Die Güte der Menschen hat einem geholfen zu überleben
Vor dem Krieg hat unsere Familie in der Maximilianovskij-Gasse im Zentrum von Leningrad gewohnt. Meine Eltern haben beide in den Ostseewerken gearbeitet und meine beiden Schwestern und mein Bruder den Kindergarten in der Fonargasse besucht. Ich war mehr bei meiner Oma im Dorf, die damals in Dubrowka gewohnt hat, ganz in der Nähe von Waldaj.
Als der Krieg begann, war ich gerade erst fünf Jahre alt geworden. Ich erinnere mich noch, wie auf der Chaussee unsere Soldaten in ihren Fahrzeugen immer weiter zurückgedrängt wurden und uns die Deutschen mit ihren grünen Stahlhelmen auf Motorrädern entgegenkamen und wie diese mit ihren Maschinengewehren auf die Autos und die Fenster in den Häusern geschossen haben.
Da sich Dubrowka in unmittelbarer Nähe zur Front befand, wurden wir von dort recht bald evakuiert. Wir zogen so in das Dort Lushno und fanden dort bei jemandem in seinem Badehäuschen Unterkunft. Mein Großvater ist bald darauf an Typhus erkrankt und dann gestorben. Wir hatte alle schrecklichen Hunger. Wenn es uns gelang, auf dem Feld eine hart gefrorene Kartoffel zu finden, dann machte meine Großmutter aus ihr Plinsen. Manchmal gaben uns auch die Deutschen aus ihrer Feldküche ein Glas Suppe. Und dann plötzlich, als ich gerade fort war, um so ein Glas Suppe zu holen, ist meine Großmutter gestorben. Noch am gleichen Abend kam der Dorfälteste und nahm die gesamte Winterkleidung meines Großvaters und alles, was ihm noch so gefiel, einfach mit.
Wir Kinder, die wie ich ohne Eltern zurückgeblieben waren, wurden von den Deutschen zusammengesammelt und nach Nowgorod in ein Kinderheim gebracht. Nach einigen Tagen wurden die Juden und Zigeuner unter uns ausgesondert. Auch ein Zigeunermädchen, das neben mir auf einer der Pritschen geschlafen hatte, wurde mitgenommen. Alle diese Kinder hat man am lebendigen Leib in einer großen Grube im Hof begraben. Wir haben uns die Finger in die Ohren gesteckt, um nicht mit anhören zu müssen, wie sie geschrien haben. Noch einige Tage lang konnte man beobachten, wie sich in der Erde über der Grube etwas regte.
In diesem Waisenhaus haben wir etwa ein Jahr gelebt. Die Erzieherinnen waren russische Frauen und einigen von ihnen haben wir Leid getan. Doch was konnten sie schon ausrichten? Es gab fast nichts zu essen. Manchmal hat man uns ein Stück Brot mit Sägespänen gegeben. Wegen des Hungers war ich ganz aufgedunsen und konnte nicht gehen. Einmal hat mir eine dicke bösartige Frau, die bei uns Dienst tat, mein Lebensmittelpaket aus der Hand gerissen und gesagt:
— Du wirst sowieso krepieren!
Dann haben die Deutschen den Befehl gegeben, dass die Einwohner aus der Umgebung uns Kinder zu sich nehmen sollten. Ich habe immer noch auf meine Mutter gewartet und habe mich deshalb lange geweigert, zu irgendwelchen Fremden zu gehen. Doch letzten Endes bin auch ich wie eine Waise einem älteren kinderlosen Ehepaar – Fjodor Pawlowitsch und Evdokija Fjodorowna Bogdanow zugeteilt worden. Sie haben mich wie ihre eigene Tochter aufgenommen und waren sehr gut zu mir. Doch die Zeit damals war sehr schwer. Wir alle haben gehungert und uns nur von gefrorenen Kartoffeln oder irgendwelcher Baumrinde ernährt. Einmal war durch eine Granate ein Pferd getötet worden. Sofort kam eine solche Menschenmenge angelaufen, dass von dem Tier in wenigen Minuten nur noch ein Blutfleck übrig war.
Doch auch wenn es alle sehr schwer hatten, kann ich mich dennoch an keinen einzigen Fall erinnern, dass mir irgendwer, wenn ich sein Haus betrat, nicht irgendetwas zu Essen angeboten hätte – sei es auch nur einen kleinen Fladen oder einen Löffel Suppe. Überall bekam ich wenigstens eine Kleinigkeit zu essen. Wenn diese menschliche Güte nicht gewesen wäre, dann hätte es nichts gegeben, wofür man hätte überleben sollen.
Im Jahre dreiundvierzig hat man angefangen, alle Leute nach Deutschland zu verfrachten. Deshalb haben meine Adoptiveltern mit mir zusammen zunächst ihr Haus zurückgelassen und sind durch die Nachbardörfer geirrt. Dabei bin ich dann noch – als ob es des Unglücks nicht schon genug gewesen wäre – an Keuchhusten erkrankt. Es gelang uns allerdings nicht, uns lange versteckt zu halten. Die Deutschen haben alle aufgespürt. So wurden auch wir gefangen genommen und gemeinsam mit vielen anderen nach Ostrow geschickt. Wieder wurden unter uns die Zigeuner und Juden aussortiert. Diesmal wurden sie jeoch in ein Ghetto verfrachtet. Wir dagegen wurden in Güterwaggons verladen und in Richtung Westen gebracht.
Es war Winter. Der Frost klirrte. Alle froren und hatten Hunger. Meine neuen Eltern haben von dem weingen, was es an Essbarem gab, fast alles mir zugesteckt. Sie haben mich gewärmt und mich abgerieben. Meine Füße waren immer warm, denn mein neuer Papa Fjodor war Schuster von Beruf und hatte mir, als wir noch zu Hause waren, ein Paar wunderbare Stiefel genäht.
Auf dem Weg haben viele versucht zu flüchten. Sie haben die Fußbodenbretter herausgebrochen und sind dann einfach aus dem Wagon gesprungen. Die Deutschen haben aber auf sie geschossen. Ich weiß nicht, ob es jemandem gelungen ist zu entkommen.
Bis wir in Polen angekommen sind, hat man uns nicht ein einziges Mal verpflegt. In Polen wurden wir dann zu einer Verteilerstelle gerufen. Die Kranken und Schwachen wurden sofort ins Krematorium gebracht. Die anderen hat man zum Waschen geführt und ihre Kleidung verbrannt (wir alle waren voller Flöhe). Danach wurden wir wieder auf den Zug verladen.
Man brachte uns nach Westdeutschland, wo wir in ein Lager hinter Stacheldraht am Rande irgendeiner Stadt gesteckt wurden. Wir hausten in riesigen Holzbaracken, die grün gestrichen waren. In einer Baracke waren die Männer in der anderen die Frauen und Kinder untergebracht. Wir schliefen auf Holzpritschen in drei Etagen übereinander. Die Erwachsenen arbeiteten in einer Fabrik, die Kinder mussten das Lagergelände sauber halten und in der Küche helfen. Die Menschen waren so müde, dass sie, wenn sie abends zurückkamen, nicht einmal mehr sprechen konnten. Und doch konnte kaum einer der Erwachsenen, wenn er eines von uns Kindern sah, nicht stehen bleiben und ihm über den Kopf streicheln. Auch wenn er kein Wort sagen konnte, wurde es doch wärmer und freundlicher in der Seele.
Wir wurden zwei Mal am Tag mit gekochter Grütze verpflegt. Brot gab es keins. In der Küche haben die Frauen versucht, den Kindern ein Stück Rübe oder Runkel zuzustecken. Doch nach der Arbeit haben die Deutschen alle, die in der Küche beschäftigt waren und bei denen sie etwas Essbares gefunden haben, grün und blau geschlagen. Ich muss aber dazu sagen, dass es unter den Wachtmännern einen älteren humpeligen Deutschen gab, der einen nie angehalten hat. Wenn er jemanden mit einer ausgebeulten Kitteltasche gesehen hat, dann hat er immer schnell abgewunken: — Na, geh schon!
Doch in der Baracke gab es eine russische Frau, die den Deutschen gesteckt hat, wer worüber spricht und wer was mitbringt. Eines Morgens bin ich auf die Toilette gegangen. Was habe ich da laut geschrien, als ich diese Frau kopfüber in der Grube für die Fäkalien habe liegen sehen. Ich bin sofort in die Barake zurückgelaufen, doch die Frauen haben mir den Mund zugehalten und mir aufgetragen still zu sein. Die Deutschen haben dann auch keine Anstalten gemacht, um herauszufinden, wer diese Spitzelin umgebracht hat.
Manchmal wurden wir zu irgendwelchen Bauern zum Arbeiten geschickt. Der Weg führte jedes Mal durch den Wald an einem Lager für sowjetische Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren, vorbei. Sie waren völlig abgemagert und lagen unter freiem Himmel auf der blanken Erde. Wenn wir auf dem Rückweg in unser Lager waren, haben wir ihnen immer irgendetwas zu Essen über den Zaun geworfen.
Im Mai 1945 wurden wir von den Amerikanern befreit. Sie haben uns in ihr Lager gebracht, wo es ein Badehaus gab, eine Kantine und eine Wäscherei. Man hat uns dort gut verpflegt und auch zu überreden versucht, mit ihnen nach Amerika zu gehen. Meine Adoptiveltern haben sich darauf nicht eingelassen, und so sind wir im Herbst in unsere Heimat zurückgekehrt.
In Ostrow wurden wir auf verschiedene Dörfer in der Umgebung aufgeteilt. So bin ich mit meinem Adoptivvater Fjodor und meiner Adoptivmutter Dusja in das Dorf Grysavino geraten, das zur Kolchose von Birjusowsk gehörte. Man hat mich auf 8 Jahre geschätzt und deshalb in die Schule von Grysawinsk geschickt. Das Leben nahm langsam wieder normale Formen an. Meine neuen Eltern versuchten, mich so gut wie möglich zu verpflegen und mich wärmer zu kleiden. Meine richtigen Eltern hatte ich damals schon vergessen.
Doch in dieser Zeit war es meine leibliche Mutter, die überall in der Welt ihre schwarze Galja suchte. Und so kamen dann an einem schönen Tag, als ich, ohne etwas zu vermuten, am Tisch saß und meine Hausaufgaben machte, auf einmal die Nachbarskinder ins Haus gerannt und schrien:
— Galja, deine Mutter ist gekommen!
Ich habe sehr verwundert reagiert: «Was für eine Mutter?»
Alle hatten erwartet, dass ich mich jetzt freuen würde, doch für alle war es nur eine richtige Tragödie. Mein Papa hat es nicht ausgehalten und hat das Haus verlassen. Und ich saß zwischen meinen beiden Müttern und habe Rotz und Wasser geheult, ohne die Leckereien, die meine leibliche Mutter aus der Stadt mitgebracht hatte, auch nur anzurühren.
Meine erste Mutter hat es dann letzten Endes geschafft, meine zweite Mutter zu überreden, da sie ganz alleine zurückgeblieben war. Meine beiden Schwestern und mein Bruder waren an ein und dem selben Tag ums Leben gekommen, als eine Bombe in ihren Kindergarten eingeschlagen war. Mein Vater war an der Front gefallen.
So kam ich im Dezember fünfundvierzig erneut nach Leningrad. Die ganze Zeit weinte ich und wollte zu meiner Adoptivmutter zurück. Ich wollte meine leibliche Mutter nicht anerkennen. Aus dem Leben vor dem Krieg konnte ich mich nur an meinen Onkel Iwan, den Bruder meiner Mutter, der bei einem Unfall seine Finger verloren hatte, erinnern.
— «Wenn Onkel Wanja ohne seine Finger herkommt, dann glaube ich dir, dass du meine richtige Mutter bist».
Onkel Wanja lebte in einer anderen Stadt, doch hat es trotzdem geschafft, zu uns zu kommen. Ich musste es also glauben und mich neu an meine vergessene Mutter gewöhnen.
Doch zwei Jahre später wurde meine Mutter schwer krank. Die Leiden der Blokade forderten ihren späten Tribut. Ein ganzes halbes Jahr besuchte ich sie täglich im Krankenhaus in der Pirogowskij-Gasse. Jedes Mal hat sie mir etwas zugesteckt, mal ein Brötchen, mal ein Stück Zucker. Doch dann ist meine Mutter gestorben und ich war mit 11 Jahren wieder allein. Wie viele Briefe ich auch nach Grysawino geschrieben habe, ich nie eine Antwort von meinem Vater Fjodor und meiner Mutter Dusja erhalten. Wahrscheinlich waren sie irgendwohin umgezogen. Ich habe mich mit allen Mitteln dagegen gesträubt, ins Kinderheim zu gehen, da ich noch immer die furchtbare Zeit im Kinderheim von Nowgorod vor Augen hatte.
Ich bekam für meine Mutter eine Rente und habe von diesem Geld gelebt. Die Nachbarn im Haus haben mir sehr geholfen. Wenn ich aus der Schule gekommen bin, ist es oft vorgekommen, dass mir mal der eine mal der anderes von ihren aus Fenstern gerufen hat:
— Galja, komm, iss etwas mit bei uns!
Danach wurde mir immer noch etwas zugesteckt, mal ein Kringel, mal ein Würstchen.
Mit 16 Jahren habe ich die 6. Klasse beendet und bin arbeiten gegangen. Meine Lehrerin Tamara Andrejewna hat mir immer wieder eingeschärft:
— Erzähle nur niemandem, dass du in Gefangenschaft warst! Zu Keinem ein Wort über das Konzentrationslager!
Und so habe ich geschwiegen. In sämtlichen Formularen habe ich stets geschrieben: «In Gefangenschaft und in der besetzten Zone bin ich nie gewesen». Erst 1988, als erklärt wurde, dass man minderjährigen Gefangenen in faschistischen Konzentrationslager gewisse Privilegien zu gewähren gedenkt, habe ich mich an den KGB gewandt, um mit dessen Hilfe meine wahre Geschichte bezeugen zu können. Von dort hat man dann in meinem Betrieb angerufen, wo ich mein ganzes Leben an einer Fräsmaschine gearbeitet habe. In der Personalabteilung geriet man in helle Aufregung: Wie konnte es angehen, dass ich, eine ehemalige Gefangene, in einem Betrieb mit erhöhter Geheimhaltungsstufe gearbeitet habe! Obwohl ich als Kind, im Alter von vier bis acht Jahren, in Gefangenschaft war, musste ich den Betrieb verlassen.
Das war sehr kränkend, denn der Krieg und das Konzentrationslager waren wie offene Wunden, für die man mir nun noch Vorwürfe machte. Ich hätte doch überhaupt nicht überlebt, wenn nicht meine neuen Eltern gewesen wären, mein Vater Fjodor und meine Mutter Dusja. Wahrscheinlich sind sie beide schon nicht mehr am Leben, doch ich werden sie in Erinnerung behalten bis ans Ende meiner Tage.
Uebersetzt von Henrik Hansen
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