17 Dezember 2014| Prochorow Boris Borisowitsch, Doktor der Geographie, Mitglied der Akademie der Naturwissenschaften

Ein Becher warmen Wassers

Boris Prochorow

Der Ausbruch des Krieges

Der Krieg überraschte unsere Familie in dem Dörfchen Kuokkala (heute Repino) in der Karelischen Landenge. Wir waren dort in unserem Sommerhaus. In der Tat war es nur ein Bootshaus für eine Jacht — ein großer Raum in der Mitte und vier kleinen Zimmerchen rundherum – zwei mit Fenstern zum Meer und zwei in Richtung Wald. In der Bootshalle selbst roch es immer nach Pferdemist, denn noch vor kurzem hatte hier die Rote Armee einen Pferdestall. Dort brachten wir nun ein kleines Zicklein unter. Meine Eltern hatten es mir geschenkt, damit es mir nicht so langweilig wird, denn andere Kinder gab es in der Nachbarschaft nicht. Das Zicklein war nachts im Bootsschuppen, doch sehr früh am Morgen weckte es alle mit seinen Hörnern, mit denen es mal an die eine Wand, mal an die andere Wand pochte. Regelmäßig stahl es aus der Küche von meinem Kindemädchen die Graupen und wenn wir in den Wald gingen, um Himbeeren zu sammeln, dann lief es stets voran und brach die besten Beeren ab.

Ganz in der Nähe des Bootsschuppens befand sich das Sommerhaus des bekannten Künstlers Nikolaj Konstantinowitsch Tscherkassow, der dort mit seinen Angehörigen wohnte. Seine Familie und meine Eltern waren schon seit langen gut befreundet. Sowohl wir, wie auch die Tscherkassows hatten diese staatlichen Sommerhäuser in der Karelischen Landenge nach dem finnisch-sowjetischen Krieg von der Leningrader Sommerhausgesellschaft zur Pacht auf 49 Jahre erhalten. Die Karelische Landenge war, nachdem von dort die ursprünglichen Bewohner ausgesiedelt worden waren, ein leerer Flecken Erde. Von den Leningradern traute sich niemand so recht, sich dort niederzulassen, denn man fürchtete, dass die vertriebenen Finnen zurückkehren und den neuen Eigentümern ihre Häuser wieder wegnehmen werden.

Als der Krieg begann, war ich noch nicht einmal fünf Jahre alt, deshalb habe ich keine genauen Erinnerungen mehr an die ersten Tage des Krieges. Doch bald holte sein Atem auch uns ein. Unser Haus stand direkt am Ufer des Finnischen Meerbusens. Genau gegenüber lag Kronstadt, das von den Deutschen intensiv bombardiert wurde. Ich kann mich noch gut an die Flugzeuge mit den schwarzen Kreuzen erinnern, die tief über die Erde flogen. Mir schien es sogar, dass ich das Gesicht der Piloten erkennen konnte. Meine Mutter führte mich, als sie die Flugzeuge sah, schnell in ein dichtes Wäldchen gleich in der Nähe unseres Hauses. Dort versteckten wir uns unter jungen Tannen.

Ich weiß noch, wie meine Eltern einmal wegen einiger Besorgungen nach Leningrad gefahren sind. Mich haben sie zusammen mit meinem Kindermädchen Marusja im Sommerhaus zurückgelassen. Am Abend klopfte jemand an die Tür. Auf der Schwelle stand Tscherkassow in einer Jägeruniform und mit einem Gewehr in der Hand. Er berichtete, dass die Finnen schon ganz nahe seien und dass wir uns aufmachen sollten. Ich weiß aber noch, dass er nach einigen Tagen wieder vor unserer Tür stand und gesagt hat: „Hier ist es erträglicher als in Leningrad“. Und so war es wirklich. In Kuokkale war es besser. Dort fielen keine Bomben und es gab keine Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften. Im Wald wuchsen Pilze und an das Ufer wurden viele Fische angeschwemmt, die durch die Bomben getötet worden waren, sodass wir sie mit bloßen Händen einsammeln konnten. Ich sammelte sie in meinem weißen Panamahut.

Die Blockade begann

Der Ring der Blockade um Leningrad wurde am 8. September 1941 geschlossen. In diesen Tagen kam unsere gesamte Familie in unserer Stadtwohnung in der zweiten Etage des Hauses an der Ecke Mojka — Newskij Prospekt zusammen. Das Haus hieß „Haus des Kaufmanns Kotomin“. Es war bereits im 18. Jahrhundert gebaut worden, war solide gemauert und war wie eine kleine Festung. Sogar die Bomben, die ganz in der Nähe einschlugen, konnte es nicht einmal ins Wanken bringen. Es hat dann immer nur kurz gezuckt, wenn wieder einmal ein Bombe explodiert war. Das Haus ist dadurch bekannt, dass sich dort zu Zeiten Puschkins die Konditorei Wolf und Beranger befand. In ihr hatte sich am Tage des verhängnisvollen Duells Alexander Sergejewitsch mit seinem Sekundanten K. K. Dansas getroffen, um von dort aus ans Schwarze Flüsschen zu fahren.

Insgesamt waren wir sechs Leute, die in dieser Wohnung lebten. Als der Krieg begann, war mein Vater gerade 55 Jahre alt geworden. Vor dem Krieg war er der Direktor einer der Leningrader Betriebe. Während der Blockade diente er auf dem Sanitätsschiff der Armee „Prophylaktik“. Meine Mutter war 41 und hielt unseren morschen Familienkahn am Schwimmen. Meine Schwester Tanja war 22 Jahre alt, und sie besorgte gemeinsam mit meinem Vater Holz und brachte Wasser aus dem Fluss. Ihr erst ein Jahr altes Töchterchen, meine Nichte Ljaletschka, sollte den ersten Blockadewinter nicht überleben. Das ganz entkräftete Kindlein starb in einem Krankenhaus an einer Darminfektion, die sich wegen des Hungers ausgebreitet hatte. Ich war 5 Jahre alt. Mein Kindermädchen Marusja, das auch meiner Mutter im Haushalt half, war in diesem Blockadewinter etwa 30 Jahre alt. Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, wohnte ganz in der Nähe und besuchte uns, wenn seine Kräfte dafür ausreichten, um uns zu helfen. Der erste Blockadewinter sollte auch ihm zum Verhängnis werden.

In unserer Wohnung stand in der Ecke, die am weitesten vom Fenster entfernt lag, ein weißer Kachelofen – ein Holländer. Einmal, als wir nach einer der regelmäßigen Bombardierungen aus dem Luftschutzkeller wieder in unsere Wohnung zurückkehrten, sahen wir, dass etwa in Augenhöhe eines Menschen aus einer Kachel ein kleines Stück Metall hervorstand – ein Granatsplitter. In der Fensterscheibe war sehr exakt ein Loch hineingeschlagen. Der Tod hatte unserem Haus einen Besuch abgestattet, doch niemanden angetroffen.

Eine „nützliche“ Erfahrung

Als ich erwachsen geworden war, begriff ich, dass während der Blockade die Tatsache, dass meine Eltern Erfahrung hatten, unter den Bedingungen von Hunger und dem Fehlen des Nötigsten zu überleben, unsere Rettung war. Meine Mutter hatte mit ihrer kleinen Tochter in Zarizino in den Jahren 1919-1920 schon einmal Hunger erlitten. Mein Vater kämpfte mit dem Hunger in den gleichen Jahren in Petrograd. Als man verkündet hatte, dass Krieg herrscht, stürzten die Leningrader in die Läden und kauften alles auf, was zum Überleben am notwendigsten war. An den Häuserwänden tauchten Drohungen auf, die es untersagten, im Hause mehr als zwei Kilogramm Graupen zu haben, mehr als eine bestimmte Menge Mehl und so weiter. Denjenigen, die diese Anweisungen missachteten, drohten Strafen bis hin zum Erschießen. Da sagte meine Mutter, die bereits die Blockade von Zarizino überlebt hatte: „Mögen die mich doch lieber erschießen, als noch einmal das durchmachen zu müssen, was ich schon einmal durchgemacht habe“. Ihr Kalkül erwies sich als richtig: Schon einige Tage später bombardierten die Deutschen die Lebensmittellager der Stadt und die große Masse der Bevölkerung blieb ohne jegliche Vorräte zurück.

Überleben

Um zu überleben, muss der Mensch etwas essen, etwas heißes trinken und sich im Warmen aufwärmen und schlafen können. Während der Blockade der Stadt wurden alle diese  Komponenten, die man zum Überleben braucht, zu fast unlösbaren Problemen. Lebensmittel gab es auch für die elenden Lebensmittelkarten praktisch keine in den Läden. Diese mussten auf dem „Schwarzmarkt“ aufgetrieben werden. Um Wasser heranzuschaffen, musste man eine vereiste Treppe zu einem Eisloch im Fluss hinuntersteigen. Wir hatten dabei Glück: Unser Haus stand direkt an der Mojka. Diejenigen der Leningrader jedoch, die etwas weiter ab vom Fluss wohnten, hatten es bedeutend schwerer. Einige Straßenzüge einen auch nur zur Hälfte mit Wasser gefüllten Eimer entlangzutragen, war für einen frierenden und vom Hunger ganz entkräfteten Menschen eine schwere Prüfung.

Auch das Holz zum Heizen mussten wir uns selbst beschaffen. Entlang des Ufers der Mojka führte ein schmiedeeisernes Geländer, das in Sockeln aus Granit im Boden verankert war. Noch zu Friedenszeiten diente die Uferstraße an der Mojka als Durchgang für die Menschen, wenn diese gerade nach Beendigung einer Demonstration vom Palastplatz kamen. Deshalb hatte man aus Sicherheitsgründen parallel zum schmiedeeisernen Geländer noch ein weiteres aus Holzbalken angebracht. Jede Nacht machten sich mein Vater und meine Schwester – mit einer Bügelsäge ausgestattet – hinunter auf die Straße, um einen Teil dieser Holzkonstruktion abzusägen. Dies war nicht ganz ungefährlich in einer Stadt, in der Sperrstunde herrschte. Wenn einer am Sägen war, dann hielt der andere aufmerksam Wache, immer auf der Hut nach einer herannahenden Streife. Die Tatsache, dass unsere Hofeinfahrt, in die man im Falle einer Gefahr schnell hätte flüchten können, ganz in der Nähe war, gab den beiden den nötigen Mut, sich auf diese heikle Holzbeschaffung einzulassen.

Sehr wohl weißlich, was einen alles noch erwarten kann, hatte mein Vater bereits im Herbst einen selbstgefertigten Kanonenofen beschaffen können. Natürlich hatten wir in unserer Wohnung den großen Kachelofen, doch wenn Holz und Kohlen fehlen, war dieser leider ganz sinnlos geworden. Es war viel effektiver die kostbaren Kienspanen, die wir auftreiben konnten, in dem kleinen Ofen aus Metall zu verbrennen. Dabei heizten wir die Zimmer, in denen wir wohnten, bei weitem nicht jeden Tag. Meistens hielt sich die gesamte Familie in der Küche auf, wo der große Herd stand. Auf ihm wurde gekocht und auf ihm schlief dann auch die ganze Familie und versuchte den Rest der Wärme in sich aufzusaugen, die noch immer in der gusseisernen Platte verblieben war.

Fallschirmspringer

Es stand warmes Herbstwetter. Meine Mutter, Tanja und ich gingen an der Kathedrale der Gottesmutter von Kazan spazieren. Auf dem Bürgersteig stand eine Gruppe von Menschen. Sie hatten ihre Köpfe in den Himmel gereckt und schauten nach oben. Weit oben am blauen Firmament konnte man kleine weiße Knoten erkennen. Einer in der Gruppe sagte: „Das sind Fallschirmspringer, die hier anlanden werden“. Ein anderer erwiderte: „Du Dummkopf, das sind Teile einer explodierten Granate. Sie beschießen die Flugzeuge“. Doch man konnte keine Flugzeuge sehen und auch Schüsse waren nicht zu hören. Zu Hause angekommen rief ich gleich von der Schwelle: „Wir haben Fallschirmspringer gesehen!“ Meine Mutter wies mich sofort in barschem Ton zurecht und meinte, dass ich nur Panik machen und dass man solche wie mich sonst erschießen würde, denn wenn der Panikmacher ein Kind sei, würden die Eltern dafür herhalten müssen. Meine Mutter kannte das Verhalten und die Gewohnheiten derer, die andere erschossen, sehr gut – und dies nicht nur vom Hörensagen. Diese Lektion hatte ich mir für meine gesamten Kinderjahre eingeprägt.

Beschuss

Ich erinnere mich noch gut daran, was ich empfunden habe, als ganz in der Nähe ein Geschoss eingeschlagen hatte. Wir waren mit meiner Mutter auf der Straße unterwegs. Es war tagsüber und das Wetter war wunderbar. Und plötzlich stieß mich meine Mutter zwischen zwei Sandkisten, mit denen man die großen Schaufensterscheiben der Geschäfte verschlossen hatte. Sie klemmte sich gleichfalls in diese Ritze und bedeckte mich somit mit ihrem Körper. Von meiner Position hinter ihrem Rücken aus, sah ich eine dichte Staub- und Sandwolke, die die Straße entlang trieb. Dann hörte man ein Krachen und das Klirren zersprungener Fensterscheiben. Ob es nun während einer dieser regelmäßigen Bombardierungen, mit denen die Deutschen mehrmals am Tag auf pedantische Art und Weise die Stadt heimsuchten, geschehen ist oder ob es ein einziges Geschoß war —  das kann ich nicht mehr sagen. Als wir aus unserem Unterschlupf hervorkrochen, sahen wir, dass ein Haus am Ende der Straße völlig zerstört war. Die Straße war ganz übersäet mit zersprungenem Glas und Putz.

Eine Evakuierung, die nicht stattgefunden hat

Am Ende des Sommer 1941 wurden die Menschen massenhaft aus Leningrad evakuiert. Der Ring der Blockade hatte sich noch nicht geschlossen und die Menschen, zum größten Teil die Kinder, wurden auf kleinen Schiffen die Newa hinaufgefahren und dann weiter über den Ladogasee weit ins Hinterland gebracht. Einmal kam mein Großvater zu uns und stieß auf meine Mutter, die ganz in Tränen aufgelöst war. Sie hatte mit einem Kopierstift auf weiße Läppchen meinen Namen und meinen Familiennamen geschrieben und war gerade dabei, diese in meine Kleidung einzunähen und ebenso auf einen selbstgenähten Sack, in den sie meine Kleidungsstücke zusammenlegte. Als mein Großvater dieses sah, hielt er eine lange Rede, dessen Sinn man folgendermaßen zusammenfassen kann: Dieses gesamte Vorhaben wird zu nichts Gutem führen, denn auch, wenn die Kinder überleben sollten, werden sie dann doch irgendwo verloren gehen und der Junge wird auf diese Weise ohne seine Familie aufwachsen. Wir sollten vielmehr alle zusammen bleiben und, wenn wir eben sterben sollten, dann sollten wir dies auch alle zusammen. Damit war die Frage meiner individuellen Evakuierung geklärt.

Zum Glück, denn die Boote mit den Kindern wurden von den deutschen „Humanisten“ in der Newa unweit von Leningrad versenkt. Viele Jahre später habe ich einen Dokumentarfilm über die Blockade von Leningrad gesehen und ein Bild hat sich mir in mein Gedächtnis tief eingeschnitten – auf der Newa schwammen unzählige Kindermützchen.

„Prophylaktik“

In mein Gedächtnis an meine Kindheit während der Blockade hat sich auch das Wort „Prophylaktik“ eingeprägt. So hieß das Sanitärschiff, auf dem mein Vater gearbeitet hat. „Prophylaktik“ kümmerte sich um die sanitären Bedingungen auf den Schiffen und in den Zügen der Armee.  Es ist merkwürdig, dass ich mir dieses etwas gekünstelte Wort eingeprägt habe. Es war mir wie von selbst im Gedächtnis geblieben, obwohl sich zu Hause niemand dieses Wort hatte merken können, weswegen es auch nie ausgesprochen wurde. Ich denke, dass gerade der Dienst meines Vaters auf diesem Schiff uns geholfen hat, die schwersten Monate der Blockade zu überleben, denn auf der „Prophylaktik“ wurden Lebensmittelpakete verteilt.

Tischlerleim

Kurz vor dem Krieg wollten meine Eltern unsere Wohnung renovieren und hatten deshalb einiges Material dafür gekauft. Darunter waren auch Tischler- und Kaseinleim. Der Tischlerleim wurde in diesen Jahren noch aus natürlichen Stoffen hergestellt. Er wurde aus Knochen, Hufen und Hörnern (wir erinnern uns noch an „Horn und Hufe“ aus dem „Goldenen Kalb“) gekocht. Der Kaseinkleber wurde aus natürlicher Molke gewonnen. In den Tagen der Blockade galten sowohl der eine wie auch der andere als Lebensmittel. Aus Tischlerleim wurde Sülze gekocht. Eine Tafel Leim wurde als ein vortreffliches Geschenk angesehen. Aus Kaseinleim machten mein Vater und meine Schwester irgendein trübes Getränk, welches ebenso, zusammen mit anderen typischen Speisen der Blockade wie Plinsen aus Kaffeesatz oder zermahlene Eierschalen, auf irgendwelche Weise unsere Kräfte, die immer weiter abnahmen, nicht versiegen ließen.

Ende 1941 wurden im belagerten Leningrad für Lebensmittelkarten an einen Arbeiter nur 250 Gramm Brot ausgegeben, alle anderen bekamen nur 125 Gramm. Diese zähe Masse, der Sägespäne beigemengt waren, konnte man wohl kaum Brot nennen, doch um sie zu ergattern, standen die Menschen in langen Schlangen im Frost an. Zu Hause wurde das Brot geteilt und jede Portion wurde auf einer Waage, wie der Apotheker sie hat, abgewogen. Bei dieser Prozedur war die gesamte Familie anwesend. Wir hatten einander alle gern, doch die Aufteilung des Brotes war etwas Heiliges.

Neujahr 1942

Meine Mutter hatte eine Freundin – Sinaida Davidowna Gabrieljanz. Sie war die führende Solistin im Leningrader Operettentheater, also — wie man es heute ausdrücken würde – eine Operndiva. Ihr Theater war dadurch berühmt, weil sein Ensemble – wie mir scheint, das einzige aller Theaterensembles der Stadt — nicht evakuiert worden, sondern vollständig im belagerten Leningrad geblieben war. Außerdem war das musikalische Genre der Operette sehr gefragt, und die Künstler traten regelmäßig vor den Marinesoldaten auf. Sinaida Davidowna wurde von einem Admiral umworben. Er brachte ihr und ihren zwei kleinen Kindern zum Neujahrsfest eine richtige Tanne ins Haus. Auch meine Mutter und ich waren zu diesem Fest geladen. Der Tannenbaum war herrlich. Doch das besondere war, dass an diesem Tannenbaum kleine Kerzenstummel brannten, die der Admiral aufgetrieben hatte. Er hatte sie speziell für dieses Fest in seinem Dienstzimmer gesammelt. Diese hell leuchtenden Kerzen haben bei uns allen einen starken Eindruck gemacht, nachdem wir an all den vergangenen Dezemberabenden ständig in der Dunkelheit umhergekrochen waren. Es gab damals keinen Strom in der Stadt. Die Kinder bekamen kleine Geschenke, die scheinbar auch aus den Versorgungspaketen des Admirals stammten.

Der Schwarzmarkt

In der Stadt gab es einen Schwarzmarkt, wo die Leute versuchten, etwas zu verkaufen oder einzutauschen. Als hauptsächliche Währung galten Brot und Graupen. Für Brot konnte man alles bekommen. Ich bin mir sicher, dass während der Blockade, die die Mehrheit der Leningrader in unendliche und tiefe Not stürzte, sich auch solche Leute fanden, die aus dieser Situation Kapital schlugen und sich unheimlich bereichert haben.

An einem Wintertag hat meine Mutter einmal eine Platinuhr, die mit Diamanten verziert war, auf den Schwarzmarkt gebracht. Diese war ihr wertvollstes Stück, die sogar die Blockade von Zarizino während des Bürgerkrieges „überlebt“ hatte. Die Uhr war ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem sechzehnten Geburtstag gewesen. Meine Mutter hatte Glück. Es gelang ihr ein sehr gutes Tauschgeschäft. Sie wurde weder bestohlen noch betrogen. Für ihre Uhr bekam sie 3 Kilogramm Buchweizen, 2 Kilo Speck und ein ganzes Brot. Dieser Lebensmittelkorb bedeutete in dieser Zeit für unsere gesamte Familie die Aufschiebung des Hungertodes.

Der Luftschutzkeller

Unter unserem Haus befanden sich tiefe Kellergewölbe. Diese hatte man in einen Luftschutzkeller umfunktioniert. Wenn Luftalarm ausgelöst war, dann stiegen wir dort hinab. Wir nahmen ein paar Sachen mit. In meiner Erinnerung sehe ich immer noch ein paar aus Brettern zusammengezimmerte Bänke und Menschen mit Bündeln vor mir, die still dasaßen und lauschten, was draußen auf der Straße vor sich ging. Mein Großvater ist nie in den Luftschutzkeller gegangen. Er sagte immer, dass es besser sei, sofort von einer Bombe oder einem Geschoss getroffen zu werden, als lebendig begraben zu sein. Wie mir scheint, haben auch wir nach einiger Zeit aufgehört, während der Bombenangriffe die Wohnung zu verlassen. Wenn die Bomben in der Nähe einschlugen, dann erzitterte das Haus und im Schrank klirrte das Geschirr. Das Haus, das sich noch an Puschkin erinnern konnte, war – was selten war – äußerst stabil.

Ohnmacht aus Hunger

Es war Winter und sehr kalt. Es ertönte ein Klopfen an der Tür. Zwei Männern zogen unter den Armen Tanja hinter sich her. Sie war auf der Straße umgefallen und hatte das Bewusstsein verloren. Ein Glück, dass dies nicht weit von unserem Haus entfernt passiert war. Zwei Passanten hatten sie aufgehoben und nach Hause gebracht. Man kann Tanja wirklich einen Glückspilz nennen. Zu Hause erzählte man sich, dass auf der Straße Leichen liegen und dass die Menschen ruhig an ihnen vorübergehen.

Großvater

An meinen Großvater Pjotr Petrowitsch Petrow, ein Nachfahre eines Adligen, der vor der Revolution für die Finanzen seines Gouvernements zuständig war, habe ich sehr anrührende Erinnerungen. Er war natürlich schon nicht mehr ganz jung, doch wenn er zu uns zu Besuch kam, dann kam er immer mit einer Schachtel Tabak, Papierhülsen und einem kleinen Maschinchen, das Zigaretten stopfen konnte. Wenn er mit meinen Eltern oder Gästen im Gespräch war, waren die Hände meines Großvater immerzu beschäftigt. Sorgfältig hat er die fertigen Zigaretten in die Schachtel gelegt, in der zuerst die Papierhülsen gelegen hatten und die dann im Verlaufes des Gespräches durch fertige Zigaretten ausgetauscht wurden. Mein Großvater war ein leidenschaftlicher Raucher und rauchte seine selbst gefertigten Glimmstengel. Außerdem sammelte er staatliche Zigaretten verschiedener Marken. Die Tabaksammlung meines Großvaters hat dann auch später ihren ganz persönlich Beitrag geleistet zur Rettung unserer Familie. Mein Vater hatte einen Marineoffizier kennengelernt von einem der Schiffe, die die Brücken über die Newa vor den Luftangriffen der Deutschen schützen sollten. Der Offizier besuchte uns zu Hause und brachte stets einen Teil seines Lebensmittelpaketes mit sich und bekam dafür als Gegenleistung einige Zigaretten. Es war aber nicht so, dass dies ein Handel gewesen wäre, es war vielmehr ein Freundschaftsdienst. Einmal brachte er uns als Geschenk frischen Fisch mit. Nachdem die Palastbrücke wieder einmal von den Deutschen bombardiert worden war und die feindlichen Flugzeuge von den Schiffen aus beschossen wurden, schwammen um das Schiff herum viele tote Fische auf, die von den Matrosen eingesammelt wurden. Einen kleinen Teil von diesem „Geschenk des Himmels“ bekamen so auch wir. Ganz allgemein gesagt haben sich die Marinesoldaten tapfer gegen die Deutsche Luftwaffe geschlagen. Nicht eine der Leningrader Brücken ist zerstört worden, obwohl sich die faschistischen Asse immer wieder daran versucht haben.

Mein Großvater starb am 12. Januar — still und friedlich in der Nacht, als er gerade bei uns zu Besuch war. In solchen Fällen nähten die Leningrader gewöhnlich ihre Toten in Laken oder eine Decke ein und legten sie vor den Hauseingang. Tagsüber fuhren nämlich spezielle Autos durch die Stadt und brachten die Toten auf einen Friedhof, wo sie in Gräben vergraben wurden, die vorher mit einem Bagger ausgehoben worden waren. Die meisten Menschen hatten einfach keine Kräfte mehr, um ihre Angehörigen auf ihrem letzten Weg zu begleiten und für sie ein Grab zu schaufeln.

Meine Eltern dagegen entschieden sich, meinen Großvater nicht auf die Straße zu bringen, sondern ihn selbst zu beerdigen, in einem eigenen  Grab, was im Winter jedoch völlig unmöglich war. Sie wickelten ihn deshalb in ein selbstgefertigtes Leichentuch ein und legten ihn in das frostige Badezimmer und hofften, dass der Frühling bald kommen möge.

Ein Becher warmen Wassers

In Leningrad, das im Winter 1941-42 einer Eiswüste, wie es sie in der Arktis gibt, glich, bewegten sich die Menschen, da es überhaupt keinen Nahverkehr gab, nur in kurzen Gängen von einem Ort, an dem sie sich ein wenig aufwärmten, bis zu einem nächsten solchen. Auf diese Weise gelangte eines Tages auch Boris Alexejewitsch Medwedjew – ein Bekannter meiner Schwester Tanja und meiner Mutter — zu uns nach Hause. Vor dem Krieg war er ein bekannter Filmregisseur, ein Witzbold und Lebemann, doch bei diesem Besuch sah er äußerst erbärmlich aus, wie übrigens die meisten Einwohner der belagerten Stadt. Seine einst so gepflegten Hände versteckte er in den Ärmeln seines Mantels. Doch meine Mutter bemerkte, dass sie sehr schmutzig und mit irgendeiner Kruste bedeckt waren. Sie bot ihm deshalb einen Becher warmen Wassers an, damit er sich damit die Hände waschen könne. Auf dem Kanonenofen stand der Kessel, der noch heiß war. Meine Mutter nahm eine Emailletasse, füllte sie mit heißem Wasser und gab kaltes hinzu. Über einer Schüssel goss sie das Wasser über die Hände des Gastes und dieser seifte sie ein und lächelte dabei voller Seligkeit. Dies war eigentlich nichts besonderes,  doch im Leningrad der Blockade war die Wasserversorgung zusammengebrochen und es gab auch fast keinen warmen Ort. Deshalb war ein Becher warmen Wassers für einen völlig durchfrorenen Menschen wie ein richtiges Wunder. Nach vielen Jahren war Boris Alexejewitsch wieder einmal bei uns zu Gast – er war gerade aus Westdeutschland zurückgekehrt, wo er als Vertreter des staatlichen Filmverleihs tätig war – und erinnerte sich an diese Episode als eine seiner glücklichsten Erinnerungen an die Zeit der Blockade.

Über den Ladogasee

Ende Februar 1942 wurde die Stadt tagsüber stark unter Beschuss genommen. Unser Haus schwankte und der Putz kam von den Wänden. Mein Vater trat heraus, um nachzusehen, was vor sich ging und ob es nicht irgendwo in der Nähe brannte. Unter der Toreinfahrt zum Hof erblickte er einen Offizier, der ganz von Kalkstaub bedeckt war. Man konnte ahnen, dass dieser Mensch während des Bombenangriffs unter die mächtigen Mauern des alten Hauses geflüchtet war, um zu warten, bis die Bombardierung eingestellt würde. Mein Vater schlug ihm vor, zu uns in die Wohnung hinaufzukommen, um sich aufzuwärmen. Der Hauptmann sagte, dass er den Ingenieur Prochorow suchen würde. Es hatte aber ein Problem mit der Adresse. Auf dem Newskij Prospekt trägt unser Haus nämlich die Nummer 18, doch an der Mojka die Nummer 57. Mein Vater sagte: „Prochorow – das bin ich. Mit was für einem Anliegen wollen Sie zu mir?“ „Ich komme mit einem Auftrag von Ihrem Sohn. Einige Offiziere der Akademie der Panzertruppen in Uljanowsk, deren Familien immer noch in Leningrad zurückgeblieben sind, haben eine Rettungsaktion geplant. Sie haben einen Lastkraftwagen auf einen Waggon geladen und sind mit diesem bis zum Ladogasee gefahren, bis zur „Straße des Lebens“. Auf dem Weg ist Wladimir Borisowitsch krank geworden, doch er, Hauptmann Gorowoj, sei über den Ladogasee gekommen und sammle nun die Verwandten der Offiziere aus Uljanowsk ein. Leider haben viele bis zu diesem Tag nicht überlebt. Also kurz gesagt, packt eure Sachen zusammen, in zwei Tagen fahren wir zurück“. In der Tat war mein älterer leiblicher Bruder Wladimir, der vor dem Krieg an der  Leningrader Hochschule für Forstwirtschaft unterrichtet hatte und ein Fachmann war für Raupentechnik, als Dozent an die Akademie der Panzertruppen nach Uljanowsk versetzt worden.

Eilig wurde zusammengepackt. Von den Fenstern nahmen wir die dicken Vorhänge und nähten Säcke aus ihnen. Meine Mutter und mein Vater hatten viel Erfahrung mit solchen Umzügen. Sie hatten eine sehr gute Vorstellung von dem, was eine Familie auf einer schwierigen Reise zu erwarten hat und was es bedeutet, bei fremden Leuten unterzukommen. Davon, dass wir während der Überfahrt über den Ladogasee kurz vor Beginn des Frühlings und unter dem ständigen Beschuss der Autokolonnen, ganz einfach hätte umkommen können, wurde nicht gesprochen. Sterben hätte man in diesen Tagen wo auch immer können.

Als wir Leningrad verließen, habe ich zu beiden Seiten der Straße brennende Häuser gesehen – die Folgen von Beschuss oder Bombardierung. An die Überfahrt über den Ladogasee auf einer eiskalten nur mit einer Plane bedeckten Ladefläche, auf der wir saßen, kann ich mich nicht mehr erinnern. Der Lastkraftwagen schaffte es aber sicher bis an die Bahnstation, wo wir auf einem Bahnsteig ausgeladen wurden. Dort gab man uns zunächst Kekse und Schokolade und danach half man uns in einen beheizten Güterwagen, wo wir uns irgendwie einrichteten. Der Zug fuhr sehr langsam. An großen Bahnhöfen nahmen die Männer unseres Waggons immer zwei Eimer mit sich und gingen damit zu einer Verpflegungsstation, von der sie dann mit dicker Erbsensuppe und ganzen Broten zurückkehrten. Es wurde damit begonnen, richtiges Brot zu teilen. Irgendwer schnitt große Stücke ab und fragte: „Wer bekommt  dies?“ Jemand, der mit dem Rücken zu dem, der schnitt, saß, antwortete: „Maria“ und so bekam Maria ihren Anteil. Auf diese Weise hatte man in den Lagern hinter Stacheldraht die Gerechtigkeit aufrechterhalten. Die Gebräuche der Lagerinsassen sind so dann auch in den Alltag der einfachen Menschen eingegangen.

Der Zug war viele Tage lang unterwegs. Jeden Morgen wurde die Tür des Güterwagens aufgezogen und durch den Spalt der Öffnung schob sich ein Kopf, der immer wieder die gleiche Frage stellte: „Gibt es Tote?“ Zum Glück hat es in unserem Waggon niemanden gegeben, doch dafür in den Nachbarwaggons. Einige der ganz Ausgehungerten konnten sich leider nicht zurückhalten und haben sich mit der fetten Erbsensuppe die Bäuche voll geschlagen. Für viele von ihnen wurde diese Suppe so zu ihrer letzten Speise.

So ist dieser Blockadewinter für mich zu Ende gegangen. Später erst erfuhr ich, dass dieser Winter der härteste von allen drei Blockadewintern gewesen ist, die die Leningrader ertragen musten. Er hatte die meisten Menschenleben gefordert. Spezialisten meinen, dass während des ersten Jahres der Blockade wegen des Hungers, des Granatenbeschusses und der Bombardierungen etwa 1 Million Menschen umgekommen sind.

1949 sind wir dann nach Leningrad zurückgekehrt, wo ich in die 7. Klasse kam. Mit einer Bescheinigung, dass ich sieben Jahre die Schule besucht hatte, versuchte ich dann zunächst an der Fachschule für Seefahrt zu studieren, dann an der Oberschule der Akademie der Künste. Doch aus objektiven Gründen (eine ganze Reihe an Krankheiten nach der Blockade) und subjektiven Vorhaltungen (Zweifel der Eltern am Talent ihres Sohnes), musste ich zunächst erst einmal in die Schule zurückkehren.

1954 hatte ich die Schule dann endlich hinter mir und begann ein Studium am Leningrader Institut für Hygiene und Medizin. Die Familientradition sollte sich fortsetzen. Mein Großvater war Landarzt gewesen und mein Vater hatte sein ganzes Leben lang Medizintechnik konstruiert. Das Leben war nicht einfach. In den oberen Studienjahren musste ich bei der „Schnellen Medizinischen Hilfe“ mitfahren. Meine eindrucksvollste Erinnerung an meine Studentenzeit war jedoch eine Reise ins Neuland (Neu- und Brachland, wie es damals in den Zeitungen geschrieben wurde). Von Leningrad aus ging es bis nach Kasachstan — über den Ural und Sibirien in einem Güterzug und dann über die unermesslich weite Steppe in einem offenen Wagen. Was kann schöner und aufregender sein!

1960 habe ich dann mein Studium beendet und war nun Fachmann für Epidemiologie und Hygiene. Mein ganzes Leben habe ich der Entwicklung zweier einander verwandter Wissenschaften gewidmet – der medizinischen Geographie und der Ökologie des Menschen. Ob es viel war oder wenig, das kann ich nicht beurteilen. Es war eine schwierige Zeit zu leben und das gleiche gilt auch für die Entwicklung der Wissenschaft. Trotzdem bin ich mit den Jahren, die ich gelebt habe, zufrieden. Ich habe etwas gemacht, was mir wirklich Freude bereitete, und habe gute und interessante Menschen kennengelernt. Mein Traum vom Reisen, den ich als Kind und Jugendlicher hegte, ist in Erfüllung gegangen. Ich bin über die Berge hinter dem Baikalsee und die des Östlichen Sajans gezogen und habe die Gletscher des Transili-Alatau-Gebirges bestiegen, habe die Steppen der Mongolei durchquert und war auf den Halbinseln Jamal und Tajmyr, habe am Baikalsee gelebt und gearbeitet und habe Alaska und Québec gesehen und bin sogar um das Weiße Haus in Washington spaziert. Ich hatte das Glück, durch die Säle des Rodin-Museums in Paris zu laufen, wovon ich nie zu träumen gewagt hatte, wenn ich vor seinen Skulpturen in der Eremitage gestanden hatte. 1985 erhielt ich gemeinsam mit einer Gruppe von Mediziner-Geographen (B. W. Werschinskij, E. I. Ignatjew, A. A. Keller, O. P. Schepin und andere) den Staatspreis der UdSSR für unsere wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet der Medizin-Geographie und deren Einführung in die Praxis in der Volkswirtschaft.

Als Schlusswort möchte ich noch anführen, dass alles im Leben viel besser geworden ist, als ich es mir in den schweren und entbehrungsreichen Jahren des Kriegs, der Blockade und der Evakuierung hätte vorstellen können. Ich hoffe nun, dass es mir noch vergönnt sein wird, noch einige Jahre weiter zu arbeiten. Diese Hoffnung bestimmt mein weiteres Leben.

 

Der Ausbruch des Krieges

Der Krieg überraschte unsere Familie in dem Dörfchen Kuokkala (heute Repino) in der Karelischen Landenge. Wir waren dort in unserem Sommerhaus. In der Tat war es nur ein Bootshaus für eine Jacht — ein großer Raum in der Mitte und vier kleinen Zimmerchen rundherum – zwei mit Fenstern zum Meer und zwei in Richtung Wald. In der Bootshalle selbst roch es immer nach Pferdemist, denn noch vor kurzem hatte hier die Rote Armee einen Pferdestall. Dort brachten wir nun ein kleines Zicklein unter. Meine Eltern hatten es mir geschenkt, damit es mir nicht so langweilig wird, denn andere Kinder gab es in der Nachbarschaft nicht. Das Zicklein war nachts im Bootsschuppen, doch sehr früh am Morgen weckte es alle mit seinen Hörnern, mit denen es mal an die eine Wand, mal an die andere Wand pochte. Regelmäßig stahl es aus der Küche von meinem Kindemädchen die Graupen und wenn wir in den Wald gingen, um Himbeeren zu sammeln, dann lief es stets voran und brach die besten Beeren ab.

Ganz in der Nähe des Bootsschuppens befand sich das Sommerhaus des bekannten Künstlers Nikolaj Konstantinowitsch Tscherkassow, der dort mit seinen Angehörigen wohnte. Seine Familie und meine Eltern waren schon seit langen gut befreundet. Sowohl wir, wie auch die Tscherkassows hatten diese staatlichen Sommerhäuser in der Karelischen Landenge nach dem finnisch-sowjetischen Krieg von der Leningrader Sommerhausgesellschaft zur Pacht auf 49 Jahre erhalten. Die Karelische Landenge war, nachdem von dort die ursprünglichen Bewohner ausgesiedelt worden waren, ein leerer Flecken Erde. Von den Leningradern traute sich niemand so recht, sich dort niederzulassen, denn man fürchtete, dass die vertriebenen Finnen zurückkehren und den neuen Eigentümern ihre Häuser wieder wegnehmen werden.

Als der Krieg begann, war ich noch nicht einmal fünf Jahre alt, deshalb habe ich keine genauen Erinnerungen mehr an die ersten Tage des Krieges. Doch bald holte sein Atem auch uns ein. Unser Haus stand direkt am Ufer des Finnischen Meerbusens. Genau gegenüber lag Kronstadt, das von den Deutschen intensiv bombardiert wurde. Ich kann mich noch gut an die Flugzeuge mit den schwarzen Kreuzen erinnern, die tief über die Erde flogen. Mir schien es sogar, dass ich das Gesicht der Piloten erkennen konnte. Meine Mutter führte mich, als sie die Flugzeuge sah, schnell in ein dichtes Wäldchen gleich in der Nähe unseres Hauses. Dort versteckten wir uns unter jungen Tannen.

Ich weiß noch, wie meine Eltern einmal wegen einiger Besorgungen nach Leningrad gefahren sind. Mich haben sie zusammen mit meinem Kindermädchen Marusja im Sommerhaus zurückgelassen. Am Abend klopfte jemand an die Tür. Auf der Schwelle stand Tscherkassow in einer Jägeruniform und mit einem Gewehr in der Hand. Er berichtete, dass die Finnen schon ganz nahe seien und dass wir uns aufmachen sollten. Ich weiß aber noch, dass er nach einigen Tagen wieder vor unserer Tür stand und gesagt hat: „Hier ist es erträglicher als in Leningrad“. Und so war es wirklich. In Kuokkale war es besser. Dort fielen keine Bomben und es gab keine Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften. Im Wald wuchsen Pilze und an das Ufer wurden viele Fische angeschwemmt, die durch die Bomben getötet worden waren, sodass wir sie mit bloßen Händen einsammeln konnten. Ich sammelte sie in meinem weißen Panamahut.

Die Blockade begann

Der Ring der Blockade um Leningrad wurde am 8. September 1941 geschlossen. In diesen Tagen kam unsere gesamte Familie in unserer Stadtwohnung in der zweiten Etage des Hauses an der Ecke Mojka — Newskij Prospekt zusammen. Das Haus hieß „Haus des Kaufmanns Kotomin“. Es war bereits im 18. Jahrhundert gebaut worden, war solide gemauert und war wie eine kleine Festung. Sogar die Bomben, die ganz in der Nähe einschlugen, konnte es nicht einmal ins Wanken bringen. Es hat dann immer nur kurz gezuckt, wenn wieder einmal ein Bombe explodiert war. Das Haus ist dadurch bekannt, dass sich dort zu Zeiten Puschkins die Konditorei Wolf und Beranger befand. In ihr hatte sich am Tage des verhängnisvollen Duells Alexander Sergejewitsch mit seinem Sekundanten K. K. Dansas getroffen, um von dort aus ans Schwarze Flüsschen zu fahren.

Insgesamt waren wir sechs Leute, die in dieser Wohnung lebten. Als der Krieg begann, war mein Vater gerade 55 Jahre alt geworden. Vor dem Krieg war er der Direktor einer der Leningrader Betriebe. Während der Blockade diente er auf dem Sanitätsschiff der Armee „Prophylaktik“. Meine Mutter war 41 und hielt unseren morschen Familienkahn am Schwimmen. Meine Schwester Tanja war 22 Jahre alt, und sie besorgte gemeinsam mit meinem Vater Holz und brachte Wasser aus dem Fluss. Ihr erst ein Jahr altes Töchterchen, meine Nichte Ljaletschka, sollte den ersten Blockadewinter nicht überleben. Das ganz entkräftete Kindlein starb in einem Krankenhaus an einer Darminfektion, die sich wegen des Hungers ausgebreitet hatte. Ich war 5 Jahre alt. Mein Kindermädchen Marusja, das auch meiner Mutter im Haushalt half, war in diesem Blockadewinter etwa 30 Jahre alt. Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, wohnte ganz in der Nähe und besuchte uns, wenn seine Kräfte dafür ausreichten, um uns zu helfen. Der erste Blockadewinter sollte auch ihm zum Verhängnis werden.

In unserer Wohnung stand in der Ecke, die am weitesten vom Fenster entfernt lag, ein weißer Kachelofen – ein Holländer. Einmal, als wir nach einer der regelmäßigen Bombardierungen aus dem Luftschutzkeller wieder in unsere Wohnung zurückkehrten, sahen wir, dass etwa in Augenhöhe eines Menschen aus einer Kachel ein kleines Stück Metall hervorstand – ein Granatsplitter. In der Fensterscheibe war sehr exakt ein Loch hineingeschlagen. Der Tod hatte unserem Haus einen Besuch abgestattet, doch niemanden angetroffen.

Eine „nützliche“ Erfahrung

Als ich erwachsen geworden war, begriff ich, dass während der Blockade die Tatsache, dass meine Eltern Erfahrung hatten, unter den Bedingungen von Hunger und dem Fehlen des Nötigsten zu überleben, unsere Rettung war. Meine Mutter hatte mit ihrer kleinen Tochter in Zarizino in den Jahren 1919-1920 schon einmal Hunger erlitten. Mein Vater kämpfte mit dem Hunger in den gleichen Jahren in Petrograd. Als man verkündet hatte, dass Krieg herrscht, stürzten die Leningrader in die Läden und kauften alles auf, was zum Überleben am notwendigsten war. An den Häuserwänden tauchten Drohungen auf, die es untersagten, im Hause mehr als zwei Kilogramm Graupen zu haben, mehr als eine bestimmte Menge Mehl und so weiter. Denjenigen, die diese Anweisungen missachteten, drohten Strafen bis hin zum Erschießen. Da sagte meine Mutter, die bereits die Blockade von Zarizino überlebt hatte: „Mögen die mich doch lieber erschießen, als noch einmal das durchmachen zu müssen, was ich schon einmal durchgemacht habe“. Ihr Kalkül erwies sich als richtig: Schon einige Tage später bombardierten die Deutschen die Lebensmittellager der Stadt und die große Masse der Bevölkerung blieb ohne jegliche Vorräte zurück.

Überleben

Um zu überleben, muss der Mensch etwas essen, etwas heißes trinken und sich im Warmen aufwärmen und schlafen können. Während der Blockade der Stadt wurden alle diese  Komponenten, die man zum Überleben braucht, zu fast unlösbaren Problemen. Lebensmittel gab es auch für die elenden Lebensmittelkarten praktisch keine in den Läden. Diese mussten auf dem „Schwarzmarkt“ aufgetrieben werden. Um Wasser heranzuschaffen, musste man eine vereiste Treppe zu einem Eisloch im Fluss hinuntersteigen. Wir hatten dabei Glück: Unser Haus stand direkt an der Mojka. Diejenigen der Leningrader jedoch, die etwas weiter ab vom Fluss wohnten, hatten es bedeutend schwerer. Einige Straßenzüge einen auch nur zur Hälfte mit Wasser gefüllten Eimer entlangzutragen, war für einen frierenden und vom Hunger ganz entkräfteten Menschen eine schwere Prüfung.

Auch das Holz zum Heizen mussten wir uns selbst beschaffen. Entlang des Ufers der Mojka führte ein schmiedeeisernes Geländer, das in Sockeln aus Granit im Boden verankert war. Noch zu Friedenszeiten diente die Uferstraße an der Mojka als Durchgang für die Menschen, wenn diese gerade nach Beendigung einer Demonstration vom Palastplatz kamen. Deshalb hatte man aus Sicherheitsgründen parallel zum schmiedeeisernen Geländer noch ein weiteres aus Holzbalken angebracht. Jede Nacht machten sich mein Vater und meine Schwester – mit einer Bügelsäge ausgestattet – hinunter auf die Straße, um einen Teil dieser Holzkonstruktion abzusägen. Dies war nicht ganz ungefährlich in einer Stadt, in der Sperrstunde herrschte. Wenn einer am Sägen war, dann hielt der andere aufmerksam Wache, immer auf der Hut nach einer herannahenden Streife. Die Tatsache, dass unsere Hofeinfahrt, in die man im Falle einer Gefahr schnell hätte flüchten können, ganz in der Nähe war, gab den beiden den nötigen Mut, sich auf diese heikle Holzbeschaffung einzulassen.

Sehr wohl weißlich, was einen alles noch erwarten kann, hatte mein Vater bereits im Herbst einen selbstgefertigten Kanonenofen beschaffen können. Natürlich hatten wir in unserer Wohnung den großen Kachelofen, doch wenn Holz und Kohlen fehlen, war dieser leider ganz sinnlos geworden. Es war viel effektiver die kostbaren Kienspanen, die wir auftreiben konnten, in dem kleinen Ofen aus Metall zu verbrennen. Dabei heizten wir die Zimmer, in denen wir wohnten, bei weitem nicht jeden Tag. Meistens hielt sich die gesamte Familie in der Küche auf, wo der große Herd stand. Auf ihm wurde gekocht und auf ihm schlief dann auch die ganze Familie und versuchte den Rest der Wärme in sich aufzusaugen, die noch immer in der gusseisernen Platte verblieben war.

Fallschirmspringer

Es stand warmes Herbstwetter. Meine Mutter, Tanja und ich gingen an der Kathedrale der Gottesmutter von Kazan spazieren. Auf dem Bürgersteig stand eine Gruppe von Menschen. Sie hatten ihre Köpfe in den Himmel gereckt und schauten nach oben. Weit oben am blauen Firmament konnte man kleine weiße Knoten erkennen. Einer in der Gruppe sagte: „Das sind Fallschirmspringer, die hier anlanden werden“. Ein anderer erwiderte: „Du Dummkopf, das sind Teile einer explodierten Granate. Sie beschießen die Flugzeuge“. Doch man konnte keine Flugzeuge sehen und auch Schüsse waren nicht zu hören. Zu Hause angekommen rief ich gleich von der Schwelle: „Wir haben Fallschirmspringer gesehen!“ Meine Mutter wies mich sofort in barschem Ton zurecht und meinte, dass ich nur Panik machen und dass man solche wie mich sonst erschießen würde, denn wenn der Panikmacher ein Kind sei, würden die Eltern dafür herhalten müssen. Meine Mutter kannte das Verhalten und die Gewohnheiten derer, die andere erschossen, sehr gut – und dies nicht nur vom Hörensagen. Diese Lektion hatte ich mir für meine gesamten Kinderjahre eingeprägt.

Beschuss

Ich erinnere mich noch gut daran, was ich empfunden habe, als ganz in der Nähe ein Geschoss eingeschlagen hatte. Wir waren mit meiner Mutter auf der Straße unterwegs. Es war tagsüber und das Wetter war wunderbar. Und plötzlich stieß mich meine Mutter zwischen zwei Sandkisten, mit denen man die großen Schaufensterscheiben der Geschäfte verschlossen hatte. Sie klemmte sich gleichfalls in diese Ritze und bedeckte mich somit mit ihrem Körper. Von meiner Position hinter ihrem Rücken aus, sah ich eine dichte Staub- und Sandwolke, die die Straße entlang trieb. Dann hörte man ein Krachen und das Klirren zersprungener Fensterscheiben. Ob es nun während einer dieser regelmäßigen Bombardierungen, mit denen die Deutschen mehrmals am Tag auf pedantische Art und Weise die Stadt heimsuchten, geschehen ist oder ob es ein einziges Geschoß war —  das kann ich nicht mehr sagen. Als wir aus unserem Unterschlupf hervorkrochen, sahen wir, dass ein Haus am Ende der Straße völlig zerstört war. Die Straße war ganz übersäet mit zersprungenem Glas und Putz.

Eine Evakuierung, die nicht stattgefunden hat

Am Ende des Sommer 1941 wurden die Menschen massenhaft aus Leningrad evakuiert. Der Ring der Blockade hatte sich noch nicht geschlossen und die Menschen, zum größten Teil die Kinder, wurden auf kleinen Schiffen die Newa hinaufgefahren und dann weiter über den Ladogasee weit ins Hinterland gebracht. Einmal kam mein Großvater zu uns und stieß auf meine Mutter, die ganz in Tränen aufgelöst war. Sie hatte mit einem Kopierstift auf weiße Läppchen meinen Namen und meinen Familiennamen geschrieben und war gerade dabei, diese in meine Kleidung einzunähen und ebenso auf einen selbstgenähten Sack, in den sie meine Kleidungsstücke zusammenlegte. Als mein Großvater dieses sah, hielt er eine lange Rede, dessen Sinn man folgendermaßen zusammenfassen kann: Dieses gesamte Vorhaben wird zu nichts Gutem führen, denn auch, wenn die Kinder überleben sollten, werden sie dann doch irgendwo verloren gehen und der Junge wird auf diese Weise ohne seine Familie aufwachsen. Wir sollten vielmehr alle zusammen bleiben und, wenn wir eben sterben sollten, dann sollten wir dies auch alle zusammen. Damit war die Frage meiner individuellen Evakuierung geklärt.

Zum Glück, denn die Boote mit den Kindern wurden von den deutschen „Humanisten“ in der Newa unweit von Leningrad versenkt. Viele Jahre später habe ich einen Dokumentarfilm über die Blockade von Leningrad gesehen und ein Bild hat sich mir in mein Gedächtnis tief eingeschnitten – auf der Newa schwammen unzählige Kindermützchen.

„Prophylaktik“

In mein Gedächtnis an meine Kindheit während der Blockade hat sich auch das Wort „Prophylaktik“ eingeprägt. So hieß das Sanitärschiff, auf dem mein Vater gearbeitet hat. „Prophylaktik“ kümmerte sich um die sanitären Bedingungen auf den Schiffen und in den Zügen der Armee.  Es ist merkwürdig, dass ich mir dieses etwas gekünstelte Wort eingeprägt habe. Es war mir wie von selbst im Gedächtnis geblieben, obwohl sich zu Hause niemand dieses Wort hatte merken können, weswegen es auch nie ausgesprochen wurde. Ich denke, dass gerade der Dienst meines Vaters auf diesem Schiff uns geholfen hat, die schwersten Monate der Blockade zu überleben, denn auf der „Prophylaktik“ wurden Lebensmittelpakete verteilt.

Tischlerleim

Kurz vor dem Krieg wollten meine Eltern unsere Wohnung renovieren und hatten deshalb einiges Material dafür gekauft. Darunter waren auch Tischler- und Kaseinleim. Der Tischlerleim wurde in diesen Jahren noch aus natürlichen Stoffen hergestellt. Er wurde aus Knochen, Hufen und Hörnern (wir erinnern uns noch an „Horn und Hufe“ aus dem „Goldenen Kalb“) gekocht. Der Kaseinkleber wurde aus natürlicher Molke gewonnen. In den Tagen der Blockade galten sowohl der eine wie auch der andere als Lebensmittel. Aus Tischlerleim wurde Sülze gekocht. Eine Tafel Leim wurde als ein vortreffliches Geschenk angesehen. Aus Kaseinleim machten mein Vater und meine Schwester irgendein trübes Getränk, welches ebenso, zusammen mit anderen typischen Speisen der Blockade wie Plinsen aus Kaffeesatz oder zermahlene Eierschalen, auf irgendwelche Weise unsere Kräfte, die immer weiter abnahmen, nicht versiegen ließen.

Ende 1941 wurden im belagerten Leningrad für Lebensmittelkarten an einen Arbeiter nur 250 Gramm Brot ausgegeben, alle anderen bekamen nur 125 Gramm. Diese zähe Masse, der Sägespäne beigemengt waren, konnte man wohl kaum Brot nennen, doch um sie zu ergattern, standen die Menschen in langen Schlangen im Frost an. Zu Hause wurde das Brot geteilt und jede Portion wurde auf einer Waage, wie der Apotheker sie hat, abgewogen. Bei dieser Prozedur war die gesamte Familie anwesend. Wir hatten einander alle gern, doch die Aufteilung des Brotes war etwas Heiliges.

Neujahr 1942

Meine Mutter hatte eine Freundin – Sinaida Davidowna Gabrieljanz. Sie war die führende Solistin im Leningrader Operettentheater, also — wie man es heute ausdrücken würde – eine Operndiva. Ihr Theater war dadurch berühmt, weil sein Ensemble – wie mir scheint, das einzige aller Theaterensembles der Stadt — nicht evakuiert worden, sondern vollständig im belagerten Leningrad geblieben war. Außerdem war das musikalische Genre der Operette sehr gefragt, und die Künstler traten regelmäßig vor den Marinesoldaten auf. Sinaida Davidowna wurde von einem Admiral umworben. Er brachte ihr und ihren zwei kleinen Kindern zum Neujahrsfest eine richtige Tanne ins Haus. Auch meine Mutter und ich waren zu diesem Fest geladen. Der Tannenbaum war herrlich. Doch das besondere war, dass an diesem Tannenbaum kleine Kerzenstummel brannten, die der Admiral aufgetrieben hatte. Er hatte sie speziell für dieses Fest in seinem Dienstzimmer gesammelt. Diese hell leuchtenden Kerzen haben bei uns allen einen starken Eindruck gemacht, nachdem wir an all den vergangenen Dezemberabenden ständig in der Dunkelheit umhergekrochen waren. Es gab damals keinen Strom in der Stadt. Die Kinder bekamen kleine Geschenke, die scheinbar auch aus den Versorgungspaketen des Admirals stammten.

Der Schwarzmarkt

In der Stadt gab es einen Schwarzmarkt, wo die Leute versuchten, etwas zu verkaufen oder einzutauschen. Als hauptsächliche Währung galten Brot und Graupen. Für Brot konnte man alles bekommen. Ich bin mir sicher, dass während der Blockade, die die Mehrheit der Leningrader in unendliche und tiefe Not stürzte, sich auch solche Leute fanden, die aus dieser Situation Kapital schlugen und sich unheimlich bereichert haben.

An einem Wintertag hat meine Mutter einmal eine Platinuhr, die mit Diamanten verziert war, auf den Schwarzmarkt gebracht. Diese war ihr wertvollstes Stück, die sogar die Blockade von Zarizino während des Bürgerkrieges „überlebt“ hatte. Die Uhr war ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem sechzehnten Geburtstag gewesen. Meine Mutter hatte Glück. Es gelang ihr ein sehr gutes Tauschgeschäft. Sie wurde weder bestohlen noch betrogen. Für ihre Uhr bekam sie 3 Kilogramm Buchweizen, 2 Kilo Speck und ein ganzes Brot. Dieser Lebensmittelkorb bedeutete in dieser Zeit für unsere gesamte Familie die Aufschiebung des Hungertodes.

Der Luftschutzkeller

Unter unserem Haus befanden sich tiefe Kellergewölbe. Diese hatte man in einen Luftschutzkeller umfunktioniert. Wenn Luftalarm ausgelöst war, dann stiegen wir dort hinab. Wir nahmen ein paar Sachen mit. In meiner Erinnerung sehe ich immer noch ein paar aus Brettern zusammengezimmerte Bänke und Menschen mit Bündeln vor mir, die still dasaßen und lauschten, was draußen auf der Straße vor sich ging. Mein Großvater ist nie in den Luftschutzkeller gegangen. Er sagte immer, dass es besser sei, sofort von einer Bombe oder einem Geschoss getroffen zu werden, als lebendig begraben zu sein. Wie mir scheint, haben auch wir nach einiger Zeit aufgehört, während der Bombenangriffe die Wohnung zu verlassen. Wenn die Bomben in der Nähe einschlugen, dann erzitterte das Haus und im Schrank klirrte das Geschirr. Das Haus, das sich noch an Puschkin erinnern konnte, war – was selten war – äußerst stabil.

Ohnmacht aus Hunger

Es war Winter und sehr kalt. Es ertönte ein Klopfen an der Tür. Zwei Männern zogen unter den Armen Tanja hinter sich her. Sie war auf der Straße umgefallen und hatte das Bewusstsein verloren. Ein Glück, dass dies nicht weit von unserem Haus entfernt passiert war. Zwei Passanten hatten sie aufgehoben und nach Hause gebracht. Man kann Tanja wirklich einen Glückspilz nennen. Zu Hause erzählte man sich, dass auf der Straße Leichen liegen und dass die Menschen ruhig an ihnen vorübergehen.

Großvater

An meinen Großvater Pjotr Petrowitsch Petrow, ein Nachfahre eines Adligen, der vor der Revolution für die Finanzen seines Gouvernements zuständig war, habe ich sehr anrührende Erinnerungen. Er war natürlich schon nicht mehr ganz jung, doch wenn er zu uns zu Besuch kam, dann kam er immer mit einer Schachtel Tabak, Papierhülsen und einem kleinen Maschinchen, das Zigaretten stopfen konnte. Wenn er mit meinen Eltern oder Gästen im Gespräch war, waren die Hände meines Großvater immerzu beschäftigt. Sorgfältig hat er die fertigen Zigaretten in die Schachtel gelegt, in der zuerst die Papierhülsen gelegen hatten und die dann im Verlaufes des Gespräches durch fertige Zigaretten ausgetauscht wurden. Mein Großvater war ein leidenschaftlicher Raucher und rauchte seine selbst gefertigten Glimmstengel. Außerdem sammelte er staatliche Zigaretten verschiedener Marken. Die Tabaksammlung meines Großvaters hat dann auch später ihren ganz persönlich Beitrag geleistet zur Rettung unserer Familie. Mein Vater hatte einen Marineoffizier kennengelernt von einem der Schiffe, die die Brücken über die Newa vor den Luftangriffen der Deutschen schützen sollten. Der Offizier besuchte uns zu Hause und brachte stets einen Teil seines Lebensmittelpaketes mit sich und bekam dafür als Gegenleistung einige Zigaretten. Es war aber nicht so, dass dies ein Handel gewesen wäre, es war vielmehr ein Freundschaftsdienst. Einmal brachte er uns als Geschenk frischen Fisch mit. Nachdem die Palastbrücke wieder einmal von den Deutschen bombardiert worden war und die feindlichen Flugzeuge von den Schiffen aus beschossen wurden, schwammen um das Schiff herum viele tote Fische auf, die von den Matrosen eingesammelt wurden. Einen kleinen Teil von diesem „Geschenk des Himmels“ bekamen so auch wir. Ganz allgemein gesagt haben sich die Marinesoldaten tapfer gegen die Deutsche Luftwaffe geschlagen. Nicht eine der Leningrader Brücken ist zerstört worden, obwohl sich die faschistischen Asse immer wieder daran versucht haben.

Mein Großvater starb am 12. Januar — still und friedlich in der Nacht, als er gerade bei uns zu Besuch war. In solchen Fällen nähten die Leningrader gewöhnlich ihre Toten in Laken oder eine Decke ein und legten sie vor den Hauseingang. Tagsüber fuhren nämlich spezielle Autos durch die Stadt und brachten die Toten auf einen Friedhof, wo sie in Gräben vergraben wurden, die vorher mit einem Bagger ausgehoben worden waren. Die meisten Menschen hatten einfach keine Kräfte mehr, um ihre Angehörigen auf ihrem letzten Weg zu begleiten und für sie ein Grab zu schaufeln.

Meine Eltern dagegen entschieden sich, meinen Großvater nicht auf die Straße zu bringen, sondern ihn selbst zu beerdigen, in einem eigenen  Grab, was im Winter jedoch völlig unmöglich war. Sie wickelten ihn deshalb in ein selbstgefertigtes Leichentuch ein und legten ihn in das frostige Badezimmer und hofften, dass der Frühling bald kommen möge.

Ein Becher warmen Wassers

In Leningrad, das im Winter 1941-42 einer Eiswüste, wie es sie in der Arktis gibt, glich, bewegten sich die Menschen, da es überhaupt keinen Nahverkehr gab, nur in kurzen Gängen von einem Ort, an dem sie sich ein wenig aufwärmten, bis zu einem nächsten solchen. Auf diese Weise gelangte eines Tages auch Boris Alexejewitsch Medwedjew – ein Bekannter meiner Schwester Tanja und meiner Mutter — zu uns nach Hause. Vor dem Krieg war er ein bekannter Filmregisseur, ein Witzbold und Lebemann, doch bei diesem Besuch sah er äußerst erbärmlich aus, wie übrigens die meisten Einwohner der belagerten Stadt. Seine einst so gepflegten Hände versteckte er in den Ärmeln seines Mantels. Doch meine Mutter bemerkte, dass sie sehr schmutzig und mit irgendeiner Kruste bedeckt waren. Sie bot ihm deshalb einen Becher warmen Wassers an, damit er sich damit die Hände waschen könne. Auf dem Kanonenofen stand der Kessel, der noch heiß war. Meine Mutter nahm eine Emailletasse, füllte sie mit heißem Wasser und gab kaltes hinzu. Über einer Schüssel goss sie das Wasser über die Hände des Gastes und dieser seifte sie ein und lächelte dabei voller Seligkeit. Dies war eigentlich nichts besonderes,  doch im Leningrad der Blockade war die Wasserversorgung zusammengebrochen und es gab auch fast keinen warmen Ort. Deshalb war ein Becher warmen Wassers für einen völlig durchfrorenen Menschen wie ein richtiges Wunder. Nach vielen Jahren war Boris Alexejewitsch wieder einmal bei uns zu Gast – er war gerade aus Westdeutschland zurückgekehrt, wo er als Vertreter des staatlichen Filmverleihs tätig war – und erinnerte sich an diese Episode als eine seiner glücklichsten Erinnerungen an die Zeit der Blockade.

Über den Ladogasee

Ende Februar 1942 wurde die Stadt tagsüber stark unter Beschuss genommen. Unser Haus schwankte und der Putz kam von den Wänden. Mein Vater trat heraus, um nachzusehen, was vor sich ging und ob es nicht irgendwo in der Nähe brannte. Unter der Toreinfahrt zum Hof erblickte er einen Offizier, der ganz von Kalkstaub bedeckt war. Man konnte ahnen, dass dieser Mensch während des Bombenangriffs unter die mächtigen Mauern des alten Hauses geflüchtet war, um zu warten, bis die Bombardierung eingestellt würde. Mein Vater schlug ihm vor, zu uns in die Wohnung hinaufzukommen, um sich aufzuwärmen. Der Hauptmann sagte, dass er den Ingenieur Prochorow suchen würde. Es hatte aber ein Problem mit der Adresse. Auf dem Newskij Prospekt trägt unser Haus nämlich die Nummer 18, doch an der Mojka die Nummer 57. Mein Vater sagte: „Prochorow – das bin ich. Mit was für einem Anliegen wollen Sie zu mir?“ „Ich komme mit einem Auftrag von Ihrem Sohn. Einige Offiziere der Akademie der Panzertruppen in Uljanowsk, deren Familien immer noch in Leningrad zurückgeblieben sind, haben eine Rettungsaktion geplant. Sie haben einen Lastkraftwagen auf einen Waggon geladen und sind mit diesem bis zum Ladogasee gefahren, bis zur „Straße des Lebens“. Auf dem Weg ist Wladimir Borisowitsch krank geworden, doch er, Hauptmann Gorowoj, sei über den Ladogasee gekommen und sammle nun die Verwandten der Offiziere aus Uljanowsk ein. Leider haben viele bis zu diesem Tag nicht überlebt. Also kurz gesagt, packt eure Sachen zusammen, in zwei Tagen fahren wir zurück“. In der Tat war mein älterer leiblicher Bruder Wladimir, der vor dem Krieg an der  Leningrader Hochschule für Forstwirtschaft unterrichtet hatte und ein Fachmann war für Raupentechnik, als Dozent an die Akademie der Panzertruppen nach Uljanowsk versetzt worden.

Eilig wurde zusammengepackt. Von den Fenstern nahmen wir die dicken Vorhänge und nähten Säcke aus ihnen. Meine Mutter und mein Vater hatten viel Erfahrung mit solchen Umzügen. Sie hatten eine sehr gute Vorstellung von dem, was eine Familie auf einer schwierigen Reise zu erwarten hat und was es bedeutet, bei fremden Leuten unterzukommen. Davon, dass wir während der Überfahrt über den Ladogasee kurz vor Beginn des Frühlings und unter dem ständigen Beschuss der Autokolonnen, ganz einfach hätte umkommen können, wurde nicht gesprochen. Sterben hätte man in diesen Tagen wo auch immer können.

Als wir Leningrad verließen, habe ich zu beiden Seiten der Straße brennende Häuser gesehen – die Folgen von Beschuss oder Bombardierung. An die Überfahrt über den Ladogasee auf einer eiskalten nur mit einer Plane bedeckten Ladefläche, auf der wir saßen, kann ich mich nicht mehr erinnern. Der Lastkraftwagen schaffte es aber sicher bis an die Bahnstation, wo wir auf einem Bahnsteig ausgeladen wurden. Dort gab man uns zunächst Kekse und Schokolade und danach half man uns in einen beheizten Güterwagen, wo wir uns irgendwie einrichteten. Der Zug fuhr sehr langsam. An großen Bahnhöfen nahmen die Männer unseres Waggons immer zwei Eimer mit sich und gingen damit zu einer Verpflegungsstation, von der sie dann mit dicker Erbsensuppe und ganzen Broten zurückkehrten. Es wurde damit begonnen, richtiges Brot zu teilen. Irgendwer schnitt große Stücke ab und fragte: „Wer bekommt  dies?“ Jemand, der mit dem Rücken zu dem, der schnitt, saß, antwortete: „Maria“ und so bekam Maria ihren Anteil. Auf diese Weise hatte man in den Lagern hinter Stacheldraht die Gerechtigkeit aufrechterhalten. Die Gebräuche der Lagerinsassen sind so dann auch in den Alltag der einfachen Menschen eingegangen.

Der Zug war viele Tage lang unterwegs. Jeden Morgen wurde die Tür des Güterwagens aufgezogen und durch den Spalt der Öffnung schob sich ein Kopf, der immer wieder die gleiche Frage stellte: „Gibt es Tote?“ Zum Glück hat es in unserem Waggon niemanden gegeben, doch dafür in den Nachbarwaggons. Einige der ganz Ausgehungerten konnten sich leider nicht zurückhalten und haben sich mit der fetten Erbsensuppe die Bäuche voll geschlagen. Für viele von ihnen wurde diese Suppe so zu ihrer letzten Speise.

So ist dieser Blockadewinter für mich zu Ende gegangen. Später erst erfuhr ich, dass dieser Winter der härteste von allen drei Blockadewintern gewesen ist, die die Leningrader ertragen musten. Er hatte die meisten Menschenleben gefordert. Spezialisten meinen, dass während des ersten Jahres der Blockade wegen des Hungers, des Granatenbeschusses und der Bombardierungen etwa 1 Million Menschen umgekommen sind.

Boris Prochorow

1949 sind wir dann nach Leningrad zurückgekehrt, wo ich in die 7. Klasse kam. Mit einer Bescheinigung, dass ich sieben Jahre die Schule besucht hatte, versuchte ich dann zunächst an der Fachschule für Seefahrt zu studieren, dann an der Oberschule der Akademie der Künste. Doch aus objektiven Gründen (eine ganze Reihe an Krankheiten nach der Blockade) und subjektiven Vorhaltungen (Zweifel der Eltern am Talent ihres Sohnes), musste ich zunächst erst einmal in die Schule zurückkehren.

1954 hatte ich die Schule dann endlich hinter mir und begann ein Studium am Leningrader Institut für Hygiene und Medizin. Die Familientradition sollte sich fortsetzen. Mein Großvater war Landarzt gewesen und mein Vater hatte sein ganzes Leben lang Medizintechnik konstruiert. Das Leben war nicht einfach. In den oberen Studienjahren musste ich bei der „Schnellen Medizinischen Hilfe“ mitfahren. Meine eindrucksvollste Erinnerung an meine Studentenzeit war jedoch eine Reise ins Neuland (Neu- und Brachland, wie es damals in den Zeitungen geschrieben wurde). Von Leningrad aus ging es bis nach Kasachstan — über den Ural und Sibirien in einem Güterzug und dann über die unermesslich weite Steppe in einem offenen Wagen. Was kann schöner und aufregender sein!

1960 habe ich dann mein Studium beendet und war nun Fachmann für Epidemiologie und Hygiene. Mein ganzes Leben habe ich der Entwicklung zweier einander verwandter Wissenschaften gewidmet – der medizinischen Geographie und der Ökologie des Menschen. Ob es viel war oder wenig, das kann ich nicht beurteilen. Es war eine schwierige Zeit zu leben und das gleiche gilt auch für die Entwicklung der Wissenschaft. Trotzdem bin ich mit den Jahren, die ich gelebt habe, zufrieden. Ich habe etwas gemacht, was mir wirklich Freude bereitete, und habe gute und interessante Menschen kennengelernt. Mein Traum vom Reisen, den ich als Kind und Jugendlicher hegte, ist in Erfüllung gegangen. Ich bin über die Berge hinter dem Baikalsee und die des Östlichen Sajans gezogen und habe die Gletscher des Transili-Alatau-Gebirges bestiegen, habe die Steppen der Mongolei durchquert und war auf den Halbinseln Jamal und Tajmyr, habe am Baikalsee gelebt und gearbeitet und habe Alaska und Québec gesehen und bin sogar um das Weiße Haus in Washington spaziert. Ich hatte das Glück, durch die Säle des Rodin-Museums in Paris zu laufen, wovon ich nie zu träumen gewagt hatte, wenn ich vor seinen Skulpturen in der Eremitage gestanden hatte. 1985 erhielt ich gemeinsam mit einer Gruppe von Mediziner-Geographen (B. W. Werschinskij, E. I. Ignatjew, A. A. Keller, O. P. Schepin und andere) den Staatspreis der UdSSR für unsere wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet der Medizin-Geographie und deren Einführung in die Praxis in der Volkswirtschaft.

Als Schlusswort möchte ich noch anführen, dass alles im Leben viel besser geworden ist, als ich es mir in den schweren und entbehrungsreichen Jahren des Kriegs, der Blockade und der Evakuierung hätte vorstellen können. Ich hoffe nun, dass es mir noch vergönnt sein wird, noch einige Jahre weiter zu arbeiten. Diese Hoffnung bestimmt mein weiteres Leben.

 

Uebersetzt von Henrik Hansen
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