1 Dezember 2014| Ratner Lilja Nikolaewna

Eine andere Wirklichkeit

Lilja Nikolaewna Ratner

Mein Bruder war, während man uns evakuiert hatte, nicht sehr lange mit uns zusammen. Er hatte dort auf einem Stützpunkt für Landmaschinen gearbeitet. Dann ist er nach Moskau zurückgekehrt, da er von der Hochschule für Energietechnik, bei der er vor dem Krieg angefangen hatte zu studieren, zurückbeordert worden war, um sein Studium fortzusetzen.

Ich habe ihn vergöttert, besonders in meiner frühen Jugend. Er konnte mir auf alle Fragen, die ich mir nicht getraut hatte, meinen Eltern zu stellen, eine Antwort geben. Vor ihm hatte ich keine Scheu. Er war sehr klug und er hatte sich ganz allein und selbständig all das angeeignet, was nötig war, um unsere Wirklichkeit zu begreifen. Ich erinnere mich noch – wir hatten die „Prawda“ und die „Iswestja“ abonniert. Dort waren solche riesigen Interviews über ganze 2 Seiten abgedruckt, in denen es zum Beispiel um folgendes ging: „Die Anhänger von Mendel gegen die von Morgan“ oder „Alleinstehende Kosmopoliten“ oder „Mörder in weißen Kitteln“. Ich hatte immer schon Angst, wenn ich diese Seiten allein nur ansah, obwohl ich gar nicht verstanden habe, worum es da ging. Natürlich habe ich dann immer meinen Bruder gefragt. Er hat mir auch alles erklärt. So habe dann auch ich, noch bevor ich 17 geworden war, so einiges begriffen. Es wurden damals ganze Kampagnen gegen bestimmte Gruppen von Intellektuellen gefahren — gegen Gelehrte und Ärzte, um diese zu diskreditieren. Ganze Wissenschaftszweige wollte man damals zunichte machen, wie zum Beispiel die Genetik (Morgan und Mendel). Sie wurde zur  Pseudowissenschaft erklärt und ihre Anhänger wurden auf grausame Weise gebrandmarkt. Die „alleinstehenden Kosmopoliten“ – damit waren die Theater- und Literaturkritiker gemeint, die über westliche Autoren und Dramaturgen schrieben. Die Kampagne „Mörder in weißen Kitteln“ war gegen die besten Ärzte gerichtet. Viele von ihnen hatten im Krankenhaus des Kremls gearbeitet. Es waren hauptsächlich Juden. Sie wurden deshalb angegriffen, weil sie angeblich bei der Behandlung der höchsten Persönlichkeiten der Regierung falsche Therapien eingeleitet hätten – mit dem Ziel, diese zu töten. Die „Schuldigen“ wurden inhaftiert, nach dem Tode Stalins dann aber wieder frei gelassen und rehabilitiert.

Meine Eltern waren beide Ärzte und auch unsere Nachbarn in der großen Gemeinschaftswohnung, die meine Eltern immer kostenlos behandelt hatten, haben dann plötzlich angefangen zu lästern: „Sind etwa nicht auch unsere Nachbarn hier jüdische Ärzte? Wir benutzen doch zusammen ein und dieselbe Küche. Was ist, wenn sie uns etwas ins Essen mischen? …“

Als mein Bruder Student war, haben meine Eltern ihn verpflichtet, mir von seinem Stipendium etwas Taschengeld zu zahlen. So hat er mir von seinem Stipendium immer etwas abgegeben. Es war nur eine kleine Summe, doch für mich war die Geste von ungeheurer Bedeutung. Er hatte auch eine Freundin, die er fünf Jahre lang umworben hat. Wenn die beiden ins Theater gingen, dann haben meine Eltern darauf bestanden, dass sie auch mich mitnehmen. Und das haben sie auch immer getan. Das ist wirklich bemerkenswert! Sie haben mich an das Theater herangeführt. Können Sie sich so etwas in der heutigen Zeit vorstellen?

Meine Mutter war nicht religiös. Zu dieser Thematik hat sie immer nur gesagt: Das Gesetz ist im Herzen festgeschrieben. Zu Hause haben weder mein Vater noch meine Mutter jemals von Gott gesprochen. Wenn ich sie nach Gott gefragt hätte, dann hätten sie mir gesagt, dass es ihn nicht gebe. Am 16. Oktober 1941 war mein Vater in Moskau. Die Deutschen standen vor den Toren der Stadt und alle glaubten, dass sie die Stadt im nächsten Augenblick erobern werden.  Mein Vater hat alle unsere offiziellen Papiere und Fotos vernichtet. Erst nach vielen Jahren, nach seinem Tod, habe ich in einem Versteck im Schrank  etwas gefunden, wofür man ihn auf der Stelle erschossen hätte: es war eine kleine Schriftrolle mit der Thora und ein Kästchen mit mehreren Gebeten, das sich die Juden, wenn sie beten, an die Stirn binden. Dies alles hatte er aufbewahrt. Das hat mich staunen lassen.  …

***

In der Schule habe ich stets mit großer Begeisterung Aufsätze geschrieben, die dann oft in der Klasse laut vorgelesen wurden. Ich mochte Literatur und ich entschied, dass ich mich, wenn ich die Schule mit Auszeichnung beenden sollte, dann an der Philologischen Fakultät einschreibe, da man sich, wenn man ein Ausgezeichnet hatte, ohne Aufnahmeprüfungen einschreiben konnte. Wenn ich aber kein Ausgezeichnet bekommen sollte, dann werde ich mich mit Kunst beschäftigen, die mich sehr interessiert hat. Und eines Tages hat mein Vater, der immer sehr aufmerksam verfolgt hat, wofür ich und mein Bruder uns interessierten, erfahren, dass es in unmittelbarer Nähe unseres Hauses, auf dem Gartenring ein Polygraphisches Institut gibt, das Kunstbände herausgibt. Das war genau das, was ich suchte, denn hier kamen Literatur und Kunst auf ideale Weise zusammen.

Der erste Versuch, dort einen Studienplatz zu bekommen, blieb erfolglos. Ich wurde ich nicht angenommen, weil ich mich nicht speziell vorbereitet hatte. Außer Geschichte und Literatur musste man auch 4 Prüfungen ablegen, für die man besondere Fertigkeiten brauchte: Zeichnen, Bildkomposition, Illustrieren und Kleine Formen. So bin ich dann daraufhin jeden Tag mit zwei Freundinnen in das Museum für Bildende Kunst gegangen, wo wir Gipsfiguren abgezeichnet haben. Jeden Werktag! Das war eine Qual, denn es gab im Museum Besucher, die sich hinter uns gestellt und uns bei Arbeit zugeschaut haben. Dabei haben einige immer mal wieder verschiedenste ironische Bemerkungen fallen lassen. Ein Jahr später wurde ich dann angenommen, das war 1950. Das Institut war wunderbar, wenn auch etwas laienhaft. Doch dort unterrichteten sehr gebildete Professoren und Dozenten, durch die das Studium für uns sehr interessant wurde.

Meinem Charakter nach bin ich ein Perfektionist. Wenn ich etwas mache, dann bemühe ich mich, es so gut wie möglich zu tun. Für die Jahresarbeiten wählte ich immer die schwierigsten Themen. Zum Beispiel habe ich mir einmal den „Mantel“ von Gogol gewählt. Heute würde ich alles ganz anders angehen. Ich würde erst einmal kleine Zeichnungen für die Seitenränder anfertigen und erst dann ganze Seiten illustrieren, denn das war sehr schwer. Aber damals hatte man eben noch nicht das nötige Können dazu.

In dieser Zeit begann ich mich auch für Religion zu interessieren. Irgendetwas hat mich angezogen. Für meine Diplomarbeit wählte ich ein Büchlein, dass vom Gesichtspunkt, wie man es interessant illustrieren könnte, völlig unvorteilhaft und unpassend war. Es war das Buch von Michail Michailowitsch Prischwin „Mein Land“. Prischwin ist ein wunderbarer Schriftsteller und ein tief religiöser Mensch. Er hat geschrieben: „Ich schreibe über die Natur, doch dabei denke ich immer nur an die Menschen“. Er konnte nicht von Gott schreiben. Doch er hat über ihn mittels der Natur geschrieben. Das habe ich gefühlt. Ich habe alles von ihm von vorne bis hinten durchgelesen. Man findet bei ihm zum Beispiel solche Worte: „Heimat ist nicht dort, wo ein Mensch geboren worden ist, sondern vielmehr da, wo er sich selbst gefunden hat“. Ich habe diese Worte meiner Arbeit als Epigraph vorangestellt. Doch gerade zu dieser Zeit lief die Kampagne gegen den sogenannten „Kosmopolitismus“ auf Hochtouren. Man durfte nichts anderes lieben, als die sowjetische Heimat.

Oder aber diese Worte: „Mein Freund, es gibt für dich weder im Norden noch im Süden einen Platz, wenn du selbst zerschlagen bist. Die ganze Natur ist für einen zerschlagenen Menschen ein Feld, auf dem die Schacht verloren ging. Doch wenn selbst allein wilde Moore Zeugen waren deines Sieges, dann werden auch sie voll wunderbarer Schönheit erblühen und der Frühling wird auf immer in dir sein“. Solche Dinge haben mich tief berührt.

Meiner Abschlussarbeit habe ich eine riesige Erklärung beigelegt, in der ich alle diese Dinge erläutert habe. Ich erinnere mich noch, dass man nicht nur Zeichnungen anfertigen, sondern auch die ökonomische Seite berechnen musste. Ich wollte einen Einband in den Farben der Winterdämmerung. Können Sie sich vorstellen, dass es in der Druckerei nur 4 verschiedene Ledertypen für den Einband gab: blau, schwarz, rot und braun? Es war sehr schwer, den gewünschten Farbton durchzusetzen. Doch irgendwie ist es mir gelungen. Doch was ich eigentlich sagen wollte, mein Mentor hat mich davon überzeugen wollen, auf mein Epigraph – auf jene Gedanken zur Heimat — zu verzichten, worauf ich ihm entgegnet habe: um nichts in der Welt. Für kein Geld dieser Erde! Und so habe ich es dann auch drucken lassen. Doch bei der Verteidigung ist er dann gegen mich aufgetreten. Das war in der Geschichte des Institutes nur sehr selten vorgekommen, dass der Mentor eines Diplomanten gegen seinen Schützling aufgetreten ist. Er hatte die Moskauer Kunsthochschule, das sogenannte Höhere Künstlerisch-Technische Institut, absolviert und war zu seiner Zeit in vielen Schlachten gegen den Formalismus geschlagen worden und wusste deshalb, wie es auch einmal für mich enden könnte.

Doch ich hatte keine Angst. Ich war so überzeugt, dass die Wahrheit immer die Wahrheit bleibt. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, irgendwelche Umwege einzuschlagen. Ich habe mich nicht als Held gefühlt und deshalb auch nicht einkalkuliert, dass man mir mein Diplom nicht anerkennen könnte. Ich war glücklich, dass ich das so für mich begriffen hatte. Es ist in der Tat so, dass es, wenn man von der Wahrheit mitgerissen wird, nichts gibt, was einen erschrecken könnte. Dabei war ich mir sehr wohl bewusst, was im Land so alles vor sich geht. Ich habe nämlich regelmäßig einen Kreis von Leuten besucht, wo man sich Gedichte vorlas, die verboten waren. Man durfte damals nicht einmal Sergej Jesenin lesen. Auch Anna Achmatowa war offiziell verboten. Von Marina Zwetajewa und Nikolaj Gumiljew habe ich deshalb erst in meiner Studienzeit etwas erfahren. Das alles galt als ein Verbrechen, wofür man hätte ins Gefängnis wandern können. Es war so ein Empfinden, dass man eine Art Staatsverbrecher war, doch man wusste nicht warum. Es war auch verboten, sich für die neusten Tendenzen in der Bildenden Kunst zu interessieren. All das war untersagt. Alle Ritzen, durch die westliche Kultur zu uns hätte eindringen können, waren dicht verschlossen worden. Sich dafür zu interessieren, galt als ein furchtbares Verbrechen.

Nachdem ich das Polygraphische Institut beendet hatte, hab ich dann an der Moskauer Staatlichen Universität Kunstgeschichte studiert. Damals war es nicht erlaubt, ein zweites Mal zu studieren. Man musste es also irgendwie verbergen, dass man bereits einen Hochschulabschluss hatte. Der Altersunterschied zwischen mir und den anderen Studenten war nur fünf Jahre. Doch ich war ein ganz anderer Mensch als sie. Ich hatte großes Interesse an allem, was dort in den Vorlesungen vermittelt wurde. Heute verstehe ich die Kunstgeschichte völlig anders. Durch das Prisma des Christentums erscheint sie in einem völlig anderen Licht. Das war alles sehr interessant. Doch trotzdem habe ich begriffen, dass ich kein Theoretiker sein möchte und habe deshalb weiterhin gezeichnet.

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Lilja Ratner

Freunde waren plötzlich verschwunden – das war damals normal. Ich erinnere mich noch, dass meine Freundin mit Kostja Bogatyrew befreundet war. Er hat Rainer Maria Rilke übersetzt. Er war älter als wir. Einmal hat sie zu mir gesagt: „Irgendwie ist Kostja verschwunden“. Ich entgegnete ihr: „Fahr doch mal zu seinen Eltern! Vielleicht hat man ihn festgenommen?“ Sie ist dann in der Tat zu ihnen gefahren und wirklich, man hatte ihn inhaftiert. Wir sind damals in die Natur gegangen für Skizzen und Etüden. Wir haben gemalt und gezeichnet. Einerseits haben wir uns des Lebens gefreut, doch gleichzeitig hatten wir immer Angst. Wenn ich auf dem Weg nach Hause war, dann erschien es mir immer, als ob jemand hinter mir hergehen würde. So habe ich dann schon ganze Nächte lang nicht schlafen können und mich darauf eingestellt, dass man auch mich eines Tages abholen wird. Wenn meine Eltern mit dieser Angst im Jahre 1937 leben mussten, dann haben sie sie wahrscheinlich auch noch viele Jahre später empfunden, so wie auch wir sie in den 50-iger Jahren gefühlt haben. Die Angst war ein ständiger Begleiter in unserem Leben. Das war eine Tatsache und etwas sehr Furchtbares.

Damals war es normal, dass unter den Studenten, auf der Arbeit, ja überall geheime Mitarbeiter angeworben wurden, die andere bespitzeln und dann mitteilen sollten, worüber gesprochen wurde. Das wussten wir. Ich weiß noch, wie eine Studenten aus meinem Kurs – wir waren nicht sehr eng befreundet —  mich plötzlich zur Seite nimmt und mir sagt: „Weißt du, dass man mich einbestellt hat?“ Ich verstehe, was sie mir nun erzählen will und dass es ihr eigentlich nicht erlaubt ist, mir dies zu erzählen, wie es auch mir nicht erlaubt ist, solches zu Ohren zu bekommen. Da habe ich begonnen, starke Schmerzen im Blinddarm vorzutäuschen, um auf diese Weise unser Gespräch zu beenden. So war es auch zu Hause. Ich weiß noch, dass wir zu Hause über unsere Angst nie sprechen konnten. Das hätte nichts gebracht. Ich hätte meinen Eltern nur unnötige Sorgen bereitet. Doch dann schien es mir, dass meine Mutter plötzlich in der Küche darüber zu sprechen begann. Es war ein reines Doppelleben.

Ich habe mich als Staatsverbrecher gefühlt und dabei nicht verstanden, warum. Alles, woran ich Gefallen hatte, war verboten. Ich durfte nicht die Verse meiner Lieblingsdichter lesen, ich durfte mich nicht für moderne Kunst interessieren und schon gar nicht für Philosophie. Ich habe nicht verstanden – warum?!

Ich habe mich für Theater interessiert. Im Moskauer Tschechow-Theater habe ich viele Male immer die gleichen Stücke gesehen. Es waren vorzügliche Inszenierungen. Doch es war noch die alte Schule, die aus der Zeit noch vor der Revolution. Das, was man heute zu sehen bekommt, ist nichts anderes als eine Verstümmelung. Aus allem macht man ein Singspiel und man kann förmlich sehen, wie die Professionalität immer weiter nachlässt. Darin liegt eine Art Pseudofreiheit. Das ist eine allgemeine Tendenz. Das gleiche lässt sich auch im Westen beobachten. Über das westliche Theater kann ich nicht besonders urteilen, jedoch über den Film und über die Malerei kann ich etwas sagen. Dieser Einfluss des sogenannten Postmodernismus. Niemand will sich mehr mit tiefen Gedanken beschäftigen, das ist zu deprimierend. Das einzige, was zählt, ist, dass man sich von anderen unterscheidet, dass man etwas Originelles macht. Die darstellende Kunst, die sogenannte konzeptuelle, ist nur noch mehr Schein als Sein. Heute ist hoher Professionalismus nicht mehr nötig. Niemand braucht ihn mehr. Das ist sehr traurig. Ich hoffe, dass diese Zeit bald vorüber ist.

Ich bin der Meinung, dass das Gute, was es in der Sowjetunion gegeben hat, in keiner Weise all das kompensieren kann, was schlecht war. Wir sollten deshalb nicht sagen: dafür gab es aber dieses und jenes. Es sind Millionen von Menschen umgekommen und auf grausamste Weise verhöhnt worden. Dabei waren es völlig unschuldige Menschen, ja die besten Menschen. Ich bin absolut überzeugt, dass die Crème der russischen Nation in den Lagern umgekommen ist. Das ist furchtbar. Das gesamte Volk wurde auf grausame Weise selektiert. Das Ziel kann niemals die Mittel heiligen! Und all das Gute, was es gegeben hat, das bestand „trotz all dessen“ und nicht „dank dessen“. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Deshalb möchte ich den jungen Menschen von ganzem Herzen wünschen, dass sie niemals diese unverständliche höllische Angst empfinden müssen, die einem Menschen den Glauben an das Leben nimmt.

Ich bin gerade dabei, einen Artikel über Pavel Korin zu schreiben, über sein unvollendetes Bild, über sein „Requiem“, wie es auch genannt wird, über „Das versiegende Russland“. Er hat von 1925 bis in die 60-iger Jahre hinein die besten Kirchenvertreter porträtiert. Und Gott hat ihn die ganzen Jahre beschützt. Für etwas viel Geringeres hätte man auf der Stelle erschossen werden können. Er hat eine ganze Reihe von hervorragenden Bildern gemalt, Porträts von Priestern und Mönchen, Nonnen und Bischöfen, Archimandriten und Patriarchen. Sie haben ihm dafür direkt in seinem Atelier Modell gesessen. Er hatte nie Repressalien zu erdulden. Er wurde ganz im Gegenteil von den sowjetischen Machthabern sogar hofiert, obwohl er nie etwas gemalt hatte, was er mit seinem Gewissen nicht hätte vereinbaren können. So hat er auch die bedeutendsten Kulturschaffenden porträtiert, wie zum Beispiel W. I. Muchina, I. D. Schadr, M. W. Nesterow usw. Er hat Mosaiken für die Metro angefertigt und dafür auch den Stalinorden bekommen. Doch hinter all dem gab es auch sein zweites Leben, ich denke, sein wahres Leben. Er hat Porträts gemalt von den Dienern Gottes, von denen viele erschossen oder verschleppt worden waren. Er hat sie für die Ewigkeit bewahrt.

Zum ersten Mal habe ich diese Bilder im Museum gesehen, das man in den Räumen eingerichtet hat, wo sich zuvor sein Atelier befunden hatte. Die Bilder haben nicht an der Wand gehangen. Die Porträts standen im Kreis, wie im Atelier. Sie waren über zwei Meter hoch, also anderthalb mal so groß wie ein Mensch. In ihrem Kreis fühlte ich mich sehr klein. Um mich herum standen Riesen. Doch gleichzeitig fühlte ich mich von ihnen aber auch beschützt. Dies war die wahre Russische Orthodoxe Kirche. Viele sind in der Maschinerie des Terrors umgekommen, wurden erschossen und in Lager verschleppt. Einige sind auch eines natürlichen Todes gestorben, wie der Bischof Trifon (Turkestanow). Doch ihm war es untersagt, einen Gottesdienst zu zelebrieren.

Was ist es, was jeglichen Totalitarismus in der Tat so furchtbar macht? Er ist es nicht nur wegen seiner Grausamkeit, mit der er den Menschen jegliche Freiheit nimmt, sondern er ist es auch, weil er eine andere Wirklichkeit schafft, die sogenannte Ideologie, die die von Gott geschaffene Wirklichkeit ersetzt. Das Leben kann schwierig sein, man kann arm und krank sein und es kann letztendlich auch Krieg herrschen. Warum haben sich aber während des Krieges viele Menschen freier gefühlt? Weil der Krieg der wahren Wirklichkeit entsprang! Jegliche Ideologie ist eine erdachte Wirklichkeit – eine, die man sich ausgedacht hat. Was bedeutet denn dieses „Der Mensch ist dem Menschen Freund, Kamerad und Bruder“? Was ist das? Es ist eine leere Phrase. Sie bedeutet gar nichts, wenn es sogar möglich war, dass ein Mensch einen anderen für irgendetwas anzeigen konnte, nur weil er ein Zimmer mehr in der Gemeinschaftswohnung brauchte. Diese erdachte Ideologie hat den Menschen den Kopf verdreht. Auch jetzt höre ich sie sehr oft widerhallen, wenn ich sehe, wie die Menschen an etwas zu glauben beginnen, was es nicht gibt, was real nicht existiert. Patriotismus jedoch und Liebe zur Heimat, das ist etwas ganz anderes. Das bedeutet mit ihr mitzufühlen und sie besser machen zu wollen, nicht aber stolz auf etwas zu sein, was es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Wenn ich sehe, dass 150 km von Moskau entfernt ganze Dörfer verfallen, dann beginnt mir mein Herz zu bluten. Ich verstehe nicht, worauf man hier stolz sein soll? Doch ich glaube daran, dass das russische Volk irgendwann einmal die Wahrheit begreift und dass das Land dann frei sein wird von jeglichen Illusionen.

 

Aufgeschrieben von Tatjana Aljoschina für www.world-war.ru

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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