10 Oktober 2016| Uljachin Valentin erzpriester aufgeschrieben von Aljoschina Tatjana

Die Fähigkeit, mit Menschen reden zu können, hat meinem Vater das Leben gerettet

Mein Vater, Nikolaj Georgiewitsch Uljachin, ist Jahrgang 1907. Er ist in einer Familie gläubiger Christen hineingeboren. Seine Taufe ist im Kirchenbuch der Gemeinde Wjashilja (im Kreis Morschan, Gouvernement Tambow) vom dortigen Priester vermerkt worden. Mein Großvater Georgij – er war Zimmermann und hat Mühlen gebaut – wollte, dass sein Sohn Priester wird. Erst einhundert Jahre später hat sich sein Traum verwirklicht. Ich, sein Enkel, bin heute Priester. 1915 ist mein Großvater zur Armee einberufen worden und in den Kaukasus an die türkische Front gelangt, wo er an den Kämpfen um Ersurum beteiligt war. Mein Großvater hat erzählt, dass zum Dienst in der Armee nur kräftige und starke Burschen ausgewählt wurden. Während eines Angriffs haben die Russen die Türken auf ihre Bajonette gespießt und wie einen Ballen Stroh hinter sich geworfen.

Eine russische Familie hatte vor der Revolution im Durchschnitt sieben Kinder. Meine Großmutter mütterlicherseits hatte zwölf. Meine Großmutter von Vaters Seite hatte auch viele Kinder. Wenn ich mich recht erinnere, waren es acht. Viele von ihnen sind jedoch gestorben. Im Krieg, an Hunger, durch Krankheiten. Nach der Revolution und dem Bürgerkrieg waren von den acht nur noch drei Brüder und zwei Schwestern am Leben.

Wie mir alteingesessene Moskauer erzählt haben war nach der Revolution und dem Bürgerkrieg, so etwa von 1921-1924, innerhalb der mittleren und älteren Generation ein gewaltiges Interesse an der Kirche spürbar. Die Intellektuellen, die überlebt oder es nicht geschafft hatten zu emigrieren und in der Sowjetunion verblieben waren, kamen in die Kirchen, um Buße zu tun. Die Kirchen waren überfüllt. Überall traf man sich in philosophischen und theologischen Kursen.

Die Bolschewiki dagegen sind ihrerseits damals in den 1920ger Jahren das Problem der Erziehung der Jugend auf sehr raffinierte Weise angegangen. Mitte der zwanziger Jahre haben sie zum Beispiel damit begonnen, für die Kindern von Arbeitern und Bauern die Türen der Hochschulen und Universitäten, der Arbeiter- und Bauernfakultäten sowie anderer Bildungseinrichtungen zu öffnen. Es wurde ein ganzes Netz von Kulturhäusern, Sportklubs und aller möglichen Schulen ins Leben gerufen, wo die Jugendlichen ihren Interessen nachgehen konnten. Besonders bemühten sich auf diesem Feld einige spezielle Organisationen, die einerseits zwar dem Komsomol unterstellt waren, anderseits jedoch jede für sich auf ein spezielles Gebiet, wie zum Beispiel Kultur oder Wissenschaft, Kunst oder sogar Ballett ausgerichtet waren. Diese Organisationen waren nicht so sehr politisiert wie der Komsomol. Die „Blaublusen“, wie sie genannt wurden, haben in der gesamten Sowjetunion ein ganzes Netz mit ihren Freizeitangeboten eröffnet und so die Jugend für sich gewonnen. Die Sprösslinge aus Arbeiter- und Bauernfamilien, die nie davon zu träumen gewagt hatten, weil sie sich es einfach nicht vorstellen konnten, einen Hochschulabschluss zu bekommen, erhielten nun von den Bolschewiken die Möglichkeit dazu. Das Leben in den 20iger Jahren war für die Jugend interessant, deshalb war sie in den Kirchen nicht zu sehen.

Wie ist es den Bolschewiken gelungen mit ihrer Taktik so erfolgreich zu sein? Sie haben die Menschen sehr genau nach Alter und Lebensgewohnheiten unterschieden. Die Jugend hatte einfach Priorität. Für die Alten haben sich die Bolschewiken nicht interessiert, denn sie hatten verstanden, dass man die Alten nicht mehr umerziehen kann. In jenen Jahren gab es einen gewaltigen Bevölkerungszuwachs. Wie aus Unterlagen des Völkerbundes hervorgeht, war die Sowjetunion am Ende der Zwanziger Jahre das Land mit der stärksten Geburtenrate[1].

Die Jugend hatte viele Möglichkeiten, aus sich etwas zu machen. Mein Vater interessierte sich sehr für Kunst und Literatur, Gesang und Ballett. Dank der unermüdlichen Aktivitäten der „Blaublusen“ in Krasnodar, wo mein Vater lebte, wurde dort eine Ballettschule eröffnet, wo mein Vater sich dann anmeldete, weil er gerne tanzen lernen wollte.

Noch vor der Revolution hatte Nikolaj Uljachin, mein Vater, den Unterricht in seiner Kirchengemeinde besucht und dann im Kirchenchor gesungen. Von 1915 bis 1924 hat er, noch während er Schüler war, parallel eine Berufsschule besucht und abgeschlossen. Von 1925 bis 1930 hat er dann am Landwirtschaftsinstitut der Region Kuban studiert und in den Jahren 1930-1932 als Ingenieur und Technologe gearbeitet.

1930 war er also, nachdem er die Technologische Fakultät des Landwirtschaftsinstitutes beendet hatte, Ingenieur in der Lebensmittelindustrie geworden. Man schickte ihn zunächst in den Kaukasus, um dort den Aufbau ganzer Lebensmittelfabriken zu begleiten. In Grosny hat er eine Konservenfabrik und in Taganrog das größte in Europa bestehende Werk zur Konservierung von Mais mitaufgebaut. Letzteres haben die Deutschen gesprengt, als sie aus Taganrog wieder abziehen mussten. Die Maschinentechnik war einst, wie mein Vater es erzählte, in den USA eingekauft worden. Bis heute habe ich seine Übersetzungen der Qualitätsstandards aus dem Englischen ins Russische aufbewahrt. Sie sind recht umfangreich. Er verdiente sehr gut und hatte die Möglichkeit seine Brüder und Schwestern gemeinsam mit seinem Vater und seiner Mutter überall, wohin man ihn auch schickte, mit hinzunehmen. Seine Verwandten zogen es vor, dort, wo er gerade arbeitete, mit ihm zu leben. Seine Brüder suchten sich dann dort eine Anstellung, doch im Grunde genommen haben alle von seinem Gehalt gelebt.

Zu Beginn des Krieges kümmerte sich mein Vater bis in den Sommer 1942 hinein um die Demontierung von Fabriken, die aus jenen Regionen, für die die Gefahr bestand, dass sie von den Deutschen besetzt werden könnten, ins Hinterland evakuiert werden mussten. Die Deutschen kamen bei ihren Angriffen schnell voran.

Mein Vater hat mir folgenden Fall erzählt. Wenn ich mich recht erinnere, dann hatte er sich in Klin bei Moskau zugetragen. Es war der Auftrag erteilt worden, eine sehr wertvolle Ausrüstung irgendeines Betriebes zu demontieren. Man hatte dorthin einen Ingenieur geschickt, unter dessen Leitung die Ausrüstung auf das Schnellstmögliche ins Hinterland gebracht werden sollte, denn die Deutschen waren schon dabei, ihre Fallschirmspringer in der Region Klin abzusetzen. Ihnen gelang als Erste in Klin einzudringen, obwohl sich die regulären Truppen der Wehrmacht noch weit entfernt von diesem Städtchen befanden. Die Deutschen nahmen den Ingenieur und die Techniker, die die Werksmaschinen abbauen sollten, gefangen. Der Ingenieur trug einen Ledermantel. Die Deutschen hielten ihn deshalb für einen Kommissar, denn wer einen Ledermantel trägt, muss ein Kommissar sein. Der Ingenieur versuchte sich bei Einheimischen in deren kleinem Holzhäuschen zu verstecken, doch die Hauseigentümer verrieten ihn. Nicht alle standen hinter der Sowjetmacht, viele hießen die Deutschen, wie es so heißt, mit Brot und Salz willkommen. Die Deutschen versuchten nicht, die Sache zu klären. Sie riefen alle Einwohner zusammen und ließen den Ingenieur öffentlich erhängten. Mein Vater war damals als Volkskommissar in ein anderes Werk entsandt worden. Die Demontierung von Betrieben war in Kriegszeiten eine gefährliche Angelegenheit.

Am 5. Juni 1942 wurde mein Vater dann in die Armee eingezogen. Aus dem Wehrdienstausweis geht hervor, dass er im Juli 1942 begonnen hat als Kommandeur einer Kompanie seinen Dienst zu tun. Alle, die über einen Hochschulabschluss verfügten, übernahmen einen Kommandeursposten. Damals gab es spezielle Kurse, die auf verkürzte Weise Offiziere heranbildeten. Die jungen Offiziere nannten diese Kurse „Abschuss“. Mein Vater war an die Leningrader Front beordert worden und nahm an einem dieser Kurse teil. Nach einem Monat der Schulung wurde er zum Kommandeur einer Kompanie ernannt. Er ist nicht von den Deutschen eingekesselt worden, da man diese Lehrgänge außerhalb des Kampfgebietes durchgeführt hat. Nach Angaben meines Vaters war das Verhalten der Leiter dieser Kurse miserabel. Die Soldaten wurden in Sumpfgebiete gejagt, wo man sie eine ganze Nacht lang bis zum Rumpf im Wasser hat stehen lassen. Nach dieser grausamen Form des Drills hatte er bis zum Ende seines Lebens ständige Schmerzen in den Beinen. Er hatte sich Rheuma zugezogen. Die Soldaten wurden in Baracken untergebracht, in denen hungrige Ratten hausten, die keine Furcht hatten, in der Nacht die Ohren, Nasenlöcher und Lippen der Schlafenden anzunagen. Für meinen Vater war die Zeit auf diesem Lehrgang die Hölle. Während dieser Zeit kam es auch zur Tragödie der 2. Angriffsarmee.

Bis Ende 1943 war mein Vater Kommandeur einer Kompanie von Maschinenpistolenschützen. Er ist aber – was einem Wunder gleichkommt — nicht deshalb am Leben geblieben, weil Kugeln oder Granatsplitter ihn verschonten, sondern weil er es vermocht hat, mit den Menschen vernünftig zu reden. Seine Kompanie bestand zum größten Teil aus ehemaligen Strafgefangenen. Es bestand damals die Möglichkeit, dass einfache Strafgefangene ihre Verbrechen an der Sowjetmacht „mit ihrem Blut sühnen konnten“. Es reichte für sie aus, sich einfach an ihren jeweiligen Lagerkommandeur zu wenden, was viele auch taten. Diese Strafgefangenen unterstanden nun meinem Vater. Es gelang ihm aber, zu diesen vormaligen Verbrechern den richtigen Draht zu finden.

Diese „Maschinenpistolenschützen“ zogen es vor, nicht durch das Feuer ihrer Waffen den Feind zu besiegen, sondern lieber nachts über die Abzäunung des Feldlagers zu klettern und sich in die Schützengräben der Deutschen zu schleichen und mit Hilfe von Dolchen und Messern diese abzustechen. Die Durchtriebensten und Mutigsten bekamen dann wirklich eine Maschinenpistole ausgehändigt. Mein Vater lehrte sie nicht nur, wie man mit einer solchen umgeht, er erzählte ihnen auch all das, was er selbst wusste. Er sprach mit ihnen über die russischen Klassiker und über Kunst, ja er hat ihnen sogar etwas vorgesungen. Alles, was er in seiner Jugend selbst gelernt hatte, teilte er mit ihnen auf großzügige Weise. So zog er seine Soldaten auf seine Seite, denn diese wussten ihn als Persönlichkeit zu schätzen und traten ihm mit Hochachtung und Respekt entgegen.

Mein Vater hat erzählt, dass die deutschen Kriegsgefangenen nicht zu beneiden waren. Im Jahre 1942 wurden vor Leningrad alle deutschen Gefangenen in der Regel sofort erschossen. Einige seiner Untergebenen haben an solchen Hinrichtungen teilgenommen und sind dann gewöhnlich wenig später selbst im Kampf gefallen.

Vom 5. Juni 1942 bis zum 10. März 1943 hat mein Vater an der Karelischen und Leningrader Front gekämpft. Ende 1943 wurde er auf den Posten eines Assistenten des Leiters für operative Angelegenheiten beim Stab der 32. Armee versetzt. Kommandeur dieser Armee war Generaloberst Valerian Alexandrowitsch Frolow, ein ehemaliger Unteroffizier noch unter dem Zaren, der das Glück hatte, die Zeit der Säuberungen in den Dreißigern überlebt zu haben. Er war ein gebildeter und ausgeglichener Mensch. Mit ihm zusammenzuarbeiten, war eine Freude. Von 1944 an übernahm Merezkow das Kommando, der zuvor die „Reize des Gulags“ am eigenen Leib erfahren durfte.

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Mein Vater hatte einen jüngeren Bruder. Er hieß Jewgenij und war Jahrgang 1908. Sie waren nur ein Jahr auseinander. Jewgenij arbeitete im Kollektiv von N.N. Polikarpow[2] als Testpilot. Gemeinsam mit Tschkalow, Davidow und Longinow testeten sie Polikarpows Flugzeuge. Zuerst testete er den Kampfbomber I-153 mit dem Namen „Tschajka“. Das war ein Doppeldecker mit Kolbenmotor. Die Deutschen nannten ihn „russisches Speerholz“. Der Rumpf der ersten Flugzeuge war wirklich aus Speerholz. Erst später hat man sie aus Metall gefertigt. Ebenso hatten auch die ersten Jagdbomber der Iljuschin-Reihe Rümpfe aus Speerholz.

Im Februar testete Jewgenij eine I-180 getestet — ein Flugzeug von Polikarpow, ein Eindecker (In einem solchen war 1938 Valerij Tschkalow ums Leben gekommen). Beim Landen versagte die rechte Halterung des Fahrgestells. Jewgenij gelang es jedoch erfolgreich und allein mit der linken Halterung zu landen. Das Flugzeug wurde zur nochmaligen Überprüfung zurückgesandt. Später hat man sich ganz gegen es entschieden.

Die Testflüge für die I-153 liefen im Januar 1941. Das Flugzeug selbst war schon früher entwickelt worden, doch erst in Jahre 1941 hat man auf diesem Jagdbomber zwei synchron arbeitende Kanonen installiert. Beim 21. Testflug geriet ein Geschoss in das Gewinde einer Schraube und der Motor versagte. Jewgenij gelang es aber, das Flugzeug weiter in der Schwebe zu halten und am Ende erfolgreich zu landen. Die Kanone wurde nachgebessert.

Ebenfalls im Januar 1941 hat man die I-185 getestet. Es wütete ein heftiger Schneesturm. Man gab Jewgenij die Order, nicht zu starten. Doch er hat sich — diesem Befehl nicht gehorchend – trotzdem in die Luft begeben, denn er wollte dieses schnellste Flugzeug, das zu dieser Zeit bis auf 600 km/h kam, unbedingt ausprobieren. Wegen schlechter Sicht hat es bei der Landung fast einen Unfall gegeben. Es ist ihm zwar gelungen zu landen, allerdings schliff ein Flügel über den Boden. Wegen des Verstoßes gegen die Disziplin wurde er unter Arrest gestellt und für zwei Monate von den Testflügen suspendiert. Im April 1941 bekam er dann den Auftrag, den Doppeldecker I-190 zu testen. (Dieser Jagdbomber besaß eine außerordentliche Manövrierfähigkeit in geringer Flughöhe, flog aber nicht sehr schnell). Während eins Testfluges wurde ein Fehler entdeckt. Doch Jewgenij überlebte. Das Flugzeug dagegen wurde eingestampft.

Dem Ingenieur Polikarpow unterstand das „Dux“ Werk Nummer 1. Aus diesem Dux-Werk heraus entstand unter den Sowjets im Jahre 1923 das Trozkij-Werk (Lenin war noch am Leben). Die Werkanlagen befanden sich im Moskauer Stadtteil Chodynka und zogen sich den Leningrader Prospekt entlang bis in den Stadtteil Pokrowskoje-Streschnewo hin. In diesem Werk hat Jewgenij bis zu seiner Einberufung zur Armee gearbeitet. Als dann aber der Krieg ausbrach, wurde er sofort eingezogen. Unter den Testpiloten war auch Stephan Pawlowitsch Suprun. Auf seine Idee hin wurden alle Testpiloten in eine gesonderte Einheit zusammengenommen, in die Jagdbomberkompanie Nr. 401 mit besonderer Bestimmung. Suprun war nur 2 Tage Kommandeur dieser Truppe, vom 2. bis zum 4. Juli. Bereits am 4. Juli wurde er abgeschossen. Warum so schnell? Er hatte seine Kompanie mit den Jagdflugzeugen MiG-3 ausstatten lassen. Diese Flugzeuge waren, wenn sie auch die schnellsten waren und am höchsten in die Luft steigen konnten, sehr effektiv nur in drei – vier – fünf Kilometer Höhe. Auf geringer Höhe dagegen waren sie sehr leicht zu schlagen. Luftgefechte aber werden in der Regel in Höhen bis zu anderthalb Kilometern ausgefochten. In diesen geringen Höhen wurden diese Flugzeuge leicht zur Zielscheibe. Viele haben deshalb in dieser Kompanie ihr Leben verloren.

Es sei angemerkt, dass mein Vater Nikolaj Georgiewitsch vor dem Krieg von seiner Mutter gesegnet worden ist. Wie genau es dazu gekommen war, weiß ich nicht. Vielleicht bei einer Begegnung, vielleicht auch nur per Brief. Nachdem im Flugzeugwerk alle Testpiloten in die besagte Kompanie mit besonderer Bestimmung unter dem Kommando von Suprun einberufen worden waren, wollte meine Großmutter auch ihrem Sohn Jewgenij ihren Segen mitgeben. Dieser jedoch lehnte es ab. Er war Mitglied der Kommunistischen Partei, Testpilot und gehörte zur Elite der Roten Armee. Traditionell trafen sich die Testpiloten im Moskauer Hotel „Metropol“. Nach der Arbeit in Chodynka fuhren sie mit ihren Wagen vom Typ „Molotov 1“ dorthin. Meine Großmutter wollte ihren Sohn vor seiner Abreise an die Front segnen. Sie selbst fuhr deshalb in das Flugzeugwerk und wartete an der Pforte auf ihren Sohn. Jewgenij jedoch, dem man mitgeteilt hatte, dass seine Mutter ihn erwartete, nahm einen anderen Ausgang.

Dann wurde er eingezogen und in das Dorf Zubowo bei Orscha geschickt. Dort gingen sowjetische Jagdflugzeuge in die Luft, um die Deutschen zu bombardieren und die deutschen Flugzeuge zu attackieren, die vorher Moskau unter Beschuss genommen hatten. Sein Dienst dort sollte sich als sehr kurz erweisen. Suprun fiel am 4. Juli 1941 und am 5. Juli endete auch Jewgenijs Leben, nur zwei Wochen nach Ausbruch des Krieges. Besonders tragisch war, dass es die eigenen Leute waren, von denen er abgeschossen wurde. Meine Großmutter hat erzählt, dass Jewgenij gerade von einem Gefechtsauftrag zurückkehrte, als die eigene Fliegerabwehrtruppe den Überblick verlor, und nicht mehr wusste, wer zu ihnen gehört und wer Feind ist. Vielleicht war auch der Nebel daran Schuld. Nachdem es jedoch zu diesem Vorfall gekommen war, befahl der Kommandeur des Flugfeldes, dass jene Soldaten von der Flugabwehr, die das Feuer auf die landenden Flugzeuge eröffnet hatten auf der Stelle und vor den Augen aller zu erschießen seien. Es existiert eine andere Version. Auf einigen Internetseiten wird behauptet, dass Jewgenij Uljachin von seinem Partnerpiloten getötet worden ist, scheinbar der zweite Mann, da Jewgenij selbst der Kommandeur seiner Einheit war[3].

Mein Vater kehrte, nachdem er am Institut zu arbeiten begonnen hatte, der Kirche den Rücken. Meine Großmutter hat ihm dies nie zum Vorwurf gemacht. 1941 hat er sich jedoch Christus wieder zugewandt. Da er in eine Kirchengemeindeschule gegangen war, verfügte er über gute Grundkenntnisse über das Christentum, erinnerte sich an alle Gebete, die er einst auswendig gekonnt hatte, und blieb dann auch nach dem Krieg der Kirche treu.

Seinen Dienst in der Armee beendete er am 30. Oktober 1945 als Major. 1945 hatte man ihn als Ingenieur in Deutschland zurückbehalten. Im Rahmen der Reparationsleistungen überwachte er dort die Demontierung ganzer deutscher Fabrikanlagen, die daraufhin in die Sowjetunion gebracht wurden. In Russland wurden diese Fabriken dann anstelle der hier zerstörten wieder aufgebaut.

Von 1945 bis 1946 arbeitete er als Ingenieur beim Ministerium für Lebensmittelindustrie. Er und seine Zeitgenossen hegten große Hoffnungen auf die Zusammenarbeit mit Amerika, wie sie nach dem Krieg zustande gekommen war. Zu einem solchen Verhältnis als Verbündete war es während des Krieges gekommen und brachte auf verschiedenen Ebenen, inklusive dem Land-leasing für beide Seiten Vorteile. Während mein Vater in Deutschland arbeitete, konnte er nur von guten geschäftlichen Beziehungen zur amerikanischen Militäradministration berichten. Doch der Eiserne Vorhang sollte schon bald fallen, wenn man auch weiterhin aus Gewohnheit und nicht zuletzt dank persönlicher freundschaftlicher Sympathien im Gespräch blieb.

Mein Vater war während des Krieges mit dem Orden Roter Stern ausgezeichnet worden. Wofür? Er hatte den Auftrag erhalten, sich mit einem Befehl direkt an die Frontlinie zu begeben. Als er und seine Kammeraden in einem Willys unterwegs waren, schlug ein Geschoss direkt neben ihnen ein, und die Brücke, auf der sie fuhren, fiel direkt unter den Rädern ihres Wagens zusammen. Alle stürzten im Auto sitzend ins Wasser. Mein Vater hat als Einziger überlebt, ist durch den Fluss geschwommen, hat sich bis an die Frontlinie durchgekämpft und den Befehl übergeben. Alles seine anderen Kammeraden haben den Tod gefunden.

Das Lieblingslied meines Vaters war „Auf namenloser Höhe“. Wenn er dieses Lied hörte, gedachte er stets aller seiner gefallenen Kammeraden. Mein Vater hat nie gerne vom Krieg gesprochen. Ich bin als Kind gerne mit meinen Altersgenossen in den Kinos in die Kindervorstellungen, die um 9 Uhr begannen, gestürmt. Eine Kinokarte kostete 10 Kopeken. Wir alle haben gerne Kriegsfilme geschaut. Ich habe oft versucht, mit meinem Vater über das Gesehene zu sprechen, es war interessant für mich. Er jedoch hat immer kategorisch abgelehnt: „Ich habe jetzt keinen Nerv für Krieg“. Als wir uns Ende der Fünfziger Jahre einen Fernseher anschafften, einen „Temp-2“, und ich versucht habe, Kriegsfilme zu sehen, hat mich mein Vater immer dazu aufgefordert, den Fernseher auszumachen. Mein Vater ist 1974 im Alter von 67 Jahren gestorben. Seine kranken Beine haben ihn sein ganzes Leben leiden und den Lehrgang zur Vorbereitung auf die Front im Jahre 1942 nie vergessen lassen.

 

[1] http://www.infran.ru/vovenko/60years_ww2/demogr5.htm

[2] Polikarpow, Nikolaj Nikolajewitsch (1892-1944) – russischer und sowjetischer Flugzeugbauer, einer der Begründer des sowjetischen Flugzeugbaus.

[3] http://testpilot.ru/base/2010/05/ulyaxin-e-g/

Tatjana Aljoschina für „Wahre Geschichten über den Krieg“ 

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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