3 November 2007| Jamschtschikow Savva (übersetzt von Pritvorova Maria)

Die unbesiegbare Waffe

Es begab sich zu unserer Zeit, im Jahr 1941, waehrend des Grossen Vaterlaendischen Krieges. In einem Dorf bei Sergiev Posad [eine Stadt im Moskauer Gebiet, die durch das St. Sergius-Dreifaltigkeits-Kloster bekannt ist — Anm. d. Ue.] lebte eine fromme Familie. Der Sohn Sergej hatte die Schule absolviert und ueberlegte, was er weiter studieren sollte. Aber im Juni begann der Krieg, und er wurde zum Wehrdienst einberufen. Als seine Mutter ihn an die Front begleitete, segnete sie ihn mit einem kleinen Kreuz und sagte:

„Soehnchen, nimm das Kreuz nie ab, es wird dich vor dem Tod bewahren”. Mit diesen Worten bekreuzte sie ihn und der Sohn fuhr fort.

Die Jungen wurden unvorbereitet an die Front geschickt, und gleich im ersten Kampf gerieten alle, die nicht getoetet wurden, in Gefangenschaft. Unter den Gefangenen war auch Sergej.

Man liess die jungen Soldaten in Reih und Glied antreten und gab Befehl: „Fuehrer und Kommunisten, zwei Schritte vor!” Niemand trat vor. Darauf hiess es: „Jeder Zweite — zwei Schritte vor!” Unter den Zweiten erwies sich Sergej als der Erste. Ein deutscher Offizier trat an ihn heran und riss ihm das Hemd auf. Die Knoepfe fielen ab, das Kreuz kam zum Vorschein. Der deutsche Offizier blickte erstaunt drein und begann, die Hemden aller anderen „Zweiten» auf dieselbe Weise „aufzuknoepfen». Aber keiner unter ihnen hatte ein Kreuz. Da sagte er zu Sergej: „Bist du Christ, und die sind Kommunisten?” Der junge Mann entgegnete ihm: „Ich bin sicher, dass du kein Kommunist bist, aber du hast bestimmt auch kein Kreuz!“ „Ja, stimmt”, antwortete der Deutsche. Keiner wurde erschossen, man brachte alle zum Lager.

Im Lager gab man den Kriegsgefangenen fast nichts zu essen, und wenn einer vor Hunger nicht mehr aufstehen konnte, wurde er zu einem Ort gebracht, den man das „Tal des Todes“ nannte. Bei Anbruch der Daemmerung kam der Henker dorthin und toetete diejenigen, die kaum noch am Leben waren.

Es begab sich, dass neue Gefangene in der Baracke einquartiert wurden, es waren russische Kriegsgefangene. Sie kamen herein und fragten uns bald aus, wer woher komme, um Angehoerige ihrer Heimat ausfindig zu machen. Ein aelterer Gefangener fragte, ob es Moskauer gebe. Da meldete sich Sergej und sagte, dass er aus einem Dorf bei Sergijew Posad stamme. Der Neuankoemmling freute sich darueber und fragte: „Zu welcher Familie gehoerst du? Ich bin auch von dort.“ Sergej erzaehlte, wer seine Eltern sind. Sichtlich bewegt entgegnete der Mann: „Ich habe mit deinem Vater im Buergerkrieg gekaempft. Weisst du, was fuer ein Tag heute ist? Heute ist der Tag des Heiligen Sergej von Radonesh! Das heisst, wir haben heute beide Namenstag. Ich hab’ auch etwas mitgebracht”. Mit diesen Worten zog er aus seiner Tasche drei rohe Rueben. Er zerschnitt sie und jeder erhielt eine Ruebenscheibe.

Der hl. Sergej von Radonesh. Ikone aus der Schule des Feodosij, Anfang 16. Jhd.

  

Nach dieser rohen Ruebe bekam Sergej Durchfall und wurde bald bettlaegerig. Nach einigen Tagen wurde er ins „Tal des Todes“ gebracht. Spaeter erzaehlte Sergej darueber: „Ich liege da und blicke in den Himmel. Ich habe weder Todesangst, noch Mitleid mit mir selbst; ich war praktisch ein lebendiger Leichnam, so gleichgueltig war mir alles. Da kommt auf einmal ein Mann zu mir, ein Pole. Er trat schweigend vor mich. Ich sehe ihn an. Wie der Deutsche damals riss er den Kragen meines Hemdes auf und das Kreuz fiel auf seine Hand. Er fuhr mit der Hand zurueck und liess die andere, mit dem Messer erhobene, sinken. So stand er eine Zeit lang, dachte nach und ging dann weg. Als es ganz dunkel geworden war, kehrte er mit seiner Frau zurueck, sie legten mich auf eine Spreite und schleppten mich zu sich nach Hause. Dort pflegten sie mich drei Monate lang wie ihren eigenen Sohn. Als ich wieder ganz zu Kraeften gekommen war, fuehrten sie mich ueber die Frontlinie zu den Russen. Und wieder befand ich mich an vorderster Front. Als der Krieg vorueber war, kam ich zu dem, der mich lebend auf allen Wegen und durch alle Gefahren der Front gefuehrt hat… Ich war oft auf Nachtstreife, in einem weissen Tarnumhang, bei minus vierzig Grad Kaelte und ich betete Gott, dass wir keinen feindlichen Spionen begegneten, um niemanden erstechen zu muessen. In der Nacht war es nur erlaubt, die blanke Waffe einzusetzen, um keinen Nachtkampf zu verursachen, der sich hinziehen koennte. Der Erstochene begann nach seinem Tod, den Moerder zu verfolgen. Aber Gott hat mich vor dieser entsetzlichen Anfechtung bewahrt. Der Krieg war so schrecklich, dass ich Gott das gelobt habe, ins Kloster einzutreten, falls ich diese furchtbare Schlacht ueberlebe.

… Man stelle sich das vor: Da findet ein harter Kampf statt, die deutschen Panzer durchbrechen schon unsere vorderesten Linien, alles auf ihrem Weg zermalmend, und in dieser wahren Hoelle sah ich unseren Bataillonskommandeur den Helm vom Kopf reissen, auf die Knien fallen und… zu Gott beten. Ja, ja — weinend stammelte er die seit Kindheit halb vergessenen Gebetsworte, und flehte zum Allerhoechsten, den er noch gestern geringschaetzig behandelt hatte, um Gnade und Rettung. Da begriff ich, dass jeder Mensch Gott in seiner Seele hat und irgendwann zu ihm kommt“.

Aus: „Archimandrit Alipij. Mensch. Maler. Igumen». Verfasser: Savva Jamschtschikow, unter Mitwirkung von Vladimir Studenikin. Moskau, 2004.

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