Die Verteidigung meiner Dissertation hat mir das Leben gerettet
Mein Vater, Michail Iwanowitsch Kusnezow (geb. am 13. November 1913 im Dorf Nowikowo, gest. am 6. April 1987 in Moskau) wurde in der Familie eines Bauern geboren, der ein Pferd und eine Kuh besaß. Mein Vater ist Ende der Zwanziger Jahre nach Moskau gekommen und hat dort eine Arbeit in einem Gewerk des Waggonbaus angenommen, wo er sich bald bis zum Schlosser und Stanzer der höchsten Kategorie hochgearbeitet hat. Gleichzeitig absolvierte er die Arbeiter-und Bauernfakultät. 1938 beendete er mit Auszeichnung die philosophische Fakultät des Moskauer Instituts für Philosophie, Literatur und Geschichte und in der Folge dann auch die Aspirantur an der Moskauer Staatlichen Universität. Am 23. Juni 1941 reichte er seine Dissertation in der Doktorat-Abteilung ein und trat als Freiwilliger der Landwehr bei. Dort wurde er bald zunächst Sergeant und dann Kommandeur über die Geschütze.
1941 geriet mein Vater in eine Einkesselung, in der sein Kommandeur getötet wurde, der Kommissar jedoch die Flucht ergriffen hat. Später wurde herausgefunden, dass der Kommissar seinen Parteiausweis verbrannt und andere Kleidung angezogen hat, sich einen Bart hat wachsen lassen und durch die Dörfer gezogen ist und sich als Priester ausgab. Der Kommissar wurde daraufhin erschossen. Die Soldaten, die ohne Kommando zurückgeblieben waren, teilten sich in mehrere Gruppen. Dabei leitete nur mein Vater zwei ihm unterstellte Soldaten in eine Richtung, die sich bei der ungünstigsten Entwicklung der Umstände als richtig erweisen hätte können. Und so war es dann auch, und mein Vater gelangte zusammen mit einem Soldaten aus dem Kessel (der zweite Soldat wurde getötet, als sie sich im Gefecht aus dem Kessel schlugen). Mein Vater und der Soldat wurden sofort festgenommen, denn man argwöhnte, dass es nicht ganz zufällig war, dass es nur ihnen beiden gelungen war, aus der Einkesselung zu entkommen. Doch schon bald hat man die Sache aufgeklärt: Für sie sprach, – und das wurde ihnen angerechnet — dass sie in Uniform und mit der Ausrüstung, die sie an sich trugen, sowie mit der letzten noch verbliebene Munition und mit ihrer persönlichen Waffe aus dem Kessel entkommen waren. Mein Vater hatte zudem noch seinen Parteiausweis in der Tasche. Meinem Vater und dem Soldaten wurde gestattet weiter zu kämpfen.
Zu jener Zeit fand am 29. September 1941 an der Moskauer Staatlichen Universität die Verteidigung eines Doktortitels, die es so noch nicht gegeben hatte. Kandidat des Doktortitels war mein Vater, doch er war selbst bei der Verteidigung gar nicht anwesend und wusste auch noch nicht einmal davon. Doch die Verteidigung war vorbreitet, es gab Opponenten und eine Diskussion darüber. Es war eine der ersten Arbeiten über G.W. Plechanow. An der Front erst erhielt mein Vater völlig unerwartet die Nachricht, dass ihm der Titel eines Doktors der Philosophie zuerkannt worden war. Aus diesem Grunde wurde mein Vater in eine Artilleriefachschule versetzt, was ihm das Leben rettete. Die anderen Kameraden von ihm, die zurückgeblieben sind, sind umgekommen.
Mein Vater hat vor Smolensk und Wjamsa, vor Moshajsk und Moskau, vor Voronesh und Pskow, in Karelien und Finnland, Polen und Deutschland gekämpft. Für die Überquerung des Flusses Swir und die Kämpfe in Karelien wurde er mit dem Orden „Roter Stern“ und für die Gefechte in Polen mit dem Orden „Vaterländischer Krieg“ II. Stufe ausgezeichnet. Er bekam zwar diese Ehrungen, war jedoch selbst aus der Partei ausgeschlossen worden! Mein Vater beendete den Krieg als Hauptmann, da man ihn nach gefälschten Denunziationen und dem Ausschluss aus der Partei nicht mehr weiter beförderte. Er wurde allerdings nicht in den Gulag verfrachtet, wie es noch zu Friedenszeiten üblich war.
Ich habe hier eine Einschätzung meines Vaters vor mir liegen, die am 27. April 1945 vom Kommandeur des 419. Schützenregiments von Major Vinokurow erstellt worden ist. Der Major verschweigt nicht nur, dass mein Vater wegen „Äußerungen gegen die Partei“ aus dieser ausgeschlossen worden war, er schreibt vielmehr über M.I. Kusnezow: „Er genießt unter den Soldaten und Offizieren des Regiments hohes Ansehen und ist politisch sehr gut gebildet. Er ist moralisch integer und ideologisch ausgewogen. Der Sache der Partei Lenins und Stalins, sowie der Sozialistischen Heimat ist er treu ergeben“. Um eine solche Einschätzung zu schrieben, war nicht mehr und auch nicht weniger Mut von Nöten, als im offenen Gefecht. Da kommt nicht einmal die Frage auf, wie man es überhaupt mit einem solchen Kommandeur bis nach Deutschland schaffen konnte.
Von 1946 bis 1987 hat mein Vater an der Herausgabe der „Sowjetischen Enzyklopädie“ mitgearbeitet. Zuerst war er kommissarisch eingesetzter Leiter der Abteilung Militärwissenschaften. Doch dann ist Ende 1947 der Begutachtungskommission beim Ministerrat der UdSSR aufgefallen, dass mein Vater aus der Partei ausgeschlossen worden war. Er wurde daraufhin in seiner Position immer weiter herabgesetzt, bis er dann Ende 1952 ein einfacher Korrektor war. Die nächste Stufe wären die Kündigung oder aber eine Inhaftierung gewesen. Seine Kollegen mieden ihn und grüßten ihn nicht einmal. … Mein Vater jedoch nahm alles gelassen hin, ließ sich seine Würde nicht nehmen und war ganz im Gegenteil damit beschäftigt, meiner zukünftigen Mutter den Hof zu machen. Im März 1953 starb dann Stalin, und es ging mit meinem Vater auch auf der Arbeit daraufhin wieder bergauf.
M.I. Kusnezow war von 1956 bis 1971 Leiter der Redaktion der Geschichte der UdSSR und danach, von 1971 bis 1987, Stellvertretender Vorsitzender des wissenschaftlichen Redaktionsrates für die Gesellschaftswissenschaften. Er war für die Vorbereitung sämtlicher Enzyklopädien, Nachschlagewerke und Artikel auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften, für Philosophische Wörterbücher und demographische Veröffentlichungen und vieles andere mehr zuständig, so auch für die Abschnitte in der Sowjetischen Historischen Enzyklopädie über die Große Sozialistische Oktoberrevolution und den Bürgerkrieg, die militärischen Interventionen gegen die UdSSR und den Großen Vaterländischen Krieg. M.I. Kusnezow half auch anderen Sowjetrepubliken, ihre eigenen Enzyklopädien herauszugeben. Für diese Arbeit wurde er mit dem Orden der „Freundschaft der Völker“ ausgezeichnet.
Bereits im Jahre 1955 trat mein Vater erneut in die Partei ein und diente im Glauben und in der Wahrheit seinem sozialistischen Vaterland. Dabei versuchte er, das Maximale, was zu dieser Zeit möglich war, zu bewirken.
Nach der Entscheidung des Plenums des Zentralkomitees der KPdSU vom Januar 1987 über die Demokratisierung bemühte sich mein Vater darum, das ZK davon zu überzeugen, deren kürzlich getroffene Entscheidung zum Verbot der Veröffentlichung der Artikel über Trozkij und Bucharin, Sinowjew und Kamenew und andere in der Enzyklopädie der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ und des Artikels über Andrej Tarkowski im Filmlexikon zurück zu nehmen. Doch A.N. Jakowlew und danach auch M.S. Gorbatschow konnten sich nicht dazu durchringen, die Leitung des Verlages in dieser Frage zu unterstützen. Danach entschieden sich der Vorsitzende des wissenschaftlichen Redaktionsrates A.M. Prochorow, Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Nobelpreisträger, sein erster Stellvertreter W.G. Panow und mein Vater eine Druckerei zu suchen, die es wagt, die Enzyklopädie und das Lexikon ungeachtet jenes Verbotes seitens der Zensur zu drucken. Eine solche Druckerei wurde schließlich gefunden und die Artikel wurden so, wie es die drei Herren für richtig hielten, veröffentlicht!
Die Enzyklopädie „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ und das Filmlexikon wurden auf diese Weise zu einem Schrittmacher auf dem Weg zur Wiedererlangung der Freiheit des Wortes in Russland. Dabei waren Prochorow, Panow und mein Vater und ihre Gesinnungsgenossen im Verlag eigentlich keine erklärten Gegner des Regimes. Es war einfach der Moment gekommen, in dem diese Männer, die ihr Fach liebten, es einfach satt hatten, sich weiterhin der vortrefflich arbeitenden Zensur zu beugen.
Es ist nur schade, dass es meinem Vater nicht mehr vergönnt war, die gedruckten Exemplare der Enzyklopädie in der Hand zu halten. Alles, was damals geschah, war zu viel für seine Nerven und endete für ihn mit einem Schlaganfall.
Uebersetzt von Henrik Hansen
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