1 Mai 2010| Alexij II, Patriarch von Moskau und ganz Russland

Soviel unertraegliches Leid habe ich nie wieder gesehen

Patriarch von Moskau und ganz Russland, Alexej II.
(Alexej Michailowitsch Ridiger: 23. Feb. 1929 – 5. Dez. 2008)

Aus dem Stammbaum der Ridiger geht hervor, dass der kurlaendische Adlige Friedrich Wilhelm von Ridiger waehrend der Zeit der Herrschaft Katharinas der Grossen zur Orthodoxie uebergetreten und unter dem Namen Fjodor Iwanowitsch zum Begruender eines der Zweige dieses in Russland bekannten Adelsgeschlechtes geworden ist, das den Grafen Fjodor Wassiljewitsch Ridiger hervorgebracht hat – einen General der Kavallerie und Generaladjutanten, einen herausragenden Feldherrn und Staatsmann, einen Helden des Vaterlaendischen Kriegs von 1812.

Gemaess der Familienchronik emigrierte die Familie Ridiger nach Haapsalu, einer kleinen Stadt an der Ostsee, rund 100 km suedwestlich von Tallinn. Nach Abschluss des Gymnasiums machte sich Michail auf Arbeitssuche. Aber es gab in Haapsalu fuer Russen keine Arbeit, abgesehen von den schwersten und schmutzigsten Verrichtungen, und so verdiente Michail Alexandrowitsch sein Geld mit dem Ausheben von Graeben. Daraufhin siedelte die Familie nach Tallinn ueber, wo er eine Anstellung in der Furnierfabrik Luther fand, zunaechst als einfacher Buchhalter, und dann als leitender Buchhalter einer Abteilung. In der Fabrik Luther arbeitete M. A. Ridiger bis zu seiner Weihe zum Priester (1940). Im nachrevolutionaeren Estland gab es ein sehr reges kirchliches Leben, hauptsaechlich dank der Taetigkeit der Geistlichkeit der Estlaendischen Orthodoxen Kirche. Patriarch Alexej erinnert sich, „dass dies echte russische Priester mit einem hochstehenden Empfinden fuer ihre pastorale Pflicht waren, die sich um die ihnen anvertrauten Gemeinden sorgten“ (Gespraeche mit Patriarch Alexej II.).

Einen herausragenden Platz im Leben der Orthodoxie in Estland nahmen die Kloester ein: das Mariae-Entschlafens- und Hoehlen-Kloster von Pskow, ein Maennerkloster; das Mariae-Entschlafens-Kloster von Pjuchtiza, ein Frauenkloster; der Frauenkonvent von Iweron an der Narwa.

Zu Beginn der zwanziger Jahre entstanden in Riga mit dem Segen der Geistlichkeit religioese Kreise unter der Studentenschaft, die den Grund der Russischen christlichen Studentenbewegung im Baltikum legten. Michail Alexandrowitsch und seine kuenftige Gattin Jelena Josifowna (mit Maedchennamen Pisarewa) waren taetige Mitglieder des orthodoxen kirchlichen und gesellschaftlich-religioesen Lebens von Tallinn und nahmen an der christlichen Studentenbewegung teil. J. J. Ridiger wurde in Reval geboren (dem heutigen Tallinn), ihr Vater war Oberst der Weissen Armee und von den Bolschewiken in Terioki (dem jetzigen Seljonogorsk im Leningrader Gebiet) erschossen worden; Verwandte muetterlicherseits waren Stifter der Tallinner Alexander-Newski-Kirche am Friedhof. Noch vor der Hochzeit, die im Jahr 1926 stattfand, war bekannt, dass Michail Alexandrowitsch Priester werden wollte. Die Lebensweise der Familie Ridiger war „nicht nur durch die Bande ihres Geschlechts gefestigt, sondern auch durch das Band einer grossen geistigen Freundschaft“.

Alexej Ridiger zur Schulzeit

Noch vor der Geburt Alexejs kam es zu einem Vorfall, den die Familienchronik als goettliche Willenskundgabe in Bezug auf den kuenftigen Ersthierarchen der Russischen Kirche bewahrte. In der Zeit vor der Geburt ihres Sohnes sollte Jelena Josifowna eine weite Autobusreise unternehmen. Doch im letzten Moment, ungeachtet ihres Bittens und Draengens, gab man ihr keinen Platz. Als sie den naechsten Bus nahm, erfuhr sie, dass der vorhergehende in einen Unfall geraten war, bei dem alle Passagiere ums Leben kamen. Der Junge wurde auf den Namen Alexej getauft, zu Ehren Alexejs des Gottesmenschen. Alexej wuchs als ruhiges, gehorsames und tief religioeses Kind auf. Alexej wurde zuerst an einer Privatschule unterrichtet, dann an einem Privatgymnasium, und schliesslich an einer gewoehnlichen Schule.

Gegen Ende der dreissiger Jahre wurden in Tallinn russischsprachige pastoraltheologische Kurse unter der Leitung von Erzpriester Joann (des zukuenftigen Tallinner Bischofs Isidor (Bogojawlenski)) eroeffnet. Bereits im ersten Jahr ihres Bestehens war M. A. Ridiger unter ihren Hoerern. Erzpriester Joann, ein tiefglaeubiger Mensch von grosser geistlicher Erfahrung, war gleichzeitig auch Religionslehrer und geistlicher Vater Aljoscha Ridigers, der sich spaeter wie folgt an jene Zeit erinnerte: „Sowohl in meiner Familie, als auch von meinem geistlichen Vater lernte ich, dass man in den Menschen das Gute sehen muesse; so war es bei den Eltern, ungeachtet aller Schwierigkeiten, die sie ueberwinden mussten. Liebe und Aufmerksamkeit gegenueber den Menschen waren die Kriterien, die Vater Joann wie auch meinen Vater leiteten“ (Gespraeche mit Patriarch Alexej II., Archiv).

Alexej mit seinen Eltern

Im Jahr 1940, nach Abschluss der pastoraltheologischen Kurse, wurde M. A. Ridiger zum Diakon geweiht. In diesem Jahr rueckten die Sowjettruppen in Estland ein. In Tallinn begannen unter der einheimischen Bevoelkerung und den russischen Emigranten Verhaftungen und Ausweisungen nach Sibirien und in die noerdlichen Gegenden Russlands. Ein solches Schicksal war auch der Familie Ridiger bereitet – allein die goettliche Vorsehung bewahrte sie. So erinnerte sich Patriarch Alexej daran: „Vor dem Krieg drohte uns wie ein Damoklesschwert die Deportation nach Sibirien. Nur der Zufall und ein Wunder Gottes bewahrten uns. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen kamen Verwandte vaeterlicherseits zu uns in die Tallinner Vorstadt; wir ueberliessen ihnen unser Haus, und zogen selbst in die Gartenlaube um. Dort gab es ein Zimmer, das wir bewohnten, bei uns waren noch zwei Hunde. Nachts kamen Leute zu uns, durchsuchten das Haus, gingen das Grundstueck ab, aber die Hunde, die sich sonst sehr wachsam waren, schlugen kein einziges Mal an. Man fand uns nicht. Nach diesem Vorfall lebten wir nicht mehr im Haus, bis zur deutschen Okkupation“.

Im Jahr 1942 fand in der Kasaner Kirche zu Tallinn die Priesterweihe M. A. Ridigers statt, und es begann sein beinahe zwanzigjaehriger Weg priesterlichen Dienstes. Die orthodoxen Tallinner bewahrten an ihn das Gedaechtnis als eines Hirten, der fuer den „vertrauensvollen Umgang mit ihnen offen war“. In den Kriegsjahren betreute Michail Ridiger Russen, die ueber Estland zum Arbeitseinsatz nach Deutschland transportiert wurden. In den Lagern, die am Hafen Paldiski und in den Doerfern Klooga und Pylkjula lagen, befanden sich unter sehr schweren Haftbedingungen Tausende von Menschen, die hauptsaechlich aus den russischen Zentralgebieten stammten. Der Umgang mit diesen Menschen, die vieles erlebt und durchgestanden, die in der Heimat Verfolgungen erduldet hatten und der Orthodoxie treu geblieben waren, traf Vater Michail tief und gab ihm spaeter, im Jahr 1944, Kraft fuer die Entscheidung in der Heimat zu bleiben.

Der Patriarch erinnert sich: „Bereits in den ersten Tagen der Besetzung durch Hitler, als auf estlaendischem Territorium Konzentrationslager entstanden, hielt es mein Vater fuer seine Pflicht sie regelmaessig zu besuchen. Die Deutschen hinderten ihn nicht daran.

Vater nahm mich als Altardiener und Gehilfen mit. Soviel unertraegliches Leid, koerperliche und seelische Leiden, menschliche Dramen und Tragoedien, die auf einem Fleckchen Erde anzutreffen waren, habe ich nie wieder gesehen. Menschen aus Russland, Kriegsgefangene der Roten Armee und zivile Arbeitskraefte aus den Staedten und Doerfern waren nach Estland unter Bedingungen gebracht worden, die weit schlechter waren als fuer Schlachtvieh.

Man hat sie praktisch nicht ernaehrt, gab ihnen fauliges oder rostiges Wasser zu trinken… Die Armen aus den Zentralgebieten Russlands sahen zum ersten Mal das Meer und schlossen aus unbestimmten Gruenden daraus, dass man sie darin sicherlich ertraenken werde. Wir versuchten, ihnen irgendwie zu helfen: Wir sammelten Lebensmittel, Kleidung und Medikamente. In einer Baracke gab man uns ein Zimmer oder schirmte einfach eine Ecke ab. Dort stellten wir einen Altartisch auf und hielten Gottesdienste“.

Die Kriegsereignisse naeherten sich den Grenzen Estlands. In der Nacht vom 9. auf den 10. Mai 1944 wurde Tallinn schwer bombardiert, viele Gebaeude wurden zerstoert, u.a. in der Vorstadt, in der das Haus der Ridiger lag. Eine Frau, die sich in ihrem Haus befand, kam ums Leben, aber Vater Michail und seine Familie kamen nicht zu Schaden – gerade in jener Nacht waren sie nicht zu Hause. Am folgenden Tag verliessen Tausende von Tallinern die Stadt. Die Ridiger blieben, obwohl ihnen voellig klar war, dass ihnen mit der Ankunft der sowjetischen Truppen staendig die Gefahr drohte, verbannt zu werden. Gerade in dieser Zeit wurde es fuer Jelena Josifowna zur Gebetsregel, jeden Tag den Akathystos-Hymnus zur Muttergottesikone „Freude aller Betruebten“ zu beten, denn Leid hatte sie viel; sie nahm sich alles zu Herzen, was ihren Mann und ihren Sohn betraf.

Im Jahr 1944 wurde der fuenfzehnjaehrige Alexej Ridiger erster Hypodiakon des Erzbischofs von Narwa, Pawel (Dimitrowski, seit Maerz 1945 Erzbischof von Tallinn und Estland). Alexej Ridiger wurde als erstem Hypodiakon und zweiten Psalmisten von der Dioezesanverwaltung aufgetragen, die Oeffnung der Alexander-Newski-Kathedrale von Tallinn vorzubereiten, und im Mai 1945 fing das gottesdienstliche Leben in der Kathedrale wieder an. Alexej Ridiger war Altardiener und Verantwortlicher fuer die liturgischen Gewaender in der Kathedrale, und dann Psalmist in der Kirche des hl. Simeon und der Kasaner Kirche der estlaendischen Hauptstadt.

Quelle: http://www.patriarchia.ru

Uebersetzt von Priester Thomas Diez

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