln, seinen Posten in Moskau zu halten, doch damals kam das niemandem in den Sinn. Wenn es hieß nach Zhitomir, dann hieß es eben nach Zhitomir. Anfang Juni holte mein Vater meine Mutter und mich zu sich auf seine neue Dienststelle, damit wir die Örtlichkeiten anschauen und die nötigen Vorbereitungen für den Umzug treffen können. Auf diese Weise befand ich mich gerade in Zhitomir – das ja ganz nahe an der Grenze lag — als der Krieg begann. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt in einem militärischen Lager. Er hatte uns vom Zug abgeholt, uns in unsere Unterkunft gebracht und war dann sofort wieder fort. Wir blieben mit meiner Mutter allein zurück. Das Haus, in dem wir untergekommen waren, befand sich nicht in Zhitomir selbst, sondern praktisch am Stadtrand. Es gehörte schon zur Armeekaserne. Mein Vater war gerade in einer Fortbildung. Aus irgendwelchen Gründen befanden sich zu Beginn des Krieges viele Armeeangehörige in einer Fortbildung.

Der Krieg begann. Was wir nun tun sollten, wussten wir zunächst nicht. Damals gab es ja noch keine Telefone. Wir sahen die Kämpfe in der Luft, wie die „Messerschmidts“ mit unseren Flugzeugen kämpften. Uns schien es, dass unsere die „Messerschmidts“ abschossen, obwohl wir eigentlich nicht genau erkennen konnten, wer wen abschoss. Plötzlich tauchte Papa vor uns auf. Wir packten schnell unsere Sachen, nahmen unsere Papiere und rannten zum Bahnhof. Wir liefen über den Marktplatz, und plötzlich hörte ich, wie mein Vater mir zurief, dass ich mich an den Zaun drücken sollte. Über uns flog eine „Messerschmidt“. Es war mir unangenehm. Mein Vater war doch ein Held und nun sollten wir plötzlich Angst haben vor irgendwelchen Deutschen?! Nachdem wir uns bis zum Bahnhof vorgekämpft hatten, hatten wir begriffen, dass es hier kein Spiel war. Auf dem Bahnhof bot sich uns ein schreckliches Bild. Ohne anzuhalten fuhren in langsamem Tempo die Züge vor, die völlig mit Menschen überfüllt waren. Meist waren es Frauen. Die einen waren im Pelzmantel — die anderen in Unterwäsche. Die einen waren voller Blut, andere bereits verbunden. Überall hörte man Schreie und Stöhnen. In den Zug wurden vor allem Flüchtlinge geladen, deren Männer und Kinder bereits gestorben waren. Ganz in der Nähe war die Grenze. Alle Waggons waren überfüllt mit Menschen, wie sollte man da noch sein Hab und Gut unterbringen. Es gab nur für Menschen Platz. Der Zug fuhr sehr langsam, ohne anzuhalten. Papa fand für uns einen Platz neben dem Einstieg, wo Soldaten standen. Er schob uns dort irgendwie hinein, die Soldaten gaben uns ihre Hand, halfen uns beim Einsteigen und so fuhren wir los. Das war alles. Von Papa hörten wir dann lange Zeit gar nichts. Wie wussten nicht, was er tat und wie es um ihn stand. Er war an der Südwestfront, wo wir starke Verluste hinnehmen mussten. Den gesamten Weg bis nach Kiew wurde unser Zug ständig von einem „Messerschmidt“ begleitet. Die Soldaten meinten zu uns: „Sobald der Zug beschossen wird, springt sofort ab. Haltet euch nicht aneinander fest. Mutter und Tochter sollten in verschiedene Richtungen auseinander laufen. Wenn der Luftangriff beginnt, dann gibt es für euch beide zusammen kein Überleben“. Doch zu unserem Glück wurden wir von diesem „Messerschmidt“ nicht beschossen.

Als wir in Kiew ankamen, bot sich uns dort ein noch schrecklicheres Bild. Auf dem Bahnhofsvorplatz herrschte das absolute Chaos. Ganze Massen von Frauen, die ihre Kinder und ihr Hab und Gut verloren hatten, schrien und weinten. Es gab aber auch eine komische Sache: Ich lernte dort einen Jungen kennen. Noch bevor wieder etwas Ruhe und Ordnung eingekehrt war, liefen wir mit ihm zusammen vom Bahnhofsvorplatz bis in die Stadt hinein, um dort Spione zu fangen. Wir hatten gehört, dass Kinder den Spionen auf folgende Weise auf die Spur kamen: Diese trugen nämlich Eisenbahneruniformen, die jedoch aus einem Stoff genäht waren, den es bei uns nie zu kaufen gab. Als wir zum Bahnhof zurückkehrten, erschrak ich sehr. Meine Mutter lief hin und her und schrie: „Raja, Raja!“ Doch ich war nicht da. Ungeachtet des gewaltigen Chaos, das herrschte, hatte man es trotzdem fertig gebracht, Güterwagons, ja sogar auch Schlafwagen zur Verfügung zu stellen, um die Massen von Flüchtlingen, die sich hier angesammelt hatten, aus der Stadt zu bringen. So fuhren wir dann in einem Güterwagon bis nach Moskau.

Moskau wurde zunächst noch nicht bombardiert, doch wir Kinder hatten sofort die Aufgabe bekommen, uns neben Sandhaufen zu platzieren und damit die Brandbomben zuzuschaufeln, die unsere Mütter von den Dächern auf den Boden fallen lassen sollten. Moskau rüstete sich für den Kampf. Alle Frauen und Kinder standen auf ihren Posten und sollten die Stadt verteidigen. Unsere Mütter warfen wie wahre Heldinnen Brandbomben, die auf Dächer gefallen waren von diesen zu uns hinunter und wir stürzten uns auf sie und schütteten einen Haufen Sand darauf. Die Brandbomben versprühten ihre Funken in alle Richtungen und sprangen umher. Deshalb war es nicht ganz einfach, sie zu fassen zu kriegen. Sie spucken auf unangenehme Weise Feuer, das, wenn es auf die Haut traf, sofort Brandwunden hinterließ. Dank der gut funktionierenden Zusammenarbeit von allen Moskauern, von Kleinen und Großen, gab es in der Stadt keine größeren Brände.

In Moskau wurden zu Lehrzwecken Luftalarm ausgelöst. Alle versammelten sich dann und begaben sich in die Luftschutzkeller. Zuerst geschah dies stets in großer Hektik. Was sollte man mitnehmen und was nicht? Doch dann nahm alles immer mehr geordnete Züge an. Als dann wirklich Luftalarm ausgelöst wurde, was durch Sirenengeheule und die Stimme von Juri Levitan nicht zu überhören war, nahm meine Mutter nur einen bereits vorher gepackten Koffer und die Tasche mit der Gasmaske mit, und wir machten uns auf den Weg in den Schutzraum. Ich nahm unsere weiße, flauschige Katze und so liefen wir zusammen mit unserer alten Großmutter ins Nachbarhaus in den Luftschutzkeller. Dort überließ ich die Katze der Großmutter und eilte auf meinen Platz am Sandhaufen. Von meinem Vater hörten wir für einige Monate überhaupt nichts.

Die Moskauer klebten auf ihre Fenster Kreuze aus Papier und schlossen abends die Vorhänge. Die diensthabenden Mütter gingen auf Kontrollgang, ob nicht irgendwo durch eine Ritze Licht nach draußen gelangte. Es gingen nämlich Gerüchte um, dass irgendwelche Leute angeblich ihre Fenster öffneten und den Deutschen so Signale gaben. Ob es wirklich so war, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass wir zu Hause jeden Abend die Vorhänge ganz dicht zuzogen.

Die Evakuierung

Die Leitung der Fachschule des Allrussischen Exekutivkomitees beschloss, die Familien ihrer Mitarbeiter aus der Stadt zu bringen. So kam eines Tages ein Lastkraftwagen bei uns vorgefahren, lud uns auf. Damit begann dann unsere Irrfahrt durch das Land. Ich weiß nicht, wer für uns an den Fäden zog und wie wir bis nach Tatarsk, in das Gebiet von Nowosibirsk gelangen konnten. Dort verbrachten wir anderthalb Jahre. Hierzu möchte ich bemerken, dass wir als Evakuierte an jedem Haus anklopfen konnten, ohne erleben zu müssen, dass uns die Bewohner dieses Hauses nicht ihre Türen geöffnet und uns bei sich aufgenommen hätten. Und das obwohl wir ja auch noch ernährt werden wollten, denn wir hatten ja nichts — weder Geld noch irgendetwas anderes. Im Gorkier Gebiet waren die Leute nicht ganz so freundlich. Dort war die Situation schwieriger, aber in Tatarsk war es genau so, wie ich es beschrieben habe.

Wir waren in der Tat sehr arm. Im Garnisonsstädtchen teilte man uns dann ein winziges Zimmer zu. Als wir noch von freundlichen Menschen aufgenommen worden waren, konnten wir uns irgendwie ernähren. Hier waren wir nun auf uns allein gestellt. Meine Mutter fand eine Anstellung im Wehrkreiskommando. Vom Vater war nichts zu hören. Wir hatten auch keine Ausweispapiere, durch die wir als Armeeangehörige einen Anspruch auf Lebensmittel hätten geltend machen können. So musste meine Mutter bis nach Barnaul fahren, um dort Mehl und Nudeln zu kaufen. Sie tauschte das wenige, was wir hatten, in Lebensmittel ein. Das waren meist schon zugeschnittene Stoffe, aus denen sie sich ein Kleid nehmen wollte, es aber noch nicht geschafft hatte. Ich erinnere mich auch, dass wir ein paar Pralinen aus Moskau mitgebracht hatten.

Ich ging damals in die 7. Klasse. Die Schule lag sehr weit von unserem neuen zu Hause entfernt. Ich musste die Bahngleise überqueren. Zu dieser Zeit waren ununterbrochen ganze Züge aus Sibirien mit Waffen und Menschen in Richtung Stalingrad unterwegs. Die Züge hielten nie an, wir jedoch mussten rechtzeitig in der Schule sein. Wir hatten uns genau überlegt, wie man zwischen den Rädern unter dem Zug hindurchschlüpfen könnte, wenn der Zug sehr langsam fuhr. Wir würden durch die Zwischenräume hindurcheilen. Das waren natürlich nur so Fantasien! Der Schnee türmte sich meterhoch und unsere Filzstiefel füllten sich damit, denn niemand räumte ihn weg. Es gab in Tatarsk keine Hausmeister, wie in Moskau, die sich um das Schneefegen kümmerten. Ja, man kannte so etwas gar nicht. Ich kann mich noch bis heute an den Geometrielehrer erinnern, denn er hatte nur einen Arm. Deshalb konnte er natürlich nicht an die Front geschickt werden. Viel später, nach dem Krieg, traf ich ihn einmal an der Mechanisch-Mathematischen Fakultät der Moskauer Universität wieder. Man gab uns damals ein zu einer Tüte zusammengerolltes Zeitungspapier, in das man Zucker streute. Dieser reichte dann für die gesamte Woche. Auch Brot bekamen wir, doch das reichte nie für eine ganze Woche.  Unsere Großmutter sammelte Ähren auf dem Feld und backte daraus Brot. Wir kochten noch irgendeinen Brei. Da meine Großmutter aus einer Bauernfamilie aus dem Gebiet von Orjol stammte, wusste sie einige Tricks, was man machen konnte. Wir pflanzten auch Kartoffeln an.

Die Rückkehr nach Moskau

Raissa Konstantinovna Kasakowa

Eines Tages tauchte auch mein Vater wieder auf. Er schickte uns dreieckige Briefe. Zu Beginn des Jahres 1943 holte er uns nach Moskau zurück. Das war nicht leicht, doch mein Vater, dank der Tatsache, dass er an der Front kämpfte, hatte es durchdrücken können. Zu Hause entdeckte ich dann im Küchenschrank einen ganzen Berg Schokoladentafeln. Mein Vater hatte immer eine Tafel in seiner Verpflegungsration gehabt, die er dann jedes Mal für mich aufhob. Was war das für eine Freude! Mein Vater ging an die Front zurück und schrieb uns weiterhin Briefe. Ich muss sagen, dass mein Vater sich sehr gut ausdrücken konnte. Jeden Tag schrieb er Tagebuch, in denen er von Heldentaten, aber auch von Verrat, von Begegnungen mit wunderbaren Menschen, aber auch mit Schuften, wie man sie heute nennt, berichtete. Jetzt befinden sich diese Tagebücher im Zentralen Museum des Großen Vaterländischen Krieges in Moskau. Das Museum möchte die Tagebücher als Buch herausgeben.

Danach tat es uns natürlich leid, dass wir so weit – bis nach Tatarsk! — gefahren waren. Ich persönlich fand es jedoch eigentlich ganz interessant. In Moskau wohnten wir dann wieder im Stadtbezirk Lefortowo. Lebensmittel gab es auf Karten. Wir fanden daran nichts Besonderes, wir betrachteten es als etwas Natürliches. Wir litten keinen Hunger, obwohl alles sehr knapp war. Man riss eine Marke ab und wenn man gleich zwei abriss, reichten die Lebensmittel für zwei Wochen. Ich ging in die Schule Nummer 408, in der Nähe vom Energieinstitut. Ich erinnere mich noch bis heute an unsere Lehrer. Die Russischlehrerin war so eine dürre und verhungerte. Sie war nicht verheiratet. Wir bekamen jeden Tag in der Schule ein Brötchen. Manchmal schlief die Lehrerin während des Unterrichts einfach ein. Sie war einfach völlig kraftlos. Wir steckten ihr dann heimlich ein paar Brötchen in ihre Tasche, damit sie zu Hause etwas zu essen hat. Wir hörten im Unterricht Schallplatten, lasen Shakespeare und Puschkin. Das meiste, was ich über Puschkin weiß, habe ich von ihr gelernt. Wenn sich jemand von uns in seiner Freizeit für einen speziellen Autor zu begeistern begann, der im Unterricht nicht vorgesehen war, zum Beispiel W. Shakespeare oder W. Majakowskij, brachte uns diese Lehrerin ihre Werke mit in den Unterricht. Sie liebte Majakowskij und so begannen auch wir an ihm Gefallen zu finden. Wir hörten aufmerksam zu, wenn sie uns seine Gedichte vorlas. Ich kann bis heute noch einige seiner Gedichte auswendig aufsagen, obwohl Majakowskij damals nicht gerade sehr gern gesehen wurde.

Hört mal her!

Wenn nämlich die Sterne entzündet werden,

heißt das – das wäre jemandem nötig?

Heißt das – jemand möchte, dass es sie gibt?

Heißt das – jemand nennt diese Rotzfleckchen Perlen?

Und, sich durch staubige Schneestürme
mittäglich kämpfend,

in der Furcht, sich zu verspäten,

drängt sich dann jemand zu Gott empor,

heult,
küsst dessen sehnige Hand,

bittet,
dass unbedingt ein Stern da zu sein hat!

–
schwört –
dass er diese sternlose Qual nicht mehr aushält!

Und später
geht er besorgt,
doch äußerlich ruhig,

sagt jemandem:
»Macht dir das nichts aus?

Ist das nicht schrecklich?
Ja?!«

Hört mal her!

Wenn nämlich die Sterne
entzündet werden,

heißt das – das wäre jemandem nötig?

Heißt das – es ist unverzichtbar,

dass jeden Abend
über den Dächern

zumindest ein Stern erstrahlen muss?!

Mathematik war nicht einfach nur endloses Pauken. Unsere Lehrerin war ein sehr guter Mensch und versuchte uns einzutrichtern, dass man jede Ziffer lieben müsse und jede mathematische Formel an sich sehr interessant sei. Und unser Physiklehrer erst! Wir alle waren in ihn verliebt. Heutzutage würde aus ihm sicher ein bedeutender Wissenschaftler werden. So hervorragend beherrschte er sein Fach.

Ich ging damals in die 8-10. Klasse. Wir Mädchen waren alle jung und bildhübsch. An unserer Schule gingen oft Studenten vorüber – der eine schöner als der andere, wie es uns schien. Und wir Mädels stolzierten auf den Fenstersimsen in unseren Galoschen herum, um sie auf uns aufmerksam zu machen. Später dann an der Uni traf ich auf solche Studenten. Diese meinte nur: „Die Mädels haben den Verstand verloren!“ Wir gingen damals nicht zusammen mit den Jungs in eine Schule. Doch es gab Tanzzirkel, wo wir zusammen kamen. Die waren wunderbar. Ich konnte deshalb auch gut tanzen. Ich sehe mir heute manchmal Tanzturniere an und muss innerlich grinsen. Wie die sich da heutzutage abquälen. Für uns stellten alle diese Tänze damals keine Hürde dar. Wir tanzten Krakauer, Pas du patineur und Pas de grace. Man kannte damals keine lateinamerikanischen Tänze. Wir tanzten russische und die gelangen uns hervorragend. In der Schule verbrachten wir auch unsere Freizeit auf sehr interessante Weise. Wir organisierten Feste, schleppten von zu Hause Teppiche an und Schränkchen für kleine Theaterstücke.

In der 8. Und 9. Klasse belegte ich dann einen Kurs für Krankenschwestern. Wir hatten jeden Tag Unterricht und gingen danach in das Krankhaus von Lefortowo, da es nicht genug Krankenschwestern gab. Es reichten nicht einmal die Frauen, die neben den Kranken am Bett saßen. Und so waren wir es, die den Verwundeten Gedichte vorlasen und für sie Briefe schrieben. Doch viel mehr halfen wir mit einfachen Pflegetätigkeiten. Wir wuschen sie, wischten den Boden, und brachten Medikamente herbei. Man hat mir den Titel Veteran des Krieges zuerkannt. Obwohl ich habe nicht am Krieg teilgenommen, gelte ich trotzdem als Veteran, weil ich in dieser Zeit in einem Krankenhaus gearbeitet habe. Dort lagen ganz junge Männer und wir Mädels – wir waren ja auch ganz jung – hatten mit ihnen Mitleid. Im Sommer fuhren wir aufs Feld. Dort mussten wir einer Kolchose bei der Ernte helfen, also beim Mähen und Zusammentragen des Korns. Ich lernte damals, Weizen mit der Sichel zu ernten und Weizen von Roggen zu unterscheiden. Den Moskauern gab man damals kleine Grundstücke im Umland der Stadt, damit sie dort für den Eigenbedarf Kartoffeln anpflanzen können. Das war für alle eine wirkliche Hilfe.

Nach der Schule war allen klar, dass es das Beste für mich wäre, an der Mechanisch-Mathematischen Fakultät der Moskauer Universität zu studieren. Ich war sehr gut in Mathematik, mochte dieses Fach und hatte wirklich Ahnung. So schien es mir, dass ich an dieser Fakultät am besten aufgehoben sein würde. Die Aufnahmeprüfungen waren schwer, doch ich habe es geschafft. Es war damals nicht so ein Ansturm. Dann begannen meine Jahre an der Universität, doch das ist schon eine ganze andere Geschichte.

Das Foto wurde uns freundlicherweise aus dem Familienalbum zur Verfügung gestellt.

Der Text wurde auf Grundlage eines Interviews durch Tatjana Aleschina verfasst.

 


[i] Konstantin Petrowitsch Kasakow (18. November 1902 – 25. August 1989) – Sowjetischer Heerführer, Marschall der Artillerie.

 Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru


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