1 April 2013| Soliterman (geb. Joff) Sophia Iljinitschna

Wir sind dank eines Wunders immer noch am Leben

Sophia Iljinitschna Soliterman, Foto 2011

Mein Name ist Sophia IljitschnaSoliterman (geborene Joff) und wurde in Leningrad, im Stadtbezirk Oktjabrskij in der Straße des 3. Juli (heute Sadowaja-Straße) gegenüber des Jusupow-Parks geboren. Wir waren zu fünft in unserer Familie: Mein Vater – Ilja Isaakowitsch (geb. 1890), meine Mutter – Ljubow Abramowna (geb. 1892), mein Bruder Isaak (geb. 1923), ich und mein Bruder Benjamin (geb. 1930).

Mein Vater war ein Uhrmachermeister. Er war das älteste von 9 Kindern und hatte schon früh seinen Vater verloren. Somit war er gezwungen bereits mit neun Jahren arbeiten zu gehen, nachdem er gerade einmal die 4. Klasse in der Grundschule beendet hatte. Meine Mutter hatte das Zarengymnasium besucht und sprach fließend Französisch. Auch mein Vater konnte Französisch, da er während des Ersten Weltkrieges in Frankreich in Kriegsgefangenschaft war.

Wir Kinder wuchsen in einer sehr freundschaftlichen Atmosphäre auf. Man schätze Fleiß und Arbeit. Wir besuchten alle sowohl die Allgemeinbildende als auch die Musikschule. Ungeachtet der Tatsache, dass wir alle zusammen in einem Zimmer in einer Kommunalwohnung wohnten, sind wir doch sehr dankbar, eine so glückliche Kindheit erlebt zu haben.

Im Juni 1941 wartete ich, nach dem ich die 8. Klasse beendet hatte (ich wurde mit 7 eingeschult), ungeduldig auf den 27. des Monats, denn an diesem Tag sollte ich 15 Jahre alt werden. Meine Eltern hatten mir meine erste Reise geschenkt — in ein Pionierlager. Außerdem hatte mein Vater mir schon vorher zugeflüstert, dass auf mich ein richtig schönes Geschenk wartet. Das Geschenk war dann ein goldener Kettenanhänger, in den mein Vater eine Widmung hatte eingravieren lassen: „Dem lieben Töchterchen vom Papa. Möge Gott dich beschützen“. Wenn er gewusst hätte, welch guten Dienste mir dieser Anhänger später erwiesen hat! Mein älterer Bruder bekam zum Ende der 10. Klasse sein erstes Fahrrad geschenkt.

Am 22. Juni jedoch, am Sonntag um 12 Uhr mittags, hörten alle im Radio die Nachricht, dass der Krieg begonnen hat. Wir jüngeren Kinder konnten uns eigentlich gar nicht vorstellen, was dies bedeutete und dass diese Meldung unser gesamtes nun folgendes Leben auf den Kopf stellen wird. Eine Woche nach Beendigung der Schule ging mein ältester Bruder Isaak zum Wehrkreiskommando und bat darum, zur Armee eingezogen zu werden. Es wurde ihm jedoch eine Absage erteilt, weil man damals seinen Jahrgang, die 1923 Geborenen, noch nicht einzog. Am 30. Juni ging er noch einmal zum Wehrkreiskommando und dieses Mal wurde ihm nicht einmal erlaubt, noch einmal nach Hause zu gehen, um sich von seiner Familie zu verabschieden. Meine Eltern liefen zu ihm und weinten, als ob sie fühlten, dass sie sich nie mehr wieder sehen sollten.

Im Juli oder August begann man damit die Schüler zu evakuieren. Benjamin besuchte die Musikschule, die dem Konservatorium angegliedert war. Er wurde  zusammen mit allen seinen Mitschülern nach Kostroma evakuiert. Doch nach zwei Wochen bestand meine Mutter darauf, dass mein Vater dorthin reisen solle, um meinen Bruder zurück zu holen. „Wie soll denn so ein Kind dort allein zurechtkommen? Wenn etwas geschieht, dann sollten wir alle zusammen sein“. Das war ein schicksalhafter Fehler. Wir hätten unseren Bruder nicht nach Leningrad zurückholen, sondern alle zu ihm fahren sollen. Vielleicht wäre dann nicht passiert, was dann geschehen ist.

Doch meine Eltern konnten sich damals so wie viele andere auch nicht entscheiden. Sie hatten Angst, das Zimmer sowie auch das bekannte Leben aufzugeben und in irgendeine ungewisse Zukunft zu reisen. Alle meinten und sagten, dass der Krieg schnell zu Ende gehen und alles wieder seinen alten Gang gehen wird. Doch so wie es war, wurde es nie wieder. Mein Vater arbeitete damals viel. Manchmal bezahlte man ihn mit Kartoffeln und Zwiebeln und so hungerten wir nicht gleich.

Doch im September änderte sich alles. Die Deutschen waren bis nach Leningrad vorgedrungen und hatten begonnen, die Stadt regelmäßig zu bombardieren und mit ihrer Artillerie unter Beschuss zu nehmen. Überall brannte es. Fast jeden Abend wurde gegen 6 Uhr über Radio ein Sirenensignal übertragen, das bedeutete, dass Luftalarm ausgelöst worden war. Das hieß, dass sich alle in die Luftschutzkeller zu begeben hatten. Die eingeführten Lebensmittelrationen – Brot und andere Lebensmittel gab es nur auf Lebensmittelmarken —  wurden immer weiter minimiert. Im Dezember 1941 bekam unsere Familie, die aus 4 Personen bestand, 725 Gramm Brot – für meinen Vater 350 Gramm und für uns als seine Familienangehörigen und somit Versorgungsberechtigte jeweils 250 Gramm. Woraus jedoch dieses Brot bestand, kann ich jetzt gar nicht sagen. Es war irgendeine schwere, feuchte Masse. Mein Vater ging anfangs noch auf den Markt, wo es ihm gelang, das eine oder andere gute Kleidungsstück oder Geschirr gegen Kleie, Hülsenreste von ausgepresstem Soja- oder anderen Samen oder aber Kartoffelschalen einzutauschen. Meine Mutter kochte dann aus all dem Zeugs eine Suppe. Zu meinen Aufgaben gehörte es, Brot aus dem Laden zu holen. Bereits um 3 oder 4 Uhr morgens ging ich zum Bäckerladen und stellte mich dort in die Schlange, um dann um 9 Uhr, wenn der Laden öffnete und man das Brot brachte, gleich an der Reihe zu sein. Es kam auch vor, dass kein Brot oder aber zu wenig geliefert wurde. Ich hatte immer Angst alleine zu gehen, denn oft gierten völlig ausgehungerte Menschen nach dem Brot und rissen es einem aus der Hand.  Zum Glück ist mir so etwas nie passiert.

Meine Eltern wurden mit jedem Tag schwächer und schwächer und dann auch bald krank. Mein Vater konnte nicht mehr arbeiten. Er blieb immer häufiger zu Hause und stand nicht mehr aus dem Bett auf. Seine Füße waren ganz geschwollen vor Hunger und Vitaminmangel. Er konnte seine Filzstiefel nicht mehr von den Füßen ziehen und schlief deshalb in ihnen. Nachdem meine Mutter erfahren hatte, dass die gesamten Familien ihres Bruders und ihrer Schwester im Getto ihrer Heimatstadt Belishe (Weißrussland) getötet worden waren, versank sie in völliger Apathie und stand nicht mehr von ihrem Bett auf.

Der Winter 1941-42 war sehr frostig und schneereich. Es gab keinen Strom und das Wasser fror in den Wasserleitungen ein. Ich ging zur Newa, wo die Leute mit Hilfe von Töpfen, Tassen und Kannen durch ein Loch im Eis Wasser schöpften. Bis ich zwei Eimer voll Wasser auf einem Schlitten über die Straße, Eiskanten und Schneeberge bis nach Hause gezogen hatte, waren die Eimer schon über die Hälfte leer. Ich kochte daraufhin das Wasser in einem Kessel auf unserem kleinen Kanonenofen ab und versuchte, meine Eltern und meinen Bruder irgendwie am Leben zu erhalten.

Am 29. Januar 1942 hatte ich begriffen, dass es um meine Mutter äußerst schlecht stand. Ich war völlig ratlos, wusste nicht, was ich tun sollte. Schließlich jedoch nahm ich ein paar Samenreste, ließ sie im Wasser aufquellen und buk daraus auf dem Kanonenofen kleine Pfannkuchen. Ich versuchte meine Mutter zu füttern, doch sie schüttelte nur mit dem Kopf, lehnte es ab zu essen und wiederholte nur einige Male mit heiserer, flüsternder Stimme: „Dem Kind, dem Kind!“ Sie meinte damit, dass ich es meinem Bruder reichen solle. Das waren ihre letzten Worte. Ich rannte in die Wohnungsverwaltung und bat dort, dass man mir doch helfen möge, meine Mutter irgendwie in ein Krankenhaus zu bringen. Man gab mir ein Pferd und einen Wagen, auf den wir meine Mutter legten. Mein Vater und ich setzten uns zu ihr. Der Hausmeister fuhr uns in das Krankenhaus, das zu Ehren des 25. Oktobers benannt war. Als wir dort angekommen waren, brachte man meine Mutter in die Notaufnahme. Nach etwa einer halben Stunde kam von dort eine Krankenschwester auf mich zu, drückte mir die Ohrringe und den Ehering meiner Mutter in die Hand und sagte: „Hier nimm, Mädchen, die braucht deine Mutter nun nicht mehr“. Ich hatte noch nicht ganz verstanden, was geschehen war, und versuchte, eine Möglichkeit zu finden, meinen Vater wieder nach Hause zu fahren. Zwei Soldaten, die gerade am Krankenhaus vorüberfuhren, boten uns an, uns nach Hause zu fahren. Für nichts in der Welt wollten sie von mir ein Stück Brot annehmen, das ich ihnen zum Dank reichen wollte. Als wir zu Hause angekommen waren, war es bereits 3 Uhr nachts und es war Zeit für mich, mich nach Brot anzustellen. Der ganz erschrockene und durchgefrorene Benjamin war allein zu Hause zurückgeblieben. Ich legte ihn ins Bett und schleppte mich mühsam zum Brotladen.

Um 9 Uhr kam Benjamin zu mir in die Schlange und sagte, dass Papa wohl auch gestorben sei. Als ich das Brot nach Hause gebracht hatte, sah ich, dass es in der Tat so war. Mein Vater saß tot auf dem Sofa. Dass beide an einem Tag gestorben sind, war kein Zufall. Mein Vater hatte es nicht verkraften können, dass meine Mutter gestorben war. So hatten dann auch ihn seine letzten Kräfte verlassen. Mein Vater war 51 und meine Mutter 49 Jahre alt.

Der ganz erkaltetet Leichnam meines Vater blieb noch ganze zwei Wochen in unserer Wohnung, weil die Männer, die sich um den Abtransport der Toten in das Leichenschauhaus kümmerten, völlig überlastet waren. Nach vielen Jahren fanden wir im Archiv des Piskarew-Friedhofs Unterlagen, die besagen, dass mein Vater und meine Mutter mit den Nummern 1272 und 1273 im Massengrab 23 beigesetzt worden sind, in dem diejenigen, die im Januar-Februar 1942 gestorben waren, beerdigt worden sind.

So wurden wir an einem Tag beide zu Waisen. Ich war 15 und Benjamin 11 Jahre alt. In der Stadt hatten wir keinerlei weitere Verwandte. Unserer älterer Bruder war an der Front, dass wussten wir. Doch wir wussten nicht, wie wir mit ihm in Verbindung treten sollten. Später stellte sich heraus, dass er in diesen Tagen in einen Kessel geraten war. So blieben wir in einer leeren, kalten Wohnung zurück, in der die Fenster durch Bombensplitter eingeschlagen waren. Ich setzte mir zum Ziel meinen kleinen Bruder durchzukriegen. Noch am selben  Tag als unsere Eltern beide gestorben waren, ging ich auf den Hof hinunter, wo wir einen kleinen Schuppen hatten, in dem wir gehacktes Holz lagerten. Zu meinem Erschrecken musste ich feststelle, dass der Schuppen leer war. Das gesamte Holz hatte man gestohlen.

Da mein Vater Ende Januar gestorben war, gelang es mir noch, für den gesamten Februar Lebensmittelkarten für uns alle zu bekommen. Es waren also nicht nur 250 Gramm Brot, die uns eigentlich zu zweit zustanden, sondern ganze 750. Ich brachte das Stück nach Hause, teilte es auf, damit wir es nicht mit einem Male aufessen. Wir aßen jeder nur unsere tägliche Ration, legten uns wieder ins Bett, deckten uns mit allem, was es zu Hause gab, zu und versuchten uns aufzuwärmen.

Leider gelang es uns nicht lange, uns mit Lebensmitteln von Marken für vier einzudecken. Einmal ging ich an der Speisehalle in der Sadowaja-Straße vorbei und sah durch die Scheiben, dass die Leute dort etwas Warmes aßen. Eine Frau kam auf mich zu und fragte mich, was ich haben möchte. Ich antwortete ihr, dass ich auch gerne etwas essen möchte. Sie sagte zu mir, dass sie mir helfen wird, nahm meine Lebensmittelkarten und ging in die Speisehalle. Sie kam lange nicht wieder. Ich dachte schon, dass ich sie wohl nie wieder sehen werde, doch dann stand sie plötzlich wieder vor mir, gab mir meine Lebensmittelkarten zurück und sagte, dass sie nichts ausrichten könnte, weil für diese Malzeiten eine besondere Anmeldung nötig sei. Sie verschwand wieder und erst da bemerkte ich, dass alle Marken für die kommenden zwei Wochen abgetrennt waren. Das bedeutete für uns der sichere Hungertod. Die Nachbarn bei uns im Haus rieten mir,  irgendwelche Wertsachen zum Markt zu bringen, um diese dort gegen Lebensmittel einzutauschen. Und hier nun half uns der Kettenanhänger, den mein Vater mit einst geschenkt hatte. Für ihn erhielt ich ein Stück Brot und drei kleine Kartoffeln. Das nächste Mal tauschte ich das Fahrrad unseres Bruders ein. Ebenso brachte ich später auch Mutters Ehering zum Markt. Die Ohrringe meiner Mutter, die mir die Krankenschwester zurückgegeben hatte, hatte ich bereits irgendwo auf dem Weg nach Hause verloren. Dieselben Nachbarn aus dem Haus halfen mir auch, Brennholz für unseren kleinen Kanonenofen herzurichten – aus Stühlen, dem Tisch und den Bücherregalen. Wie knackte und knisterte in den Flammen das gelackte, aber nun zerhackte Futteral vom Violoncello, auf dem vor Ausbruch des Krieges unser ältester Bruder Isaak gespielt hatte!

Doch alles ging weiter bergab. Wegen des Hungers stellten sich bei mir Symptome von Unterernährung ein und meine Kräfte waren am Ende. Doch dann, Ende Februar, kam plötzlich ein Kollege und Freund meines Vaters, Onkel Mischa, zu uns, weil er wissen wollte, warum Papa schon so lange nicht mehr auf der Arbeit erschienen sei. Das, was er zu Sehen bekam, ließ ihn zutiefst erschrecken. Er versprach uns, irgendwie zu helfen und dass er vielleicht ein Kinderheim für uns finden kann. Nach ein paar Tagen stand er wieder bei uns in der Tür und sagte, dass wir uns für den nächsten Tag fertig machen sollen, uns waschen und umziehen, weil wir zusammen irgendwohin gehen würden. In der Voznesenskaja-Straße gab es ein kleines Badehaus, das noch in Betrieb war. Dort gab es wenigstens lauwarmes Wasser. Im Dunkeln bei Kerzenschein tasteten sich völlig abgemagerte Frauen und Männer vorwärts und versuchten sich irgendwie rein zu halten.

Sophia Solterman 1944 mit ihrer neuen Mutter in Taschkent.

Am nächsten Morgen warteten wir auf Onkel Mischa. Busse und Straßenbahnen fuhren in der Stadt damals nicht mehr. Wir zogen uns so viel wie möglich an und schleppten uns mühsam bis zur Majakowskij-Straße vor, wo unsere „Wunder“ auf uns wartete. Eine kleinwüchsige Frau öffnete uns mit einem Lächeln die Tür. Sie war sauber gekleidet und trug eine weiße Schürze. Wir trauten unseren Augen nicht und dachten, dass es nur ein Traum sei. In der Mitte eines großen Raumes blubberte etwas in einem Topf auf einem Kanonenofen. Es war eine Suppe aus Samenhülsen und daneben Hirsebrei. Nachdem sie uns etwas zu essen gegeben hatte, fragte unsere neue Bekannte uns und Onkel Mischa nach allem, was sie so wissen wollte. Dann gebot sie uns, am nächsten Tag wieder zu kommen. Ach wie wollten wir überhaupt nicht wieder fort von dort! Aber auch Onkel Mischa sagte, dass es Zeit sei, nach Hause zu gehen. Unsere „gute Feh“ hieß Tolja (Tobi) EfimownaSelkowitsch. Sie stammte aus Warschau und lebte schon viele Jahre in Leningrad. Sie war 50 Jahre alt und liebte Kinder sehr, obwohl sie nie eigene Kinder hatte. Sie hatte zufällig von Onkel Mischa von uns erfahren und daraufhin entschieden, dass sie uns kennenlernen wollte. So begannen wir sie jeden Tag zu besuchen. Nach 10 Tagen, am 24. März 1942, sagte sie uns endlich: „Kinder, heute nun geht ihr nirgendwo mehr hin, dies ist von nun an euer zu Hause“. So kamen wir in eine neue Familie und erhielten ein neues zu Hause. Unsere mutige, neue Mutter ließ sich das offizielle Sorgerecht für uns zuschreiben. Und das in dieser Zeit!

Es wurde Frühling und die Rationen, die auf die Lebensmittelmarken ausgegeben wurden, wurden wieder größer. Ungeachtet dessen verschlechterte sich mein Gesundheitszustand immer weiter. Unsere neue Mutter bat einen Arzt um Rat, wie man Kinder wieder auf die Beine kriegen könnte. Doktor Katschka arbeitete im Kinderkrankenhaus, das den Namen Rauchfuß trug, wo ausgehungerte Kinder behandelt wurden. Er meinte zu unserer neuen Mutter, dass es gelingen wird, meinen Bruder wieder aufzupäppeln, für mich aber wenig Hoffnung bestünde, weil es bei mir bereits zu Mangelerscheinungen dritten Grades gekommen sei. Trotzdem wies er mir einen Platz im Krankenhaus zu, in dem eigentlich nur Kinder bis zu 12 Jahren behandelt wurden. Ich war damals fast 16. Wegen des lang andauernden Hungers war meine Leber in Mitleidenschaft gezogen worden. Doch die intensive ärztliche Aufsicht und die verstärkte Ernährung leisteten, was sie vollbringen sollten. Nach zwei Monaten verließ ich das Krankenhaus wieder. Ich war wieder zu Kräften gekommen und gesund geworden, obwohl der Hunger in meinem gesamten Leben seine Spuren hinterlassen hat. Eine erst kürzlich durchgeführte Untersuchung hat gezeigt, dass auch heute noch meine Leber ganz mit Schrammen überdeckt ist.

Benjamin 1945 mit seiner neuen Mutter in Leningrad.

Im August 1942 wurden mein Bruder und ich gemeinsam mit unserer neuen Mutter aus Leningrad evakuiert. Wir sind unter großen Schwierigkeiten über den Ladogasee, über die sogenannte „Straße des Lebens“, aus der Stadt gebracht worden. Auf dem Weg wurden wir ununterbrochen bombardiert und beschossen. Viele Menschen sind dabei ums Leben gekommen. Der Endpunkt unserer Evakuierung war Taschkent. Unsere neue Mutter hatte entschieden, dorthin zu reisen, weil sich zu diesem Zeitpunkt dort die Musikschule befand, die dem Leningrader Konservatorium unterstellt war und die Benjamin vor dem Krieg besucht hatte.

Unsere neue Mutter arbeitete Tag und Nacht und tat alles, um uns die Möglichkeit zu geben unsere Ausbildung fortzusetzen. In Taschkent beendete ich die Schule und begann an der Universität Geologie zu studieren. Das Diplom im Fach Geologie bekam ich dann schon in Leningrad, wohin wir nach den Ende des Krieges zurückgekehrt waren. Ich kann auf eine 35 jährige Arbeitserfahrung als Geologin zurückblicken. Ich war mit der Suche und Erkundung nach Buntgestein, Gold und Diamanten beschäftigt. Mein Bruder ging weiter zur Musikschule und studierte dann am Konservatorium.

Nach dem Krieg

1951 lernte ich auf dem Rückweg von einer Expedition im Flugzeug auf dem Weg von Chabarowsk nach Moskau meinen zukünftigen Mann kennen – Grigorij Soliterman. 1953 bekamen wir unseren Sohn Ilja. Heute hat er vier Kinder: zwei Jungs und zwei Mädchen. Eins heißt Sophia und das zweite Tobi — in Gedenken an unsere Retterin und zweite Mutter. Auch Benjamin hat so wie ich einen Sohn. Er heißt auch Ilja. Er ist ein in Russland bekannter Geiger, wurde mit dem Titel „Verdienter Kunstschaffender Russlands“ ausgezeichnet und leitete das Ensemble „Divertissement“, mit dem er oft zu Gastspielen nach Europa reist.

Unsere Mutter verstarb zu Beginn des Jahres 1986. Ich war bei ihr bis zur letzten Minute ihres Lebens. Nachdem sie 43 Jahre zusammen mit uns gelebt hatten, starb sie im Alter von 93 Jahren in meinen Armen. Sie wird uns immer in lichter Erinnerung bleiben, denn ihr verdanken wir unser ganzes Leben.

Im April 2007 verschied auch mein lieber Mann aus dem Leben, mit dem wir 55 Jahre zusammengelebt haben. Benjamin, mit dem wir während der Blockade das letzte Stück Brot geteilt haben, arbeitet bis heute als Geiger in einem der großen Orchester von Sankt Petersburg. Mein älterer Bruder Isaak ist als Invalide des Großen Vaterländischen Krieges anerkannt. Er wurde drei Mal verletzt. Für seinen vierjährigen Kampf wurde er mit dem Orden „Roter Stern“, dem Orden „Vaterländischer Krieg“ und vielen Medaillen geehrt.

Von links nach rechts: Benjamin, Sophia und Isaak 2003 in Sankt Petersburg.

Ich freue mich sehr, dass  man mir die Möglichkeit gegeben hat, die Geschichte meines Lebens zu erzählen und von meinem ungewöhnlichen Schicksal zu berichten. Ich hoffe, dass es für den Leser interessant sein wird.

 Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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