26 Juli 2013| Rakowa Galina Wladimirowna

Ein bedeutender Teil meines Lebens

Galina Rakowa

Ich bin in Leningrad geboren worden. Als der Krieg begann, war ich bereits 11 Jahre alt und deshalb kann ich mich auch noch an alles erinnern. Meine Mutter ist 90 Jahre alt geworden. Sie wurde 1902 geboren — mein Vater 1904. Mein Vater war im Krieg, meine Mutter hat die Blockade, diese furchtbaren Hungerjahre, überlebt. Mein Vater hat schon vor der Revolution in Sankt Petersburg gelebt. Er erinnerte sich noch, wie meine Großmutter, als er selbst noch ein Junge war, bei irgendwelchen Herrschaften in der Küche gearbeitet hat, es ihm jedoch untersagt war, bei ihr zu wohnen. Deshalb schlug er sich halbwegs allein durchs Leben – als Junge von 12-13 Jahren. Meine Mutter kam in den späten zwanziger Jahren nach Leningrad. Sie war in Wologda geboren worden, doch ihre Familie zog dann bald in das Gouvernement von Sankt Petersburg um, nicht in die Stadt selbst.

Mein Vater hieß Wladimir Ananjewitsch. Dieser Vatersname ist wirklich selten. Er konnte sich aber an seinen Vater nicht mehr erinnern, da dieser gestorben war, als er selbst noch klein war. Meine Mutter, Antonina Iwanowna — hier ein Foto von ihr — hat vor dem Krieg in Pskow das Gymnasium beendet. Vielleicht hat sie es aber auch gar nicht mehr beenden können. Sie hat dann später im Laden für Musikinstrumente auf dem Newskij Prospekt gearbeitet.

Mein Großvater, Iwan Davidowitsch, der Vater meiner Mutter, wurde in den 30-iger Jahren enteignet und zum Eintritt in eine Kolchose gezwungen. Er ist der Abstammung nach Lette, war aber bereits stark in die russische Gesellschaft integriert. Er hatte Lettland mit 17 Jahren verlassen und von da ab in Russland gelebt. Er besaß einen Bauernhof in der Nähe von Petersburg. 1912 eröffnete sich ihm die Möglichkeit, bei der Bauernbank einen Kredit aufzunehmen. Bis dahin hatte er als Gutsverwalter für einen Fürsten gearbeitet. Er hatte goldene Hände und mit diesen baute er sich auch ein eigenes Haus mit einer ganzen Wirtschaft drum herum. Meine Mutter hat erzählt, dass ihre Familie zu Beginn der zwanziger Jahre zunächst nicht angetastet wurde, da sich auf ihrem Bauernhof vor der Revolution irgendein Revolutionär versteckt gehalten hatte. Keines von seinen fünf Kindern hatte noch irgendeine Beziehung zu Lettland. Meine Oma war eine Russin aus Wologda. Drei ihrer Söhne fanden eine Anstellung in Sankt Petersburg. Mein Großvater war für die Arbeit in der Kolchose schon zu alt, man hat ihm aber trotzdem all sein Land und seinen Hof weggenommen. Alle seine drei Söhne, meine Onkel: Iwan, Wladimir und Victor sind im Großen Vaterländischen Krieg bei der Verteidigung Leningrads gefallen.

Mein Großvater war schon vor dem Krieg gestorben. Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen. Einer von den Söhnen ist ins Dorf gefahren, um ihn zu beerdigen. Meine Mutter konnte nicht fahren, da sie zu diesem Zeitpunkt mit meinem Bruder schwanger war.

Mein Vater arbeitete in der Fabrik der Staatlichen Parfümerie „TeGe“. Ich weiß nicht, was er dort gemacht hat. Ich erinnere mich aber noch, dass es bei uns zu Hause immer nach irgendwelchen Parfumessenzen duftete.

1941 war er 37 Jahre alt. Er hatte schon vorher, 1940, im Finnischen Krieg gekämpft und ich weiß noch, wie wir damals die Fenster zugehangen haben. Anfang Juni 1941 haben mein Bruder und ich meinen Vater zum Wehrkreiskommando gebracht. Er ging an die Front. Zunächst war er vor Leningrad stationiert, dann an der Nordfront. An der Grenze zu Norwegen wurde auch gekämpft, da Norwegen ein Verbündeter Deutschlands war.

Im Juni 1941 war ich in den Ferien. Meine Eltern hatten eine Datscha gemietet. Am Finnischen Meerbusen gibt es so ein Örtchen mit dem Namen „Lisij Nos“. Wir waren gerade erst dorthin übergesiedelt. Der Sommer hatte ja gerade erst begonnen, es war Juni. Es war ein Sonntag, mein Vater kam zu Besuch und wir machten alle gemeinsam einen Spaziergang am Strand des Finnischen Meerbusens. Es war ein herrlicher Tag, die Sonne schien, es wehte aber auch ein heftiger Wind. Wir hatten noch nicht gebadet. Als wir am Strand ankamen, hörten wir, wie die Leute sich untereinander zuriefen, dass Molotow mit einer Rede auftrete. Wir gingen nach Hause zurück, denn vor dem Haus, in dem wir ein Zimmer gemietet hatten, stand ein Mast mit einem Lautsprecher daran, über den Radio übertragen wurde. Um diesen herum hatten sich bereits viele Menschen versammelt. Alle hörten die Meldung Molotows über den Beginn des Krieges. Mein Vater machte sich sofort auf den Weg zurück in die Stadt. Wir blieben zunächst zurück, da wir noch nicht wussten, was wir nun tun sollten. Wir meinten zuerst, dass wir, wenn wir den Krieg gegen Finnland überlebt haben, auch diesen heil überstehen werden. Mein Vater musste sich sofort zum Wehrkreiskommando begeben, da er zu einem Jahrgang gehörte, der eingezogen wurde. Im Nachbarhaus wohnte meine Taufpatin und Tante, die Schwester meines Vaters. Sie meinte, dass auch wir unsere Sachen packen sollten und in die Stadt zurückkehren. Sie hatte gesehen, dass die Vorortzüge übervoll mit Menschen waren. Alle waren auf dem Weg zurück in die Stadt. (Meine Tante wohnte in der Nähe vom Bahnhof). Ich erinnere mich noch, dass es kühl war und dass ich einen Pullover,der lange Ärmel hatte, von jemand anderem trug. Als wir auf dem Warschauer Bahnhof ankamen, gingen wir zu Fuß weiter. Es war noch hell, denn es waren immer noch die Weißen Nächte. Ich sah, wie die Fensterscheiben kreuzweise beklebt waren und am Himmel schon die ersten Ballons der Luftabwehr schwebten. Es war für mich ein merkwürdiges Bild. Das war der erste Eindruck davon, dass sich das Leben geändert hatte.

Zur Schule gekommen war ich im Alter von sieben ein halb. Vor dem Krieg hatte ich folglich bereits vier Klassen besucht. Ich habe sogar noch Fotos aus der Zeit vor dem Krieg. Sie wurden in der Schule aufgenommen und sehen echt komisch aus – die erste Klasse und die vierte Klasse. Als der Krieg begann, sollte ich in die fünfte Klasse kommen. Ich bin aber nirgends hingegangen, da das Schuljahr 1941/42 ausfiel.

Man begann damit, die großen Betriebe und Fabriken zu evakuieren. Mit ihnen verließen auch die Familien der Arbeiter die Stadt. Die Mutter meines Mannes war Ärztin und für den Kriegsdienst verpflichtet worden. Sie hat daraufhin ihren Sohn allein, gemeinsam mit seiner Schule, evakuieren lassen. Das war jedoch bereits im Juli, noch bevor sich der Ring der Blockade geschlossen hatte. Ich erinnere mich noch, wie meine Freundin zusammen mit dem Mariinski-Theater die Stadt verlassen hat. Ihre Mutter hat dort im Orchester gespielt. Wir waren ganz konfus, da wir nicht wussten, was wir machen sollten. Mein Vater war weit weg. Meine Mutter rief ihn an, um ihn zu fragen, was wir tun sollten. Doch seine Antwort war nur: „Den Finnischen Krieg haben wir doch auch überlebt!“ Wir hatten auch niemanden, zu dem wir hätten fahren können. So sind wir dann in der Stadt geblieben und somit bald eingeschlossen in der Blockade.

Wer zu einer Schule gehörte, konnte sich mit dieser auch evakuieren lassen. Es wären aber nur die Kinder aus der Stadt gebracht worden, die Eltern hätten in der Stadt bleiben müssen. Erst später wurden ganze Familien evakuiert, als sich die Lage schon sehr verschlechtert hatte. Man hatte endlich begriffen, dass man die Kinder nicht wirklich retten könne, wenn man sie ohne ihre Eltern aus der Stadt bringt.

Im September begannen die Bombenangriffe. Der erste war am 8. September oder am Abend davor. Ich weiß noch, dass der Mond hell schien und dass ganz in der Nähe ein sechsstöckiges Haus getroffen worden war, wonach dann bei uns im Haus sämtliche Scheiben herausflogen. Überall hörte man die Menschen stöhnen, man versuchte die unter den Trümmern Verschütteten zu bergen. Unser Haus wurde am nächsten Tag eingezäunt. Mit den Bergungsarbeiten waren junge Frauen von den Sanitätertruppen der Luftabwehr beschäftigt.Aus dem zerbombten Haus ragten diverse Holzverkleidungen hervor. Die Menschen gingen daraufhin mit Sägen dort hinein und holten sich Holz zum Heizen. Auch mein Bruder nahm seine kleine Säge und tat es wie die Großen.

Während der Bombenangriffe stiegen wir in den Keller hinab, der als Luftschutzbunker diente. Man hatte vorher sämtlichen Holzvorräten aus dem Keller geräumt (Unser Haus wurde mit Holz beheizt) und ihn leer gemacht. Wenn dann nachts über Radio Bombenalarm gegeben wurde, stiegen wir in all der Dunkelheit von der 6. Etage die Treppe in diesen Keller hinab und warteten bis Entwarnung gegeben wurde. Wir nahmen nur unsere Papiere und etwas Zwieback mit. Ich erinnere mich, wie ein Luftangriff nach dem anderen geflogen wurde. Kaum war ein Flugzeug rüber, kam das nächste. Später dann waren wir schon nicht mehr in der Lage, in den Keller zu gehen. Die Kräfte waren einfach völlig aufgebraucht. Wir dachten natürlich daran, dass man unser Haus und uns darin bombardieren könnte, aber was sollten wir tun? …

Lebensmittel blieben nicht sofort weg. Es gab eine Zeit lang immer noch Nudeln und Kartoffeln. Wir wussten ja, dass wir uns im Krieg befanden, und versuchten Vorräte anzulegen. Ich weiß noch, wie meine Mutter mich in die Geschäfte schickte. Die Leute waren solche langen Schlangen nicht gewöhnt. Sie standen dicht an dicht. Ich erinnere mich auch noch an Krabben in Dosen. Krabben sind heute eine Delikatesse. Damals aßen die Menschen lieber ihren Hering. Krabben wurden damals irgendwie noch nicht gekauft und die Dosen standen überall in den Läden rum. Dann wurden die Geschäfte mit immer weniger Lebensmittel beliefert und Lebensmittelkarten eingeführt, bei denen auch das Alter berücksichtigt wurde. Den Arbeitern wurden welche für Arbeiter ausgegeben, den Angestellten in einem Büro welche für Angestellte – meine Mutter hatte eine solche Karte. Meine Großmutter bekam eine für Familienangehörige und mein Bruder und ich eine für Kinder und später dann auch eine für Familienangehörige. Langsam jedoch, schrittweise bis etwa zum November, wurden die Rationen, die ausgegeben wurden, immer weniger. Statt der 150 Gramm Brot am Anfang bekam man nun 25 Gramm weniger. Dann begann der Winter und zu unserem Hunger kam noch furchtbare Kälte hinzu. Wir wohnten im sechsten Stock und einen Aufzug gab es nicht.

Meine Mutter war in einer kleinen Fabrik angestellt und arbeitete dort wegen des Kriegszustandes rund um die Uhr. Zu dieser Zeit war meine Großmutter, Paulina Sergejewna, noch am Leben. Sie ist dann später an Hunger gestorben. Ich erinnere mich noch, wie sie langsam zu Grunde gegangen ist. Nachdem sie dann im Januar 1942 gestorben war, haben wir sie eine ganze Zeit nicht beerdigen lassen, um ihre Lebensmittelmarke noch weiter nutzen zu können. Der Winter damals war sehr kalt, es gab Fröste bis zu Minus 40 Grad. Überall war es deshalb kalt: in den Zimmern und in der Küche. Wegen dieser Kälte lagen mein Bruder und ich im Wintermantel unter unseren Decken. Wir hatten wirklich unsere Wintermäntel an und auch unsere Pelzmützen auf, denn irgendwie musste man sich ja warm halten. Die Fenster waren mit Sperrholzplatten zugenagelt, da die Scheiben herausgeflogen waren. In dieser Kälte lagen wir und warteten, bis unsere Mutter nach Hause kam.

Später dann ging ich schon selbst in den Laden, um das Brot zu holen. Ich musste in der Schlange stehen. Der eine hatte sich in eine Überdecke, der andere in eine Wolldecke eingewickelt. Alle waren schmutzig, denn es gab, um Licht zu machen, nur selbst gebastelte Öllampen – Metalldosen, durch die man ein Loch für einen Docht gebohrt hatte.

Ein Kind war man damals bis zu einem Alter von zwölf Jahren. Das bedeutete, ich bekam also eine Lebensmittelkarte für ein Kind. Es gab kein Wasser und auch keinen Strom. Es gab nichts, womit wir Wasser in unsere Wohnung hätten tragen sollen. Im Keller gab es zunächst immer noch Wasser, denn auch dort waren Wasserhähne. Zunächst gingen wir noch in den Keller, um Wasser zu holen, dann jedoch bald in eine andere Straße, da wegen des strengen Winters die Wasserrohre im Keller eingefroren waren. Vor den Wasserstellen bildeten sich lange Schlangen. Und wie viel von dem Wasser konnte man schon in einem Krug nach Hause tragen? Wir Stadtmenschen hatten ja gar keine Eimer. Zusammen mit meiner Tante — wir wohnten zusammen — sind wir einige Male an die Newa gefahren, um dort Wasser zu holen. Es fand sich dann immer jemand, der uns geholfen hat, das Wasser aus dem Fluss zu schöpfen. Danach brachten wir es dann auf einem Schlitten nach Hause. Deshalb mussten wir uns auch im Verbrauch von Wasser sehr einschränken. Wir hatten einen Kanonenofen, ein kleiner Ofen mit einem Ofenrohr, den wir aber auch irgendwie beheizen mussten. Als meine Mutter noch gehen konnte, tauschte sie auf dem Schwarzmarkt irgendwelche Sachen ein, um für uns wenigstens eine Tasse Nudeln oder etwas Holz zu ergattern.

Wir haben die Stadt auf der „Straße des Lebens“ nicht verlassen, da wir Angst hatten, dass wir erfrieren könnten. Die Autos waren ja offen. Dann dachten wir uns, dass wir im Frühjahr, wenn der Ladogasee richtig groß wird, mit einem Lastschiff hinüberschwimmen.  Wir hatten schon die nötigen Papiere dafür erhalten, hatten bereits Säcke aus Kopfkissen genäht und waren bereit zur Abreise, als es dann auf dem Ladogasee mächtig stürmte. Fünf Tage dauerte der Sturm und keines der Boote konnte ablegen, weil mit Sicherheit alle untergegangen und ertrunken wären. In diesen Tagen verließen meine Mutter auch noch die letzten Kräfte. Sie hatte sogar ein Hungerödem am Kopf und man brachte sie in ein Hospital. Es gab damals keine Krankenhäuser, nur Hospitäler, die an ein Krankenhaus angegliedert waren. Im Mariinski-Theater war ein Hospital eingerichtet worden. Wir Kinder gingen dorthin, um den Verwundeten Gedichte vorzulesen oder auch kleine Theaterstücke aufzuführen. In den Hospitälern lagen nicht nur Soldaten, sondern auch Menschen, die wegen der Strapazen der Blockade völlig am Boden lagen.  Meine Mutter verblieb ein halbes Jahr lang im Hospital. Man hatte bereits geplant, uns in ein Kinderheim zu stecken, doch unsere Tante übernahm offiziell das Sorgerecht für uns, damit wir uns nicht in verschiedenen Kinderheimen aus den Augen verlieren. Unsere Mutter war in dieser Zeit völlig kraftlos. Einmal wollten die Sanitäter sie schon fortbringen.  … Man begann dann sie mit Bakteriophagen zu behandeln, da schon keine anderen Tabletten mehr helfen konnten. Sie hatte schon das letzte Stadium erreicht – Durchfall, der voller Blut war. Danach kam sie aber wieder zu Kräften, doch sie sah wie ein Skelet aus. Später schaute ich dann einmal in den Sozialversicherungsausweis meiner Mutter. Dort hatte man sie wegen ihrer langandauernden Krankheit schon von ihrer Stelle gestrichen. Man hielt sie schon nicht mehr für arbeitsfähig.

Sämtliche Fäkalien wurden damals auf der Straße „entsorgt“. Der eine, der keine Kraft mehr hatte, alles nach unten zu bringen, warf sie einfach aus dem Fenster. Andere brachte sie jedoch auf die Straße. Das gesamte Treppenhaus war verdreckt. Es gab viel Schnee, aber niemand räumte den Schnee von den Straßen. Es kam auch vor — ich habe es selbst direkt neben unserem Hauseingang gesehen– wie sich jemand niedersetzte, ganz erstarrt, und sich schon gar nicht mehr aufrichten konnte.

Da ja keine Fäkalien weggeräumt wurden, hätten im Frühjahr Epidemien ausbrechen können. Deshalb wurde in der Lebensmittelmarke vermerkt, dass alle, die dazu in der Lage waren, eine Schaufel in die Hand nehmen sollten und bei der Beseitigung des Schnees helfen sollten. In der arbeitsfreien Zeit war man angehalten, bei der Reinigung der Stadt mitzuhelfen. Es war ein allgemeines Gebot an alle ausgegeben worden und alle beteiligten sich auch daran. Der Arbeitstag wurde deshalb aber nicht verkürzt. Zumeist arbeiteten überall Frauen. Leningrad hielt aus dank der vierzigjährigen Frauen. Die Jüngeren konnten meist den Hunger nicht ertragen und auch die Alten, die nicht mehr eingezogen worden waren, taten zwar, was sie konnten, doch im Grunde genommen verrichteten die Frauen die gesamte Arbeit. Zwanzigjährige Sanitäterinnen von der Luftabwehr trugen die Verstorbenen aus den Wohnungen und sammelten die Kinder zusammen, deren Eltern gestorben waren. Es musste für sie eine neue Bleibe gefunden werden. Sie gingen durch die Wohnung und kontrollierten, wer alles noch am Leben war. Unser sechsstöckiges Haus stand fast leer.

Im März 1942 fuhren dann die ersten Straßenbahnen wieder. Das war ein richtiges kleines Fest! Bis dahin war der gesamte öffentliche Nahverkehr zusammengebrochen. Alle gingen zu Fuß. So zum Beispiel auch jemand, der in den Kirow-werken arbeitete, obwohl seine Familie am anderen Ende der Stadt wohnte. Das Telefonnetz funktionierte damals nicht mehr. So konnte man nicht einmal erfahren, ob seine Familie noch am Leben war oder nicht. Auch die Familie wusste nicht, ob derjenige, der irgendwo arbeitete, noch am Leben ist.

Im Frühjahr 1942 wurden an alle Talons für die Badehäuser ausgegeben. Bei uns in der Nähe gab es zwar ein Badehaus, aber es blieb geschlossen. Im Frühling 1942 nun nahmen die anderen wieder ihren Betrieb auf. Nicht jeder jedoch wurde dort eingelassen. Man kam nur mit einem Talon hinein – und nur so viele wie reinpassten. In unserem Wohngebiet lag das Usatschewskij-Badehaus. Dorthin waren wir auch früher schon gemeinsam mit meiner Mutter hingegangen, um uns zu waschen. So sind wir also auch diesmal dorthin und haben uns ausgezogen: Alle waren ganz gelb und nur noch Haut und Knochen. Wir wuschen uns in einem Baderaum. Besonders heiß war es nicht, aber zu mindestens auch nicht kalt. Man konnte etwa zwei oder drei Teekessel heißen Wassers zum Waschen benützen. Es gab zwei Abteilungen. Auf der einen Seite wuschen sich die Frauen – auf der anderen die Männer. Früher kostete der Eintritt in ein Badehaus etwa 10-20 Kopeken. In diesen Tagen musste man nur seinen Talon vorweisen.

Ich habe schon gesagt, dass es auch mit der Wasserversorgung Schwierigkeiten gab. Der Wasserdruck reichte nicht aus, damit das Wasser bis in die oberen Stockwerke gelangen konnte. Ich hatte mich aber dabei noch um meinen 8-jährigen Bruder zu kümmern. Wenn es draußen warm war, ging ich zum Waschen und zum Spülen der Wäsche auf die Straße. Aus der Pumpe kam sauberes Wasser und so nahm ich eine Schüssel und ging dort die Wäsche waschen. Damals war unsere Straße noch nicht asphaltiert. Es gab nur Pflastersteine und das Gras wurde grün. Danach bügelte ich die Wäsche noch, denn es gab überall Läuse. Wir wuschen uns ja nicht.

Im Mai 1942 wurden sämtliche Häuser und Wohnungen nach den Kindern durchsucht, die in unserem Wohngebiet noch am Leben waren. Es ging darum, das neue Schuljahr ab September vorzubereiten. Die Direktorin unserer Schule war Anna IwanownaBalandina, die dann später als Pädagogin in Leningrad stadtbekannt war. Der Verantwortliche für den Unterricht war Victor EvgenewitschKostin. Er unterrichte bei uns Russisch und Physik. Habe Gott ihn selig!

Im September betraten wir das Gebäude des ehemaligen Gymnasiums. In unserem Klassenraum gab es einen großen Ofen. Im Winter saßen wir dann im Mantel und auch die Tinte fror ein. Aber wir konnten an den Ofen herantreten und uns wenigstens die Hände aufwärmen. Alle waren wir so hungrig. In der Schule versorgte man uns mit einer Suppe aus den äußeren Blättern vom Weißkohl, die man eigentlich sonst nicht aß. Man gab uns auch kleine Fladen aus Hülsenschrot. Wir sagten uns einfach, dass es Sprotten seien. In der Tat waren darin Soja und der Sud aus Tannennadeln.

In der Schule lernten wir, so gut wir konnten. Eigentlich jedoch wollte das Gehirn nicht recht arbeiten. Es gab kein Papier, es gab keine Kleidung. Dabei wurden wir immer größer. Über das Wehrkreiskommando besorgte man mir Schuhe, die eigentlich Jungenschuhe waren. Man versuchte, die Familien von Soldaten und Offiziere mit dem Nötigsten zu versorgen, jedenfalls mit dem, was man selber auftreiben konnten. Wer es konnte, hat dann zu Nadel und Faden gegriffen und Änderungen vorgenommen. Meinem Bruder hatte man damals auch ein Paar Schuhe gegeben und eine Tafel Schokolade dazu. Die Schuhe sahen auf dem ersten Blick so toll aus, dann jedoch stellte sich heraus, dass sie aus gepresster Pappe gefertigt worden waren, die natürlich, als mein Bruder sie zu tragen begann, sofort durchweichten. Er bekam auch so ein schönes hellblaues Hemd, das passte ihm auch. Wissen Sie, was wir anzogen, als wir zur Schule gingen? Unsere Lehrerin hat uns diesen Trick gezeigt: Aus selbstgedrehten Schüren und aus Stoffresten fertigten wir uns einfache Pantoffeln. Was sollten wir denn machen, wenn es nichts gab, was wir auf die Füße ziehen konnten. Auch aus den Resten einer Wattejacke nähten wir uns Schuhwerk. Auch ich hatte solche: Oben sogar mit Fell drauf. Ich hielt meine Schuhe für sehr schöne Stiefel.

Der Tag, als die Blockade durchbrochen werden konnte, der 18. Januar 1943, war auch für mich persönlich ein ganz besonderer Tag, denn an diesem Tag habe ich Geburtstag. Ich wurde damals 13 Jahre alt, mein Bruder 10. Wir haben uns damals gesagt, dass wir unbedingt am Leben bleiben müssen, wenn es nun schon gelungen war, die Blockade zu durchbrechen. Eigentlich wurde die Blockade so richtig erst im Jahre vierundvierzig aufgehoben. Auch nachdem sie durchbrochen worden war, war es noch nicht erlaubt, wieder in die Stadt einzureisen. Einige Kinder, die aus der Stadt gebracht worden waren und bei denen beide Eltern gestorben waren, durften nicht wieder nach Leningrad zurückkehren, da ihnen niemand ein Einladungsschreiben geschickt hatte. Vielleicht sind sie dann später – schon als Erwachsene – auf anderen Wegen in die Stadt zurückgekehrt.

Meine Mutter wurde schon im Jahre 42 aus dem Hospital entlassen, doch sie war noch sehr schwach auf den Beinen. Deshalb wurde sie auch auf ihrer Arbeitsstelle nicht mehr genommen. Mein Bruder und ich versuchten, ihr aus der Schule kleine Stückchen Schokolade oder sonst irgendetwas anderes mitzubringen, um sie zu unterstützen, denn sie hatte nun nur noch eine Lebensmittelkarte als einfacher Versorgungsberechtigter. Sie war zunächst eine Zeit lang zu Hause. Da sie aber gut schreiben konnte und auch gebildet war, gab man ihr eine Stelle in der kommunalen Wohnungsverwaltung, wo sie Bescheinigungen ausstellen musste. Die Wohnungsverwalter konnten damals oft nicht einmal Lesen oder Schreiben. So arbeitete sie dann auch in unserem Haus und hatte keinen langen Weg zur Arbeit. Ihre Beine wollten nicht mehr gehen. Später dann hat sie in der Buchhaltung in einem Lebensmittelwerk gearbeitet. Dort steckte man ihr immer mal wieder ein Stück Butter zu und so kam sie auch langsam wieder auf die Beine.

Im Jahre 43 fuhr ich dann auch zu den kleinen Gärten am Rande der Stadt, mit deren Hilfe die Menschen wenigstens mit dem Nötigsten versorgt werden sollten. Meine Mutter lag damals noch danieder. Diese kleinen Gärten bedeuteten für uns wenigstens eine Möhre oder etwas dergleichen aus der Erde. Der Brigadier maß mit seinem Schritt, wie viel Meter Unkraut wir gejätet hatten und hat dann bei jedem genau vermerkt, wer seinen Plan erfüllt hatte und wer nicht. Wir wurden mit einem Schiff die Newa stromaufwärts bis hinter die Ochtinskij-Brücke gebracht und am rechten Ufer, gegenüber der Ishorskij-Fabriken, abgesetzt. Drei Kilometer weiter waren schon die Deutschen.

Im Jahre 1943 wurde mir für meine aktive Mitarbeit in diesen Gärten die Medaille „Für Verdienste bei der Verteidigung Leningrads“ verliehen. Wir haben zuerst endlos lange Beete vom Unkraut befreit und dann später auch die Ernte eingebracht. Die Deutschen nahmen in dieser Zeit die Ishorskij-Fabriken immer wieder unter Beschuss. Dabei sind auch Menschen ums Leben gekommen. An dem uns gegenüberliegenden Ufer der Newa, also in unmittelbarer Nähe, wo wir arbeiteten, wurden Schutznetze gespannt, da vom Ladogasee her Minen und Leichen angetrieben wurden. All dies wurde hier abgefangen. Einmal gingen wir zur Newa, um uns zu waschen – wir wuschen uns immer in der Newa – da kam eine Leiche angeschwommen. Es war ein Rotarmist in seinem gestreiften Matrosenhemd. Wir sind danach nie wieder an dieser Stelle an die Newa getreten. Die Deutschen beschossen die ganze Gegend und wir haben laut geschrien: „Mama, ich will nach Hause!“ Wir dachten, dass sie uns angreifen werden. In der Regel setzte der Beschuss in der Nacht ein. Wir waren alle Kinder im Alter von 13-14 Jahren und mit uns nur ein erwachsener Erzieher.

Untergebracht waren wir im Klub der Kolchose. Dieser war vorher eine protestantische Kirche gewesen, denn hier lebten einst die Deutschen in Sankt Petersburg. Im Kirchenraum und auf dem Chor eine Etage höher waren die Dielen des Fußbodens völlig kaputt. Wir haben uns aber provisorische Matratzen aus Heu oder Stroh gefertigt und auf diesen geschlafen. In der Nacht wurden wir dann beschossen.

***

Während der Blockade war auch das Mariinski -Theater und das Alexandriski-Theater aus der Stadt gebracht worden. Während des Krieges befand sich im Gebäude des Alexandriski-Theaters das Theater der Musikalischen Komödie, das sich heute in der Italienischen Straße befindet. Das Gebäude des Alexandrijski-Theaters ist das größte Theatergebäude in ganz Petersburg. Dorthin kamen auch Soldaten von der Front, die auf Heimurlaub waren, um einer Operette zu lauschen. Wir Mädels verkauften neben der Bäckerei für 10 Rubel zwei Stück Schokolade, die man uns in der Schule gegeben hatte, und besorgten uns für dieses Geld eine Eintrittskarte für das Theater. Wir saßen dann ganz oben im Sperrsitz. Es wurde „Silva“ gegeben und auch die Operette „Das Meer eröffnete sich weit“ hatte damals seine Premiere. Wir Mädchen sammelten Autogrammfotos von Kolesnikowa, Kedrow, Michailow und zeigten sie uns gegenseitig in der Klasse. In Operetten gibt es meistens auch Tanzszenen und der eigentliche Star des Hauses – die Solistin Pelzer – konnte sehr gut tanzen. Ich erinnere mich noch, wie sie immer wieder endlose Beifallsstürme erntete. Die Arien aus den Operetten „Silva“, „Maritza“ und „Das Meer hat sich aufgetan“ habe ich dann später auch im Radio gehört. Auch Kinos waren damals in Betrieb. Im Filmtheater „Udarnik“ auf der Sadowaja-Straße haben wir damals Filme aus der Zeit vor dem Krieg gesehen. „Das Herz von Vieren“, „Timur und sein Trupp“ – das erinnere ich noch. Wenn jedoch Luftalarm ausgelöst und die Stadt unter Beschuss genommen wurde, musste man das Kino verlassen. Alle gingen dann hinaus und versteckten sich — jeder wo er konnte. Wenn relativ schnell Entwarnung gegeben wurde, haben alle noch gewartet – in der Hoffnung, dass der Film vielleicht weiter gezeigt wird.

Etwa zwei Mal bin ich direkt in eine Bombardierung geraten. Das erste Mal war ich in diesem Moment in einer Straßenbahn. Ich war gerade auf dem Weg zum Fotographen, um mich für den Komsomolausweis fotografieren zu lassen. Das Fotostudio befand sich auf dem Newskij Prospekt. 1943 war ich 13 Jahre alt und ich wurde in den Komsomol aufgenommen, obwohl man normalerweise erst mit vierzehn aufgenommen wurde. Alle meine Klassenkameraden waren aber schon vierzehn und so wurde ich einfach dazugezählt, weil ich ja ein Januarkind war. Die Straßenbahnlinie 13 oder 14 fuhr die Sadowaja-Straße entlang. Es begann die Bombardierung der Stadt. Deshalb wurden wir gebeten, die Straßenbahnwagen zu verlassen. Alle Passagiere versteckten sich im Haupteingang eines in der Nähe liegenden Hauses. Während des Beschusses traf eine Bombe nicht den Wagon, in dem ich gesessen hatte, sondern den ersten. In den Hauseingang brachte man dann aus dem getroffenen Wagon eine Frau auf einer Trage. Sie war verwundet, aus ihrem Bein trat Blut aus.

Das zweite Mal fuhr ich gerade über die „Leutnant Schmidt-Brücke“, als der Beschuss aus der Luft begann. Der Schaffner meinte sofort, dass alle die Wagons verlassen müssen. Doch wo sollten wir uns auf der Brücke verstecken? Es war Sommer und so legten wir uns direkt auf den Boden. Da lagen wir dann und über uns war nichts als Himmel. Es war furchtbar! Ganz in der Nähe befanden sich ein paar Schiffe. Die Bomben fielen direkt in die Newa. Das Wasser stieß in gewaltigen Fontänen in die Luft -so wie die Fontänen im Park von Peterhof. Man war ständig darauf gefasst, dass einen die nächste Kugel treffen wird.

Im Mai 1945 liefen wir auf die Sadowaja-Straße hinaus. Wir waren voller Freude, dass der Krieg endlich vorbei war. Wir hatten gesiegt! Im Juni kamen auch die Soldaten von der Leningrader Front in die Stadt zurück. Auf dem Platz vor dem Winterpalais marschierten sie voller Triumpf mit ihren Fahnen auf. Mein Vater kam erst Ende 45 wieder nach Hause. Da war mein Bruder Boris noch am Leben. Er ist dann 1946, ohne Erwachsen geworden zu sein, umgekommen. Nach der Schule waren er und seine Freunde immer auf der Suche nach Minen, die die Panzer aufhalten sollten. Sie spielten damit und versuchten das Schießpulver herauszubekommen. In Ligowo hatte man noch nichts aufgeräumt. Noch fast in den Grenzen der Stadt lagen ganze Kisten mit Sprengkörpern und auch Mienen – genau dort, wo sich die Kleingärten befanden. An der Passierstelle zu den Gärten sagten die Bengels einfach, dass sie zu ihren Müttern wollen, die in den Kleingärten seien. Mein Bruder war an diesem Nachmittag mit fünf anderen Freunden unterwegs, doch nur er allein ist umgekommen. Die Jungs hatten danach richtig Angst, uns alles mitzuteilen. Erst später haben sie es gesagt und dass Boris sehr verzweifelt gewesen ist.

Unserer Familie wurde ein Stück Land in der Nähe des Mitrofanow-Friedhofs zugeteilt, damit wir dieses bestellen. Mein Vater arbeitete nach dem Krieg in den Kirow-Werken und wahrscheinlich war ihm von seinem Betrieb aus dieses Stück Land gegeben worden. Der Friedhof war alt und völlig heruntergekommen. Dort war schon lange niemand mehr beerdigt worden. Aber auf zwei Beeten wuchsen für uns da einige Möhren heran. Es war jedoch so weit weg! Als die Möhren noch klein waren, wollten wir sie nicht aus der Erde ziehen, damit sie noch wachsen. Als sie dann jedoch genug herangewachsen waren, hatten sich schon andere,  wahrscheinlich diejenigen, die gleich um die Ecke wohnten, schon dabei gemacht, sie aus der Erde zu holen. Irgendwo am Rand hatten wir auch Weißkohl gepflanzt. Doch bis zu einem richtigen Weißkohl konnten die Köpfe gar nicht heranwachsen. Aus den ersten grünen Blättern, die noch gar keinen Kohlkopf bildeten, kochten wir schon Kohlsuppe. Ich erinnere mich noch, wie ich die Blätter eingesammelt habe und mein Vater sie nach Hause gefahren hat.

1948 beendete ich mit Erfolg die 10. Klasse und somit auch die Schule. Ich hatte nur Einsen und Zweien. Danach habe ich an der Leningrader Staatlichen Universität Chemie studiert. Auch dieses Studium habe ich mit Auszeichnung abgeschlossen. Später habe ich dann noch promoviert, und 1958 sind meine Mann und ich nach Moskau umgezogen. Hier habe ich dann 50 Jahre im Institut für chemische Physik als Leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter gearbeitet. In der Schule habe ich Chemie immer gemocht und auch die Art, wie unsere Chemielehrerin unterrichtet hat. Sie gestaltete die Unterrichtsstunden sehr interessant und konnte uns auch mit ihrem Wesen für sich einnehmen. Es war sehr aufregend ihr zuzuhören. Eigentlich war damals alles, wenn man es mit den heutigen Möglichkeiten vergleicht, sehr eingeschränkt. Der Chemieraum hätte eigentlich besser ausgestattet sein sollen, doch wir hatten damals fast gar nichts zur Verfügung. In der damaligen Zeit war man generell mehr auf die technischen Wissenschaften ausgerichtet: Chemie und Physik, weniger Philologie. Wir gingen zur Universität, weil wir meinten, dort die beste Ausbildung zu bekommen – einen Hochschulabschluss. Einige schrieben sich auch an der medizinischen Fakultät ein. Ich hatte davor jedoch Angst: Ich wollte keine Menschen aufschneiden und operieren. Medizin hat mich irgendwie nicht interessiert.

Mir war 1943 die Medaille „Für Verdienste bei der Verteidigung Leningrads“ verliehen worden. Doch die wurde dann später nicht anerkannt, weil man eine Bestätigung brauchte, dass man irgendwo gearbeitet hatte. Ich habe geschrieben, dass ich weiß, wo genau ich gearbeitet habe, doch man antwortete mir aus dem Archiv, dass keinerlei Dokumente mehr vorhanden seien, die bestätigen können, dass unsere Schule dort gearbeitet habe. Wenn man heute nachweisen kann, dass man während der Blockade gearbeitet hat, gilt man als Veteran der Blockade und dann bekommt man auch eine ganz andere Rente. Meine Freundin war zum Beispiel damals vierzehn Jahre alt und ihre Mutter hatte sie, um für sie eine Lebensmittelmarke für Arbeiter zu erhalten, in einem Postamt angemeldet, wo sie Briefe sortieren musste. Sie hat bis heute eine Bescheinigung, dass sie auf dem Postamt gearbeitet hat. Ich habe nur ein Papier aus dem Archiv, dass ich gearbeitet habe und die Norm erfüllt habe. Dabei steht in der Verordnung schwarz auf weiß: „Wenn man wenigstens einen Tag in der Zeit der Blockade, also vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, gearbeitet hat und mit der Medaille „Für Verdienste bei der Verteidigung Leningrads“ ausgezeichnet worden ist, steht einem der Status eines Veteranen der Blockade zu“.

Einmal hat mir einer unserer Bekannten erzählt, wie er nach dem Krieg einmal zur Kreisleitung gekommen ist und man ihn dort voller Verwunderung gefragt habe: „Sie waren also während der Blockade in Leningrad? Aber die Leute liegen doch alle auf dem Piskarewskij-Friedhof!“…. Was für eine Nichtachtung all derer, die die Blockade überlebt haben! In die Stadt zogen bald andere Menschen, die die ganze schwere Zeit der Blockade von Leningrad nicht miterlebt haben. Viele von ihnen haben es sich auf den Stühlen der Stadtleitung bequem gemacht. Viele von den Neuankömmlingen bekamen auch viel schneller Wohnungen. Die Menschen, die die Blockade überlebt haben, bekamen gar nichts.

Unser Haus steht bis heute noch. Wenn ich unsere Wohnung damals hätte kaufen können, dann hätte ich heute noch immer die Wohnung haben können, in der ich geboren worden bin. Doch leider konnte man damals noch kein Wohneigentum erwerben. Heute wohnen dort irgendwelche anderen Leute.

Ich hatte mich mal dafür interessiert zu erfragen, wie viele Menschen wir damals eigentlich gewesen sind, die in der Blockade eingeschlossen waren. Es ist ebenso schwer zu zählen, wie viele Menschen damals umgekommen sind. Als die Deutschen auf Leningrad zumarschierten, eilten alle aus den Vororten wie Puschkin und Pawlowsk nach Leningrad. Wie viele sind damals in die Stadt geflüchtet? Wie viele sind dann umgekommen? Damals hat man die Menschen einfach in ein Laken gewickelt und in einen Graben geworfen. Auch meine Großmutter hatte man zu eirem so genannte „Stapel“ gebracht und sie wie Holz mit anderen Toten aufgestapelt. Man wusste ja nicht, wo man alle diese Menschen beerdigen sollte. In unserem Institut hat jemand gearbeitet, der vor Leningrad mitgekämpft hat. Er meinte, dass man die Erde auf dem Piskarewskij- Friedhof nicht umgraben konnte. Man sprengte sie deshalb auf und warf dann die Leichen in die Gruben. Wie furchtbar das alles ist!

Unter welchen Bedingungen haben die Menschen während der Blockade gelebt! Wahrscheinlich haben auch einige von denen, die an der Front waren, so etwas nicht erlebt, was wir erleben mussten in dieser Stadt in den Jahren des Krieges. Wenn es die Stadt aber nicht gegeben hätte, dann hätte man uns einfach auf offenem Feld erschießen können. Doch so ein grausamer Hunger und solch furchtbaren Bedingungen! Man denkt sich heute: „Oh Gott, wie haben wir nur überleben können?“ In meinem langen Leben erscheint dieser Abschnitt als sehr weit weg, doch er war sehr sehr bedeutungsvoll!.

Aufgeschrieben von Tatjana Aljoschina

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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