17 Juli 2012| Lichatschow Dimitrij Sergejewitsch, Mitglied der Akademie der Wissenschaft

Zwei Briefe über die Blockade von Leningrad

Dimitrij Sergejewitsch Lichatschow

Erst im Jahre 1992 wurden mir die Kopien zweier Briefe zugesandt, die ich aus Kazan geschrieben hatte, wohin meine Familie und ich im Herbst 1942 evakuiert worden waren. Beide Briefe sind unter den noch frischen Eindrücken des gerade Erlebten während der Blockade geschrieben.

Erster Brief:

29.12.1942

Liebe Valja! Ich möchte Ihnen beschreiben, wie wir diese Zeit verlebt haben. Im Sommer 1941 waren wir auf unserer Datscha in Vyritsa. Ich hatte gerade promoviert. Wir hatten genug Geld und ich hatte vor, einmal richtig auszuruhen. Einmal die Woche fuhr ich in die Stadt, die restliche Zeit verbrachte ich im Flüsschen Oredesh mit Baden. Wir hatten eine wunderbare Datscha. Vom Kriegsausbruch erfuhr ich am Strand, am Ufer von Oredesh. Sofort krampfte sich mein Herz zusammen. Ich fuhr in die Stadt. Im Institut war Alarm gegeben worden, man bereitete sich auf die Evakuierung nach Tomsk vor. Ich schob Dienst auf dem Dach, danach wurde ich mit anderen Freiwilligen in einer Gruppe zum Ausheben von Schützengräben geschickt. Unsere ganze Familie war noch auf der Datscha, als die Deutschen bereits Siwerskij bombardierten und aus der Luft mit Maschinengewehren die Regionalzüge beschossen, mit denen die Leute auf ihre Datschen fuhren. Ich hatte nicht vor, meine Leute in die aufgeregte Atmosphäre der Stadt zu bringen, aus der die Kinder getrennt von ihren Eltern evakuiert wurden und die Menschen Schlange standen nach Lebensmitteln.

Wir kehrten im letzten Moment von der Datscha in die Stadt zurück. Ende August hatten die Deutschen sämtliche Zufahrtswege nach Leningrad abgeriegelt, die Vorstädte eingenommen und waren bis nach Srednjaja Rogatka vorgedrungen. Einmal kamen welche auf Motorrädern mit ihren Fliegenklatschen bis auf den Platz von Avtovo, drehten eine Runde, kehrten dann aber wieder um.

Dort machten sie Halt, aber es war sofort klar, dass sie mit der Belagerung der Stadt beginnen würden. Gemeinsam mit anderen waren wir verzweifelt bemüht, irgendwelche Lebensmittelvorräte anzulegen. Es gelang uns 10kg Kartoffeln, 12kg Nudeln und 1 kg Butter zu ergattern, sowie 2 große Säcke Zwieback zu trocknen. In einer Apotheke, nachdem ich da einen ganzen Abend zugebracht hatte, kaufte ich für die Kinder 17 Flaschen Lebertran à 100 Gramm und in einer anderen 10 Vitamine-Glukose-Päckchen von der Größe eines Seifenstücks. Und mit diesen Vorräten begann nun unser Winter. Auch weiterhin verbrachte ich jeden zweite Nacht auf dem Dach unseres Instituts. Ich schob Wache. Der ganze Haushalt lag auf den Schultern meiner Frau Sina. Am 9. November wurden die Brotrationen deutlich gekürzt. Das Brot wurde schwarz und nass wie Lehm von den Hüllen der Leinsamen. Es begann die Bombardierung der Stadt. Wir schliefen im Erdgeschoss, in einem kleinen Zimmer, das uns Nachbarn, die die untere Wohnung  hatten, abtraten. Wir meinten, dass es unten sicherer sei. Die Kinder und Sina in einem fremden Bett, ich auf dem Boden. Die erste Zeit war sehr furchtbar. Jeden Abend fielen die Bomben. Die Angriffe begannen immer zur gleichen Zeit. Tagsüber malten die deutschen Aufklärungsflugzeuge Rauchlinien an den Himmel und markierten die Orte, wo die nächsten Bomben fallen sollten. Es war ein Fehler der Leningrader, die nie sahen, dass die Flugzeuge in großer Höhe eine weiße Spur hinter sich ließen. Es war grausam, wenn der Abend kam. Einmal hatte ein „Deutscher“ gleich einige Bomben auf eine Kreuzung geworfen, auf der mehrere Straßenbahnlinien zusammen kamen. Die pfeifenden Bomben flogen genau über unserem Dach und als sie explodierten, „tanzte“ unser Haus und sämtliche Schranktüren öffneten sich von selbst. Mit der Zeit gewöhnten wir uns daran und verschwendeten keine Kraft mehr darauf, uns nach unten zu begeben, besonders nachdem einige Keller mit Menschen darin verschüttet worden waren und Wasserrohre geplatzt und das ganze Haus unter Wasser gesetzt hatten. Auch Petja Obnowlenskij wurde unter einer Treppe verschüttet. Zum Glück fielen die Stufen so auf ihn herab, dass er nur mit blauen Flecken und mit einer gebrochenen Rippe davonkam.

Nach einiger Zeit wurde während der Bombardierung auch noch von oben geschossen. Granaten trafen die Arbeitsstelle meines Vaters. Er löschte den Brand. Das Feuer hatte auch die Druckerei des ehemaligen Synods und das Zentralarchiv am Englischen Ufer erfasst. Sehr oft fielen Granaten auf Straßenbahnen auf dem Newskij und es starben viele Menschen an den Glassplittern. Die Deutschen beschossen die Straßen besonders in den Abendstunden, wenn viele zu Fuß von der Arbeit kamen. Es wurde der Platz der Arbeit und die Palastbrücke beschossen, ebenso die Kreuzung Vvedenskja — Bolshoj Prospekt. Es kam auch vor, dass die Granaten Menschenschlangen trafen, die vor Geschäften standen oder auch Kinder, die gemeinsam mit ihrer Kindergartengruppe einen Spaziergang machten. Wie verhext musste ich ständig Dienst schieben und war daher kaum zu Hause. Ich sollte marschieren lernen oder aber in der Mensa Schlange stehen. Tag und Nacht war das Institut voller Leute. Einige schliefen in Stiefeln auf dem Sofa von Puschkin, andere auf dem Kanapee von Aksakow, auf dem einst Gogol gesessen hatte. Andere auf dem Sofa von Turgenjew oder auf dem Bett, auf dem A. Block gestorben war. In der Stadt irrten Gerüchte umher und ebenso Massen von Menschen aus den Vorstädten. Es gab aber auch viele Spione, die man zu stellen versuchte. Langsam flaute das hitzige Durcheinander wieder ab. Die Straßenbahnen stellten ihren Betrieb ein. Viele konnten so nicht mehr zu ihrer Arbeit kommen. Einige wurden aus der Stadt ausgeflogen. Der „höchste“ von den Institutsbossen, die in der Stadt blieben, war der Leiter der Versorgungsabteilung. Er war vor lauter Hunger völlig gereizt und schrie ständig auf die Mitarbeiter und Angestellten ein. Ohne Arbeit zu sein und so auch ohne Lebensmittelmarken, war furchtbar. Aber niemand konnte ihn wieder zur Ruhe bringen. Unsere Rettung war der Zwieback, aber im Dezember begannen auch wir den Hunger zu spüren. Auf der Arbeit war es unheimlich kalt.

Die Wasserleitungen waren geplatzt, die Toiletten waren nicht zu benutzen. Ich konnte schon nicht mehr gehen. Ich ließ mich krankschreiben. Die Krankenscheine stellte man allen aus, ohne auch nur einmal hochzuschauen. Die Elektrizität fiel aus, es gab auch kein Kerosin mehr. Zum Glück hatten wir noch Holzvorräte und einen Kanonenofen. Wir teilten die Reste von unseren Lebensmittelvorräten genau auf. Viermal am Tag aßen wir Suppe —  es war fast Wasser. Wir gingen um 6 Uhr abends schlafen und blieben bis 9-10 Uhr morgens im Bett. An manchen Tagen reihte sich Sina schon abends vorher in eine Schlange ein, und stand auch Tags noch einmal 2 Stunden nach Brot an. Sie ging gemeinsam mit Tamara, unserer Haushälterin, mit einem Schlitten zur Newa, zur Kreuzinsel, um Wasser zu holen. Wir haben versucht, Schnee zu tauen, aber die gesamte Straße vor unserem Haus war völlig verdeckt. Einmal kam auf Fedja Rosenberg auf wackligen Beinen zu uns, mein Freund und Kollege von Solowkij her.

Auch Onkel Wasja hat uns einmal besucht, um einen Teller Suppe zu essen. Er sah schrecklich aus. Auch Komarowitsch hat mal vorbei geschaut, der von allen gefeierte Kenner von Dostojewskij, in der Hoffnung, dass wir ihm ein paar Zwieback zustecken. Doch die Not sollte für uns noch kommen.

Zweiter Brief

Liebe Valja! Dieser Brief ist so eine Art Fortsetzung. Also, der schwerste Monat war der Januar. Ich weiß aber nicht mehr, ob wir in diesem Monat beschossen oder bombardiert worden sind oder nicht. Niemand hatte dafür Augen und Ohren. Niemand ging in die Luftschutzkeller, denn dort sammelte man die Toten. Alle unsere Freunde und Bekannte starben, einer nach dem anderen. Besonders schwer starb Sinas Vater. Er starb allein. Sina besuchte ihn, tauschte seine Sachen auf der Straße ein und kaufte für ihn Lebensmittel. Doch es war schon zu spät. Er wollte schon nichts mehr essen. Und wenn man das nicht mehr will, dann bedeutet das das Ende. Er starb, obwohl er Brot im Schrank hatte. Auf dem Markt tauschten wir voller Mühe einige Sachen: einen Samowar für 100g Leinensamen, einige Kleider für 200g Erbsen usw. Es war uns nichts zu schade und so blieben wir am Leben.

Im Januar verließ Jura, mein Bruder, die Stadt. Bei meinem Vater fing das Herz an, Probleme zu machen. Und wir konnten keinen Arzt für ihn finden. Schließlich gelang es uns, einen Kinderarzt, der ganz in der Nähe von uns wohnte, für 200g Erbsen zu uns zu bitten. Er untersuchte meinen Vater, doch die Medikamente ließen sich nirgends auftreiben. Die Apotheken hatten geschlossen. Ich ging damals schon am Stock, die Beine ganz umwickelt. In unserem Treppenhaus lag ein Toter, vor dem Haus ein anderer. Nachts konnten wir nicht schlafen, denn wir waren völlig unterernährt. Der ganze Körper tat weh und juckte. Der Organismus fraß seine Nervenzellen auf. Im Zimmer hatten wir nachts auch eine Maus. Auch sie konnte nicht mal einen Krümel finden und starb an Hunger.

Ich ging in die Mensa, wo Diätessen ausgegeben wurden und ich Ihren Vater kennengelernt hatte. Dort hatte ich mir eine richtige „Aktion“ ausgedacht. Ich tauschte die Essenmarke für das Mittagessen für eine Essenmarke für Graupen. Diese Graupenmarke nahm ich dann für das Mittagessen am nächsten Tag. So hatten wir an manchen Tagen eine Suppe, ohne eine Essenmarke dafür aufbringen zu müssen. Die Stunden in der Mensa waren schrecklich. Die Fenster waren herausgeschlagen und notdürftig mit Spanplatten vernagelt. In völliger Enge aßen die Menschen, stahlen sich gegenseitig Brot, Lebensmittelkarten und Essenmarken. Einmal half ich jemandem, der schon fast tot war, die Treppe hoch in die Mensa. Danach war ich selbst völlig entkräftet.

Ganz allgemein lag man nach jeder körperlichen Anstrengung sofort am Boden. Wenn man ein Stück Brot aß, dann merkte man, wie man wieder zu Kräften kam. Es war schwer, einen Mantel anzuziehen, besonders die Knöpfe zuzumachen. Die Finger wollten einem nicht gehorchen. Sie waren ganz „hölzern“ und wie „fremd“. Nachts wurde die Seite des Körpers, auf der ich schlief, ganz taub. Im Februar wurde die Versorgungslage etwas besser. An einigen Stellen der Straße waren die Wasserleitungen kaputtgegangen. Sina und Tamara gingen so nicht mehr bis zur Newa, um Wasser zu holen, sondern in die Puschkarskajastraße. Die Kinder gingen täglich für etwa 10 Minuten nach draußen an die frische Luft, jedoch auf den Hof, durch den alten Dienstboteneingang, denn auf der Straße lagen die Leichen. Sie waren richtige Helden. Wir hatten eine Verabredung getroffen, nicht über das Essen zu reden. Und sie gehorchten. Am Tisch baten sie weder nach etwas mehr Essen, noch nörgelten sie. So wurden sie auf grausame Weise erwachsen. Ohne sich viel zu bewegen, kauerte sie mit ernsten Mienen um den Kanonenofen und wärmte sich die Hände. Wir alle zitterten vor innerer Kälte. Der Winter erschien uns endlos zu sein. Wir fragten uns jede Woche, ob wir die kommende noch am Leben sein werden, oder aber  nicht.

Am 1. März starb unter schrecklichen Qualen mein Vater. Wir konnten ihn nicht beerdigen. Wir brachten ihn auf dem Kinderschlitten zum Leichenschauhaus im Garten des Volkshauses und stellten ihn dort zwischen all den anderen Toten ab. Die Erinnerungen an diesen Gang und an dieses Leichenschauhaus zermürben bis heute meine Seele. Am Ende des Monats ging ich ins Institut, um neue Lebensmittelkarten zu besorgen. Geld bekam ich damals schon keins mehr, denn es gab keine Buchhaltung mehr. Alle waren gestorben. Das Haus war schrecklich leer. Nur am Titanofen wärmte sich der alte Pförtner, der im Sterben lag. Viele starben und verschwanden auf dem Heimweg vom Institut nach Hause. Sie kamen nie zu Hause an. Einmal sackte auch ich auf der Straße zusammen und schleppte mich mit letzter Kraft nach Hause. Im März wurde ich in die „Sanitätsstelle für Unterernährte“ eingewiesen, die man im Haus der Gelehrten eingerichtet hatte. Dort gab man uns etwas mehr zu essen. Doch dies hatte zur Folge, dass ich immer mehr essen wollte. Den Monat, den ich dort verbrachte, hörte ich nicht auf, ständig ans Essen zu denken. Wir schliefen, ohne uns auszukleiden und aßen in der Mensa bei -5 Grad. Hinter den Fenstern an der Newa, konnte man schon die Bombentrichter der neuen Bombardements sehen, die nun im Frühling wieder begonnen hatten. Das Eis taute. Die noch lebenden Leningrader begannen auf den Straßen sauber zu machen und entfernten den Kot. Ihre Hände hatten jedoch kaum Kraft, einen Schippe zu halten. Es wurde mehr Fleisch ausgegeben. Im April fuhr auch die Straßenbahnlinie Nr.12 wieder, dann die Sieben, die Drei und dann auch die Nr.36. Die Badehäuser wurden geöffnet. Dort sah ich mich das erste Mal im Spiegel und erschrak. So hat mich auch Ihr Vater da gesehen. Im Mai schrieb ich schon Aufsätze, ging in die Mensen und tauschte dort Lebensmittelmarken ein. Aber Sina machte das Meiste. Die Kinder kamen wieder etwas zu sich. Tamara brachte uns von ihren Arbeiten beim Ausheben von Schützengräben einen Schwan, Löwenzahnblätter und Brennnessel mit. So haben wir den Winter überstanden, doch wirklich beschreiben kann man das nicht.

Grüße an all die Ihren!

Uebersetzt von Henrik Hansen

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