Eine Neujahrsgeschichte
Der Beginn dieser Geschichte geht bis in das weit vor dem Krieg liegende Jahr 1935 zurück. Zugetragen hat sie sich in einer großen Gemeinschaftswohnung, die aus zwölf Zimmern bestand, wie es dieser viele gab im damaligen Leningrad. In dieser Wohnung, in der Kowenskij-Gasse im Zentrum der Stadt, in der dritte Etage eines dreistöckigen Hauses, wohnten zwölf Familien zusammen. Es gab einen langen Korridor, von dem die Türen zu allen Zimmern abgingen. Der Korridor führte durch die gesamte Wohnung, von der Eingangstür bis in die Küche, und diente den kleinen Bewohner als wunderbarer Spielplatz.
Die besten Ecken für das Versteckspiel waren die unzähligen Truhen und Schränke – in denen allerlei notwendige und überflüssige Dinge lagen, die sich bei jeder Familie so über die Jahre angesammelt hatten. In einem der Zimmer, das einer Lehrerfamilie gehörte, wohnte ein Mädchen. Damals war sie gerade erst einmal 6 Jahre alt. Heute ist sie schon eine ältere Dame und wohnt in einem der neuen Stadtviertel von Sankt Petersburg. Nachdem sie mir diese Geschichte erzählt hatte, bat sie mich, ihren Namen nicht zu nennen, und aus diesem Grunde nennen wir sie einfach nur das Mädchen. Die meiste Zeit waren die Eltern des Mädchens auf der Arbeit. Deshalb war sie schon von klein auf an recht selbständig. Sie ging in das Geschäft und kaufte Lebensmittel, bereitete auf dem Kerosinofen kleine, einfache Gerichte und fegte, wenn ihre Familie an der Reihe war, den Boden im Korridor und in den anderen gemeinschaftlich genutzten Räumen. Die Last der Sorgen, die ganz und gar nicht denen von Kindern entsprachen, haben das Mädchen sehr viel ernster werden lassen, als sie es eigentlich ihrem Alter entsprechend hätte sein sollen. Sie war nie dabei, wenn die anderen Kinder gemeinsam irgendwelchen Schabernack ausheckten und hat auch nie, wenn es nicht nötig war, das Zimmer verlassen.
Einmal, es war kurz vor Neujahr 1936, hatten die Bewohner der Wohnung gemeinsam beschlossen, für die Kinder in der Küche einen Tannenbaum aufzustellen und ihn mit Spielzeug zu schmücken, von dem es in jeder Familie etwas gab. Eine Stunde vor Neujahr wurden die Kinder in den Zimmern eingeschlossen und an den Tannenbaum Geschenke gehängt – Stoffpuppen, Plüschbären, Hasen aus Presspappe usw. Dabei hatte man darauf geachtet, dass genauso viel Spielzeug an den Tannenbaum gehängt wurde, wie es Kinder in der Wohnung gab. Danach begaben sich die Erwachsenen alle wieder in ihre Zimmer. Zu Mitternacht wollten sich dann alle wieder in der Küche treffen und gemeinsam das Neue Jahr begrüßen. Die Kinder hatten natürlich gemerkt, dass die Erwachsenen etwas für sie vorbereitet hatten, doch als sie so einen großen Tannenbaum erblickten, der noch dazu mit einer solchen Fülle an Spielzeug und Geschenken behängt war, waren sie außer sich vor Freude.
Die Kinder liefen um die Schönheit aus dem Walde herum, betrachteten das Spielzeug, das sie vorher noch nicht gesehen hatten, und streckten ihre Hände danach aus. Doch die Erwachsenen wollten den Kindern eine noch größere Freude bereiten. Dafür hatten sie sich folgendes ausgedacht. Jeder der kleinen Bewohner der Wohnung sollte aus einer Mütze einen Zettel ziehen, auf den eine Nummer geschrieben war. Diese Nummer besagte, in welcher Reihenfolge jedes Kind an den Tannenbaum herantreten und sich das Spielzeug nehmen sollte, das ihm am besten gefiel. Das Mädchen war als letzte an der Reihe und stellte sich seufzend an das hintere Ende der Reihe. Die Kinder traten ordnungsgemäß, der Reihe der von ihnen gezogenen Nummern nach, an den Tannenbaum heran und nahmen sich von den Zweigen die Spielzeuge, die ein jeder sich ausgeguckt hatte. Die Erwachsenen waren sehr zufrieden mit ihrer Idee. Doch die Kinderaugen, die zuerst wegen dieser Fülle an Geschenken und wegen der Möglichkeit, sich jedes nehmen zu können, geleuchtet hatten, wurden immer trauriger. Das Lachen verschwand von den Gesichtern derer, die am Ende der Schlange standen, denn es gab ja nur so viele Geschenke, wie es Kinder gab, und von den schönsten wurde eines nach dem anderen vom Tannenbaum genommen.
Als das Mädchen an der Reihe war, hing an dem Baum nur noch eine Puppe. Das Mädchen trat langsam auf den Baum zu, ging rund um ihn herum und, nachdem sie sich überzeugt hatte, dass zwischen den Nadeln außer der Puppe nichts mehr hing, seufzte es leise, nahm die Puppe vom Zweig und drückte sie an sich. Dabei versteckte es die Tränen, die ihr in den Augen standen, und setzte sich in eine Ecke auf einen Hocker. Die anderen Kinder liefen kreuz und quer durch die große Küche und tauschten untereinander ihre Geschenke aus. Zu ihr kam niemand, denn niemand wollte mit ihr tauschen. Nach einer Stunde gingen die erschöpften Kinder und Erwachsenen in ihre Zimmer. Auch das Mädchen ging in ihres, zog sich aus und nahm die Puppe mit sich ins Bett, wo sie bald eingeschlafen war. In dieser Nacht träumte sie dann, dass sie diesen wunderbaren Plüschteddy bekommen habe, der ihr mehr als all die anderen Spielzeuge gefallen hatte. Sie lief mit ihm durch die Wohnung, drückte ihn an sich und küsste ihn.
Die helle Sonne des neuen Tages weckte das Mädchen. Sie öffnete voller Hoffnung die Augen, doch statt eines wunderbaren Teddys schaute eine Stoffpuppe sie an. Dem Mädchen jedoch schien es, dass von dieser seelenlosen Puppe irgendwie Wärme ausging. Sie ist jetzt meine Tochter – dachte sie bei sich und entschied, ihr ein Neujahrsgeschenk zu machen. Nur mit einem dünnen Hemd bekleidet, lief das Mädchen in die Küche, brach aus den unteren Ästen des Tannenbaumes einen Zweig und bastelte aus einem Stück Zeitung eine kleine Tüte. Dorthinein legte sie einen Lutschbonbon und ein Stück Brot, ein Stück Kartoffel und ein Bonbonpapier. In ihrem Zimmer setzte sie dann die Puppe in ihrem kleinen Schrank auf den Tannenzweig und legte die kleine Tüte mit dem bescheidenen Gaben daneben. Das Mädchen sprach mit der Puppe voller Zärtlichkeit und versprach ihr, sie nie zu verlassen und ihr auch etwas Böses zu tun.
Es verging ein Jahr. Die Erwachsenen veranstalteten für die Kinder nie wieder ein solches Neujahrsfest, doch das Mädchen bereitete wie auch im letzten Jahr für ihre Puppe zu Neujahr ein kleines Geschenk. So war es dann auch die nächsten fünf Jahre. Mit dem Beginn des Krieges verwaiste die große Gemeinschaftswohnung immer mehr. Die einen hatte man evakuiert, andere hatten es zu ihren Verwandten geschafft und waren nicht wieder zurückgekehrt. Der Vater des Mädchens war an der Front vor Leningrad und konnte so seine Familie hin und wieder besuchen, um den Seinen etwas von seiner Verpflegung, die er als Soldat erhielt und von der er immer etwas aufhob, abzugeben. Mutter und Tochter hatten sich deshalb zunächst entschieden, die Stadt vorerst nicht zu verlassen.
Es kam der Herbst und es begannen die Bomben zu fallen auf die Stadt und ihr Beschuss aus der Luft. Bald wurden Lebensmittelmarken eingeführt. Die Mutter des Mädchens arbeitete in einem Krankenhaus und die ganze Verantwortung, die wenigen Lebensmittel, die man auf die Marken bekommen konnte, zu besorgen, lag nun auf den Schultern des Mädchens. Um das wenige Essbare zu bekommen, das mit jeder Woche noch immer weniger wurde, musste das Mädchen stundenlang in der Kälte stehen, die der alles durchdringende Wind fast unerträglich werden ließ. Als dann die Wasserversorgung zusammengebrochen war, ging sie mit zwei kleinen Eimern zur Newa, um dort Wasser zu holen – drei Kilometer hin und drei Kilometer wieder zurück. Einmal im Herbst, gegen Morgen, krachte es. Es hatte eine gewaltige Explosion gegeben. Die Fenster im Zimmer erbebten und wären fast zersprungen. Die Bewohner des Hauses stürzten auf die Straße. Auch das Mädchen rannte aus dem Haus und hielt in ihren Armen das teuerste, was es hatte – die Lebensmittelmarken und ihre Puppe. Neben dem Haus stand eine Kirche Nun war von dieser nur noch eine Ruine geblieben. Dabei hätte die Bombe auch ihr Haus treffen können. Im Dezember 1941 war die Brotration noch einmal stark reduziert worden. Der Vater konnte wegen der Blockade seine Familie schon nicht mehr besuchen. Die Mutter des Mädchens brachte aus dem Krankenhaus nur irgendwelche winzige Krumen an Essbarem nach Hause.
So zeigte der Kalender dann auch bald den 31. Dezember 1941 und damit kam die Neujahrsnacht. Hinter dem Fenster, das mit Lumpen aus den Truhen der Nachbarn, die die Stadt verlassen hatten (alles Holz und somit auch die Truhen war schon längst im Kanonenofen verheizt worden), verhangen war, klirrte der Frost mit dreißig Grad unter Null. Auf dem Tisch lagen einige Stücke Brot, das sie gerade erst bekommen hatten — zur Hälfte aus einer undefinierbaren Masse — und etwas Sülze, die sie aus Leim gekocht hatten, und zwei Stückchen Zucker. Auf zwei, fast zerbrochenen Stühlen saßen eine Frau und das zehnjährige Mädchen.
Sie warteten darauf, dass die Uhr 12 schlagen möge, um mit ihrem einfachen Mahl das neue Jahr zu begrüßen. Plötzlich lief das Mädchen, nachdem ihm irgendetwas eingefallen war, zu ihrem kleinen Schrank und holte von dort fünf kleine Tüten hervor. Sie setzte voller Zärtlichkeit die Puppe auf den Tisch und warf ohne nachzudenken ein Stück Stoff über sie. Daraufhin wickelte sie eine Tüte aus und legte ihren Inhalt neben die Puppe. Fünf kleine schwarze trockene Brotscheiben, fünf Lutschbonbons und fünf schöne Bonbonpapiere erschienen der Mutter und dem Mädchen wie ein Wunder aus einer anderen, schon vergessenen Welt. Ihnen stieg der Duft richtigen Brotes, wie es das vor dem Krieg gegeben hatte, in die Nase. Sie lutschten an den Bonbons und falteten das Bonbonpapier, dass noch immer nicht seine Farbenpracht verloren hatte, und erinnerten sich an den ersten Tannenbaum und an das letzte Spielzeug, die Puppe, die damals für das Mädchen übrig geblieben war und die sie jetzt, wie es ihnen schien, vor dem Hungertod gerettet hatte. Die Puppe hatte sie in ihren Gedanken in die Zeit zurückversetzt, die sich schon aus ihrem Gedächtnis ausgelöscht hatten. Es schien ihnen, dass es im Zimmer ein wenig wärmer geworden war und dass die ganz abgemagerten Wangen des Mädchens leicht rosafarben schimmerten.
In dieser Neujahrsnacht schlief das Mädchen zusammen mit ihrer Puppe ein, umarmte sie mit ihren dünne Ärmchen. Doch in dieser Nacht träumte sie schon nichts mehr. Am Morgen des ersten Tages des Neuen Jahres nahm sie wie immer das kleinste der Tütchen und legte dort fünf Gramm Brot hinein – von dem Brot der Leningrader Blockade. Wie viel es war – 5 Gramm – das wusste sie ganz genau, denn sie bekam so viel für eine Karte. Voller Vorsicht nahm das Mädchen das Tütchen, brachte es in ihren Schrank und legte es neben die Puppe. Im nächsten Jahr brachte das Mädchen ihrer Puppe schon 10 Gramm Brot. Im Dezember 1944, zum letzten Neujahr vor dem Sieg, lagen neben der Puppe dann schon vier Tütchen unterschiedlicher Größe. Aus dem kleinen Mädchen war ein junges Mädchen geworden und dann eine Frau. Doch diese Nacht im Dezember 1941 hat sie nie vergessen, wie auch nicht ihre Puppe, die, wie es ihr schien, sie vom Hungertod gerettet hatte.
Sie war überzeugt, dass diese Puppe ihrem Hause Glück gebracht hat, denn auch ihr Vater kehrte lebendig und unversehrt aus dem Krieg zurück. Ja, und dann heiratete sie einen wunderbaren Mann und nun ist die Zeit gekommen, ihrer erwachsenen Tochter diese Geschichte von der Puppe zu erzählen und sie ihr zu übergeben als den kostbarsten Besitz ihrer Familie. Ihre Tochter wird diese dann ebenso irgendwann einmal an ihre Tochter weitergeben und alle Frauen ihrer Familie werden sie für immer bewahren, behüten und beschützen, denn ohne diese Puppe wäre der dünne Faden des Lebens der Familie des Mädchens beinahe zerrissen.
Eingeschickt zur Veröffentlichung von Semjon Fjodorowitsch Schmelkin, Sankt Petersburg
Uebersetzt von Henrik Hansen
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