9 Juli 2013| Lewschenko Boris, Erzpriester

Wovor hatten wir Angst?

Borja Lewschenko

Ich möchte zuerst einmal voranstellen, dass meine Erzählung die Erinnerungen eines Menschen nachzeichnet, der die Kriegsjahre durchlebt hat, ohne sich besondere Gedanken zu machen. Diese Erinnerungen sind einerseits verzerrt durch die Eigenheit des Gedächtnisses, die Dinge nicht immer ganz richtig in Erinnerung zu behalten und andererseits gefärbt durch die Gespräche, die wir innerhalb der Familie bereits nach dem Krieg geführt hatten, bei denen die Vergangenheit das Thema war. Ich denke, dass sich ein Mensch meist nicht genau an das erinnert, was geschehen ist, sondern eher daran, was er jetzt in dieser Stunde anderen berichten möchte.

Das Leben in der Kolchose

Die Kolchosen waren arm, doch zu ihnen gehörte eine Unmenge von Kindern, die zwar hungrig waren, aber auch glücklich. Wir spielten alle gemeinsam und teilten unseren gesamten Alltag miteinander. Russland ist nicht überall gleich. In eigenen Gegenden war die kollektive Landwirtschaft wesentlich entwickelter und fortschrittlicher als die private. In der Region, in der ich aufgewachsen bin, war die kollektive Arbeit zum größten Teil eine positive Errungenschaft, weil die Menschen wirklich alle gemeinsam gearbeitet haben.

Jeder Kolchosbauer hatte aber auch ein kleines Stück Land vor seinem Haus, von dem er dann im Wesentlichen seine Familie ernähren musste. Darüber hinaus gab es dann eine Art Fronarbeit, denn die Äcker der Kolchose mussten ebenfalls bewirtschaftet werden. Dafür bekam dann jeder Kolchosbauer einen bestimmten Obolus. Die Kolchose war geprägt durch das Gegenüber zwischen Kollektiv und Leitung. Es war damals völlig anderes als heute. Jetzt steht ein Mensch ganz allein seinem Vorgesetzten gegenüber und hat neben sich niemanden, auf den er sich stützen könnte. Wenn man alleine ist, dann ist es schwer dem Bösen etwas entgegenzusetzen. Wenn man aber eingebunden ist in ein Kollektiv, geht man kaum verloren, selbst wenn die Lebensbedingungen äußerst schwierig sind. Denn nicht die allgemeinen Lebensbedingungen bestimmten das Leben des Menschen damals, sondern der gegenseitige Beistand und das von allen mitgetragene Wertesystem. Ich wage zu behaupten, dass das Leben immer schwierig ist. Damals jedoch war es ein Segen, dass die Menschen sich gegenseitig geholfen haben.

Das Verhältnis zwischen den Bauern und dem Staat war kompliziert. Innerhalb der Kolchose bildeten sich quasi immer zwei Gruppen, die gegeneinander um die Macht kämpften: es ging um den Vorsitz. Wenn es hieß, dass der Platz des Vorsitzenden zu besetzen war, waren Spannungen vorprogrammiert. Denn von dem, der den Vorsitz hatte, hing es ab, wer Brigadier wird. Außerdem hatten der Vorsitzende und der Brigadier immer die Hand am Essenshahn. Sie konnten all das, was die gesamte Kolchose erwirtschaftet hatte, bei sich —  sagen wir mal —  ansparen und sich so ein schönes Haus bauen oder sich Holz für den Winter beschaffen. Auch wenn es merkwürdig klingen mag, doch die Lage der Kolchosen wurde entspannter, als man damit begann, die Vorsitzenden für die Kolchose von der Kreisleitung zu schicken. So zu mindestens wurde im Dorf ein einheitlicher Raum geschaffen. Der einfache Bauer musste nun, damit man ihm ein Pferd gab, um zum Beispiel in den Wald zu fahren und Holz für sich zu schlagen, die Leitung nur mit genügend von dem Selbstgebrannten versorgen.

Wenn ein russischer Mann zum Brigadier wird, wird er in fast allen Fällen automatisch zu einem Trinker und ist darauf auch noch stolz. Er muss unbedingt jeden Tag sein Gläschen trinken. Ohne einen Liter Selbstgebrannten übersteht er keinen Tag, man bringt ihm den ja immer wieder. Wenn man ihm dann den Posten des Brigadiers wieder wegnimmt, wird er wieder zu einem normalen Kerl, der nicht pausenlos trinkt.

Sie müssen wissen, dass ein Mensch fast alle Umstände, in denen er sich befindet, ertragen kann. Man lebt so, wie Gott es gefügt hat. Ja, auch in Armut und Hunger. Na und? Wir haben unter solchen Bedingungen gelebt. Damals gab es kaum reiche Leute. Die Menschen wussten dafür aber sehr genau, dass es böse und gute Menschen gab. Zum Beispiel hatte der Kolchosvorsitzende einmal den Zugang zur Weide für das Vieh gesperrt. Mein Vater jedoch hatte es erreicht, den Leuten für ihr Vieh wieder einen freien Zugang zu diesen Wiesen zu verschaffen. Deshalb hatte man meinem Vater daraufhin auch geraten: „Es wäre besser, wenn du von hier fortgingest“.

Der Beginn des Krieges

Ich möchte anmerken, dass es vor dem Krieg so aussah, als ob die Welt untergehen wird: Kirchen wurden geschlossen, Priester getötet und Gläubige verhaftet. Ich stamme aus einer Familie von Christen, deshalb bekamen wir von all diesen Dingen etwas mit. In diesem Sinne erschien uns der Krieg als eine große Erleichterung. Ich verstehe, dass das heute sehr grausam klingen mag. Doch trotzdem, so empfanden wir es, denn der Krieg war so etwas wie die Aufhebung des Weltuntergangs. Es lohnte sich also wieder zu beten.

Meine Eltern – mein Vater Trifon Stepanowitsch und meine Mutter Sofia Moiseevna – waren beide Landwirte. Ich war das einzige Kind in der Familie. Beide haben sie vor dem Krieg im äußersten Westen der UdSSR gearbeitet — im Gebiet von Brest-Litowsk an der Grenze zu Polen. Mein Vater wusste davon, dass es Krieg geben wird. Andere Dorfbewohner hatten es ihm mitgeteilt. Dazu muss gesagt werden, dass die Polen, die auf weißrussischem Gebiet lebten, mit ihren Landsleuten in Polen, hinter der Grenze, in direktem Kontakt standen. Sie alle wussten sehr gut, dass die Deutschen ihre Vorkehrungen trafen, um in die UdSSR einzumarschieren. Die Vorbereitungen für den Überfall waren bereits im vollen Gange, das war nicht zu übersehen. Sie meinten sogar zu meinem Vater: „Fahrt lieber von hier fort! Wir werden euch natürlich kein Haar krümmen, aber es werden andere kommen, die euch töten werden“. Die Lage unserer Familie war sehr ungewiss. Ich muss dazu sagen, dass mein Vater aus dem östlichen Teil von Weißrussland stammte, meine Mutter jedoch aus dem westlichen. Aus irgendeinem Grund befand sie sich auf dem Gebiet der Sowjetunion und nicht in Polen wie ihre Eltern.

Als der Krieg begann, befanden wir uns in dem Dorf bei Brest an der Grenze zu Polen sofort auf besetztem Gebiet. Wir ließen alles stehen und liegen — selbst die Fotos von meiner Mutter ließen wir zurück und alle unsere Papiere – und  begaben uns auf die Flucht in Richtung Osten, wo ja die Heimat meines Vaters war. Ich kann mich noch immer an Einzelheiten unserer Flucht erinnern, obwohl ich gerade einmal fünf Jahre alt war. Ich erinnere mich noch, wie wir praktisch immer hinter der Frontlinie hergingen —  die gesamte Strecke zu Fuß, nur manchmal auf einem Fuhrwerk. Es gab ja keine anderen Verkehrsmittel außer der Eisenbahn. Es war ein schwerer Marsch.

Ich hatte damals schon sofort begriffen, dass man nicht so sehr vor den Deutschen Angst haben musste, sondern vielmehr vor den Verrätern unter den Unsrigen. Es hatten sich plötzlich genug Räuberbanden gebildet, die sich uns Menschen unterwegs in den Weg stellten, uns ausraubten, jedoch zum Glück am Leben ließen. Litauer und Letten kannten keine Skrupel, einen Menschen zu töten, aber auch unter den Unsrigen gab es genügend Verräter. Das klingt heute sehr merkwürdig, aber in der Tat hatten wir vor den Deutschen viel weniger Angst. Wir konnten sogar bei ihnen Schutz finden. Denn man muss dazu anmerken, dass sie in das Gebiet der Sowjetunion als baldige Sieger einmarschierten. Sie hatten keinerlei Zweifel daran, dass diese Erde einmal ihnen gehören wird. Im Westen von Weißrussland empfing man die Deutschen manchmal sogar mit Brot uns Salz, denn man betrachtete sie als Befreier. Meinen Eltern war ein solches Gebaren immer fremd. Sie haben die Deutschen eher begrüßt, weil durch sie der Weltuntergang aufgehalten worden war. Ich möchte dem noch hinzusetzten, dass aber auch dieser Fakt es nicht verhindern konnte, dass sich Weißrussland schon nach einigen Monaten in eine wahre Partisanenfestung verwandelte.

Verräter

In der ersten Zeit zu Beginn des Krieges waren die Deutsche für das einfache Volk eher Beschützer vor den Verrätern in den eigenen Reihen. Dazu gehörten auch jene, die für den Geheimdienst und die Partei aktiv waren und nun den Deutschen als Handlanger ihre Dienste anboten. Auf der einen Seite raubten sie für ihr eigenes Wohl die Leute aus und versuchten, auch unter den neuen Umständen Macht an sich zu reißen. Auf der anderen Seite wollten sie jedoch auch den Besetzern zeigen, wie gut und fähig sie waren. Derjenige, der unter der sowjetischen Macht aktiv war, blieb es auch unter den Deutschen. Deshalb musste man sich vor diesen Menschen viel mehr in Acht nehmen, als vor den Deutschen. Für mich sind solche Karrieristen und Opportunisten wesentlich schlimmer als der offene Feind. Der offen deklarierte Feind hat ein Programm, das er ausführt. Das Verhalten des Verräters jedoch – und deshalb ist er ein Verräter, weil er sich einzuschmeicheln versucht – ist im gewissen Maße immer unvorhersehbar. Einen Deutschen kann man nicht mit einer Flasche Wodka erkaufen, einen von uns jedoch konnte man auf sehr einfache Weise mit einer Flasche Selbstgebrannten bestechen.

Wenn ein Trupp Rumänen vorbeikam — ich erinnere mich gerade an Rumänen, da die meisten von ihnen Räuber waren — konnten diese einerseits sehr leicht ein Huhn stehlen oder etwas in dieser Art. Auf der anderen Seite war es aber auch ein Leichtes, sie mit einem Knüppel davonzujagen. Selbst ungeachtet der Tatsache, dass auch sie bewaffnet waren, konnte man doch mit einem Knüppel sein Hab und Gut vor ihnen verteidigen. Die Rumänen hatten Angst vor den Deutschen.

Wovor hatten wir Angst?

Wir konnten die verschiedenen Truppengattungen unterscheiden. So zum Beispiel eine Truppe der SS. In diesem Falle flüchtete das gesamte Dorf in den benachbarten Wald. Wann SS-Leute unterwegs waren, konnte man nicht im Voraus sagen. Auf der einen Seite wussten wir, dass sie uns nicht berauben würden, auf der anderen Seite jedoch war uns sehr genau klar, dass sie das gesamte Dorf dem Erdboden gleich machen und uns allesamt umbringen können. Es war eine grausame Truppe. Der einfache deutsche Soldat war ein gewöhnlicher Mensch, wie auch alle anderen. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Deutschen, der mit mir eine Tafel Schokolade teilte. Der Vollständigkeit halber muss ich aber noch sagen, dass meine Mutter mir dieses Stück Schokolade zu Hause sofort wieder weggenommen hat, weil sie dem Ganzen nicht traute. Ich kann auch noch ein anderes Beispiel anbringen. Einmal waren wir gemeinsam mit meinem Cousin Wasilij an Diphtherie erkrankt. Wir lagen zusammen in einem Bett. Mein Cousin starb neben mir im Bett, ich jedoch habe überlebt, weil man nach einem deutschen Arzt geschickt hatte, der mich dann auch wieder gesund gemacht hat.

Deshalb habe ich, auch nachdem die Deutschen 1943 meine Mutter erschossen haben, zu den Deutschen ein eher geteiltes Verhältnis. Ich weiß, dass man nicht alle Deutschen über einen Kamm scheren kann. Meine Mutter konnte gut Deutsch. Meine Eltern arbeiteten für die Deutschen als Landwirte und hatten dabei verantwortungsvolle Posten inne. Die Deutschen sprachen ehrlich darüber, wie die Dinge standen. Daher wussten meine Eltern, was wirklich Sache war und nicht, was von den Propagandasendern verbreitet wurde. Mein Vater und meine Mutter hatten aber auch Verbindungen zu den Partisanen, denen sie sämtliche Informationen, die ihnen die Deutschen gesteckt hatten, zukommen ließen.

1942 kam ich in die Schule. Ich war damals sechs Jahre alt. Es war zu der Zeit, als das Hauptfach in den Schulen die Deutsche Sprache war, da wir uns ja auf dem von den Deutschen besetzten Gebiet befanden. Uns unterrichtete aber ein russischer Lehrer. In der ersten Klasse machte ich meine Hausaufgaben im Lichtschein eines Kienspans. Es gab ja weder Kerosin noch sonst etwas zum Licht machen. Nur mit einem Kienspan konnte man sich etwas Licht verschaffen. Nach den Hausaufgaben legte ich mich dann meist auf die faule Haut. Ich war ein cleverer Junge. Die Jungs aus der vierten Klasse machten sich immer über mich lustig, indem sie mir eine Aufgabe von ihnen unter die Nase hielten. „Na, kannst du so etwas schon lösen?“ Einmal machte ich mich daran und löste ihnen alle Aufgaben. Einfach nur deshalb, weil sie mich die ganze Zeit immer auf den Arm nehmen wollten mit ihren Spitzen: „Dies oder jenes kannst du aber bestimmt nicht auswendig lernen …“ Ich konnte aber schon lesen und mochte am liebsten Puschkin.

Die Partisanen

Wir wussten, was Weißrussland drohte: die völlige Vernichtung des einen Teils und die völlige Versklavung des anderen Teils der Bevölkerung. Stellen Sie sich die Situation in den ersten Monaten des Krieges vor: Als die Deutschen kamen, begaben sich sehr viele unserer Soldaten in Gefangenschaft. Die Deutschen zogen es aber vor, keine Gefangenen zu nehmen. Sie schossen sie auch nicht nieder, sie ließen sie vielmehr einfach frei. Stellen Sie sich vor: da kommt eine Gruppe Gefangener durch ein Dorf und irgendeine Frau ruft: „Ach du mein lieber Bruder, oder Schwiegervater, oder Mann, oder … noch irgendwer!“ – und der Gefangene konnte einfach in diesem Dorf bleiben. Und was machten nun diese Männer, die in den Dörfern geblieben sind? Mit der Zeit gingen sie zu den Partisanen.

Doch das wahre Verhältnis der Deutschen zu Russland wurde sehr schnell klar. Es war nicht die Befreiung von den Bolschewiken, nicht die Wiedereröffnung der Kirchen, sondern die Vernichtung der Bevölkerung. Deshalb verwandelte sich Weißrussland 1941 in eine Hochburg der Partisanen. Es gab verschiedene Gruppierungen unter den Partisanen: Es gab eher Räuberbanden, aber auch wirkliche Kämpfer gegen die Deutschen. Es war ein sehr bunt gemischtes Volk. Die Räuberbanden waren eher damit beschäftigt, die Zivilbevölkerung auszurauben. Die letzte von diesen Banden konnte erst 1956 zerschlagen werden. Das Wichtigste jedoch war, das die zentrale Führung in Moskau bald die Bedeutsamkeit der Partisanenbewegung begriff und bald damit begann, dorthin geeignete Führungspersonen zu schicken. Ich weiß von einem Fall, als die sogenannten „Partisanen“ einen von denen, der ihnen aus der Zentrale geschickt worden war, umgebracht hatten. Sie erschossen ihn und taten so, als ob er von den Deutschen getötet worden wäre.

Was taten meine Eltern?

Ihre Aufgabe war es zum Beispiel anzugeben, wie viele Kühe sich im Dorf befanden. Es war klar, wozu die Deutschen diese Angaben brauchten – sie wollten sich selbst das Vieh schnappen. Kommen meine Mutter oder mein Vater auf einen Hof und fragen: „Was hast du da?“ – „Ach, nur zwei Kühe“. – „Na, in Ordnung, dann schreiben wir mal ein einjähriges Kalb auf“. Sie müssen verstehen, dass die Deutschen wussten, dass alles ihnen gehören wird, deshalb übten sie mit allem in den Jahren 1941-42 noch Nachsicht. Sie hatten natürlich verstanden, dass die Angaben meiner Eltern nicht der Wahrheit entsprachen. Sie meinten aber, dass in der Zukunft ein Deutscher die Höfe übernehmen wird und so alles ihm in die Hände fallen wird. Ihre Logik war die, dass, wenn sie hier alles abschlachten werden, für den kommenden deutschen Bauern nichts mehr übrig bleiben wird. Aber übrig bleiben musste etwas.

Wir waren im Osten von Weißrussland. Die Rote Armee hat uns am 23. September 1943 befreit. Deshalb veränderte sich 1943 plötzlich bei den Deutschen, als diese begriffen hatten, dass sie zurückgedrängt wurden, ihre Einstellung zu diesen Angaben meiner Eltern. Man fand also heraus, dass die Lewschenkos falsche Angaben gemacht hatten, weswegen dann auch der Befehl gegeben wurde, dieses Vergehen mit Erschießen zu ahnden. Meine Mutter wurde mühelos gefunden und sofort erschossen. Meinen Vater hatte jemand aus dem Dorf gewarnt. Er konnte sich deshalb verstecken. Die Leute aus dem Dorf ließen mich nicht nach Hause, um nicht in eine Falle zu gelangen, da in unserem Hause zwei Polizisten saßen und warteten.

Die Flucht

Im Juni — ich erinnere mich noch, dass die Kartoffel schon in Blüte stand – holte mich mein Vater zu sich. Wir zogen in die Wälder zu den Partisanen und verbrachten bei ihnen ganze 4 Monate: Juni, Juli, August und September. Für mich war diese Zeit eine harte Zeit. Ich weiß noch, dass wir uns vor den Deutschen in den Sümpfen verbargen. Wir kannten die schmalen Pfade in diesen Landschaften besser, deshalb konnten wir uns dort relativ sicher fühlen.

Ich erinnere mich noch an ein sehr eindringliches Erlebnis: Wir stießen auf einen Baumstumpf, den ein Soldat mit dem Kolben seines Maschinengewehrs zerschlagen hatte. In der Nacht leuchtete dieser zertrümmerte Baumstumpf, der Phosphor in ihm glühte. Alle freuten sich wie Kinder: so konnten wir uns wenigstens etwas die Hände wärmen. Denn es gab ja nichts, wo wir uns hätten aufwärmen können. Ein Feuer anzünden ging ja nicht, da es überall rundherum von Deutschen nur so wimmelte. Viel schlimmer in diesem Zusammenhang waren aber die Polizisten von den Unsrigen, denn auch sie kannten die Schleichwege in den Sümpfen und standen den Partisanen darin in nichts nach. Ich wiederhole noch einmal, es gab viele Verräter.

Stellen Sie sich vor, dass ich ja nichts Warmes zum Anziehen hatte. Schlafen musste ich auf der nackten Erde. Der September war kalt und so bekam ich eine richtig starke Erkältung. Ich bin dann in meiner gesamten weiteren Kindheit ständig krank gewesen. Ich habe ständig und überall genießt und es gab keinen Tag mehr, an dem ich nicht ohne Schnupfnase herumgelaufen bin. Alle froren und hatten Hunger. Sofort nach Beginn des Krieges setzte der allgemeine Hunger ein, da es in diesen Jahren ständig Missernten gab.

Im Alter von sieben Jahren wusste ich schon viel, doch ich war im Grunde genommen ein dummer und schrecklich sorgloser Junge. Wir wussten, dass viele wegen der Minen umgekommen waren, trotzdem war es unsere Lieblingsbeschäftigung, Minen und Geschosse in einem Lagerfeuer explodieren zu lassen. Uns interessierte besonders Schießpulver und Dynamit, woraus wir unsere eigenen kleinen Minen bastelten. Stellen Sie sich vor: drei Brüder, die ein wunderbares Geschoss irgendwoher aufgetrieben hatten. Sie brachten es nach Hause: einer setzte sich oben drauf, die beiden anderen platzierten sich zu beiden Seiten und zünden es an. Das Geschoss explodiert, schlägt ein Loch in Küchenschrank und Schrankwand und die drei Strolche fliegen durch die Luft und landen in allen Zimmerecken. Nur wie durch ein Wunder sind sie unversehrt geblieben.

Stellen Sie sich vor, es tobt ein Gefecht und ich liege in einem Schützengraben. Um mich herum peitschen die Granaten durch die Luft. Es wird geschossen. Ich jedoch stecke die ganze Zeit meinen Kopf aus dem Graben: ich finde es interessant mitanzusehen, wie eine Kugel die benachbarte Birke trifft. Dies ging so lange, bis endlich einer von den Partisanen zu mir gekrochen kam und mich ordentlich verprügelte.

Das Leben nach dem Krieg

Eine meiner Heldentaten war, dass ich das gewebte Leinen meiner Tante angezündet habe. Sie webte nämlich. Den fertigen Stoff musste man von Zeit zu Zeit in die Sonne legen. Und da setzte ich ihn mit meinen Dynamitgeschossen einmal in Flammen. Das Problem bestand darin, nicht selbst ein Opfer dieser Explosionen zu werden, doch ich wage zu behaupten, dass genau das für uns Jungs eigentlich gar kein Problem darstellte. Wir glaubten, alles zu wissen und meinten uns ebenso auch über die Folgen von dem, was wir taten, im Klaren zu sein. Trotzdem gingen wir so leichtfertig mit unserem Hobby um. Es kam vor, dass einer von unseren Freunden nicht überlebte oder aber zum Krüppel geschlagen wurde. Man selbst jedoch war fest davon überzeugt, dass einem schon nichts passieren wird. Es war doch so interessant!

All das, was ich während des Krieges erleben musste, schien mir eigentlich gar keine wirklich schwere Prüfung gewesen zu sein. Ich habe alles als ein ganz normales Leben hingenommen, weil alle so lebten. 1946, als mein Vater zum Chefagronom des Kreises ernannt wurde, hatte er keine Zeit mehr für mich. Er begann schnurstracks seinen Aufstieg in die höheren Leitungsebenen. So war ich auf mich allein gestellt und meine Tante schaffte es nicht meiner Herr zu werden. Erst als mein Vater ein zweites Mal heiratete und ich in das Haus meiner Stiefmutter kam, war meine Lage kein Zuckerschlecken mehr. Bis dahin jedoch hatte ich völlige Freiheit. Meine gewöhnlichen Freizeitbeschäftigungen waren das Vieh zu hüten und die Pferde in der Nacht auf die Weide zu treiben. Eines meiner ersten Lieblingsbücher waren die „Aufzeichnungen eines Jägers“ von Turgenjew und insbesondere „Beshins Wiese“ über die Jungs, die die Pferde hinaus in die Nacht treiben. Das war mein Leben.

Ist es wirklich nötig das Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg zu bewahren?

Ich meine, dass nur das Gedenken des Krieges die Menschen zusammenbringt. Die Vergangenheit ist immer von großer Bedeutung für die Vereinigung der Menschheit. Der Tag der Sozialistischen Oktoberrevolution am 7. November war ein Revolutionsfeiertag mit Demonstrationen. Was hatten die Menschen an diesem Tag empfunden, als er noch begangen wurde? Sie können es nicht glauben, doch die Empfindungen waren doch sehr unterschiedlich. Für die einen war es ein Fest des Sieges, für andere war es eher ein Trauertag: denn die gute alte Zeit war damals zu Grabe getragen worden. Die Ansichten waren sehr verschieden. Doch für uns Christen war es immer das Fest der Gottesmutter von Kasan, das Gedenken der Einheit unter den Menschen im Jahre 1612, obwohl ich fürchte, dass sich heute kaum jemand noch dafür interessiert — vielleicht nur ein kleiner Kreis von Leuten. Dieses Fest verbindet die Menschen nicht auf wirkliche Weise. Der Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus jedoch – unser Tag – ist ein Fest für alle. Ich erinnere mich noch, wie ich vom Sieg erfahren habe. Was für einen Freudentaumel gab es damals!

Erzpriester Boris Lewschenko

Wer hat im Großen Vaterländischen Krieg gesiegt?

Ohne Zweifel war der Sieger des Großen Vaterländischen Krieges das sowjetische Volk. Daran gibt es für mich nichts zu rütteln. Die Heeresleitung hatte während des Krieges gewechselt. Es gab begabte und unbegabte Generäle und Offiziere, doch auch sie sind ein Teil des Volkes. In der Tiefe ihrer Seele haben natürlich immer die meisten daran geglaubt, dass Gott mit denen ist, die den Glauben an ihn bewahren. Gesiegt haben wir nur dank der Tatsache, dass in unserem großen Land trotz des überall propagierten Atheismus und der Gotteslästerungen und Überschreitungen der allgemeinen ethischen Normen der Orthodoxe Glaube lebendig geblieben ist.

Es gab immer Zeiten, in denen die Kirche verfolgt wurde und so wird es auch bis zum Weltuntergang bleiben. Der Herr hat an keiner Stelle im Evangelium versprochen, dass die Priester und Gläubigen in Wohlstand leben werden. Im Gegenteil – er redet von Leiden und vom Kreuz. All das habe ich schon seit meinen Kindertagen begriffen. In diesem Sinne habe ich gelernt, eine gewisse demütige Zurückhaltung all dem Bösen gegenüber, das uns umgibt, an den Tag zu legen. Mit Demut meine ich, dass man sich zunächst einmal um all das sorgt, was man selbst mit seinen eigenen Händen richten kann und dabei versucht, die Hände nicht sinken zu lassen. Man sollte dabei aber auch immer bedenken, dass das Böse von ungeheurer Kraft sein kann und dass es deshalb ganz natürlich ist, dass man seiner nicht immer Herr werden kann.

Leider ist es heute mehr und mehr verboten, Literatur der Nazis zu lesen. Man müsste sie jedoch vielmehr allen zugänglich machen, damit die Menschen begreifen, was Faschismus bedeutet und niemand mehr an ihm Gefallen finden kann. Man muss doch wissen, was Faschismus überhaupt ist. Denn, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte, gäbe es heute hier niemanden mehr von uns!

Aufgeschrieben von Tatjana Aljoschina

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

 

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