7 Dezember 2012| Sinotowa Evgenia Nikolajewna

Man musste sich entscheiden: sterben oder überleben

Evgenia Sinotowa, foto 1944.

Mein Vater und meine Mutter sind ein Jahrgang. Sie wurden beide im Jahre 1899 geboren. Meine Mutter, Agripina Vasiljewna Sinotowa, stammt aus Wologda. Als sie meinen Vater heiratete, arbeitete sie als Sekretärin bei Kursen der Infanterie. Sie schrieb hervorragend und fehlerlos auf der Schreibmaschine. Ich kann bis heute nicht verstehen, wo sie das gelernt hat, da sie doch mit drei Jahren schon ihre Mutter verloren hatte. Einen Vater hatte sie auch nicht. Sie wurde von einer Tante großgezogen.

Mein Vater stammt aus einer Bauernfamilie im Gebiet von Jaroslawl. Sein Vater, also mein Großvater, war nach Sankt Petersburg gegangen, um dort Geld zu verdienen. Dort ist er dann auch geblieben. Vor der Revolution war er Wirtschaftsleiter in einer Schule. Mein Vater beendete 1921 die sogenannte Realschule. Das war eine sehr anspruchsvolle Schule, auf der verstärkt auch technische Disziplinen unterrichtet worden sind. Im Russland der Zarenzeit gab es – wie bekannt ist – auch Gymnasien. Das waren Schulen, die mehr auf geisteswissenschaftliche Disziplinen ausgerichtet waren. Zuerst besuchten alle Kinder die Grundschule, in der sie Lesen, Schreiben und Rechnen lernten. Ich glaube, bis zur vierten Klasse. Dann, ab der vierten Klasse, konnten die Schüler zwischen einer eher auf die Geisteswissenschaften hin geprägte Schule, also dem Gymnasium, und einem mehr auf die praktische Arbeit orientierten Schultyp mit vermehrt technischen Fächern sowie Mathematik und Geometrie usw. wählen. Das war dann die sogenannte Realschule.

Zu dem Zeitpunkt, als meine Eltern heirateten, war mein Vater bereits Student an der Fakultät für Binnenschifffahrt der Eisenbahnerhochschule. Er arbeitete dann sein gesamtes Leben in seinem Beruf und reparierte Schiffe. Nachdem er die Hochschule beendet hatte, wurde ihm ein Arbeitsplatz in Rybinsk zugewiesen. Meine Mutter ist ihm dorthin gefolgt. Dort bin ich dann geboren worden. Das war im Jahr 1928.

1934 kehrten wir dann aber nach Sankt Petersburg zurück und wohnten zunächst zusammen mit den Eltern meines Vaters in deren Wohnung. Diese lag in der 7. Krasnoarmejskaja-Straße, also zwischen der Fontanka und dem Obvodnyj-Kanal. Es war ein sehr großes Wohnhaus. Mein Großvater arbeitete als Wirtschaftsleiter. Ihm stand eine große Wohnung zu, weil er eine große Familie hatte. Für ihren Sohn und seine Familie machten meine Großeltern ein Zimmer frei. Ich erinnere mich noch genau an den Geruch in diesem Zimmer. Es roch nach Bastmatten. Dorthinein stopften wir dann alle unsere Sachen, die wir während der Zeit in Rybinsk angeschafft hatten.

Was ist mir aus diesen Jahren noch besonders in Erinnerung geblieben? Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem Kirow ermordet wurde. Es war der 1. Dezember 1934. Meine Großmutter war eine sehr geschickte Schneiderin. Zu ihr kamen sämtliche Schauspieler, Sänger und Ballerinen und gaben bei ihr ihre Kleidung in Auftrag. Ich weiß noch genau, wie mein Großvater an diesem Tag nach Hause kam und zu ihr sagte: „Ich habe dir eine Rote Fahne mitgebracht. Los, näh da einen schwarzen Trauerflor dran!“ Im Radio lief den ganzen Tag Trauermusik. Die Menschen waren sehr aufgeregt, denn alle mochten Kirow und sahen in ihm den kommenden Führer der Kommunistischen Partei.

Zur Schule kam ich im Jahr 1936. Bis dahin hatten sich meine Eltern aber bereits ihre eigene Wohnung besorgt. Unsere neue Wohnung lag in einem wunderbaren Stadtviertel direkt an der Newa, im ehemaligen Haus von Kutusow. Eins mit vielen Säulen. Es war die Hausnummer 30. Hinten im Hof gab es einen Pferdestall. Den hatten sich meine Eltern zu einer Wohnung ausgebaut. Wir sind dort hineingezogen und haben dann da eine Zeitlang gelebt. Meine Mutter hat damals nicht gearbeitet, denn mein Vater war Ingenieur und hatte, wie die Leute damals sagten, ein gutes Einkommen. Die Schule, in die ich in der ersten und zweiten Klasse ging, lag an der Fontanka, Ecke Pestel-Strasse. Ich erinnere mich noch sehr gut an unseren wunderbaren Klassenlehrer. Wir mochten ihn alle sehr. In unserer Klassen waren wir einander aller sehr freundschaftlich zugetan, obwohl es natürlich auch vorkam, dass die Jungs sich zu prügeln anfingen. Ich erinnere mich noch an eine Prügelei, während der ich es einfach nicht mehr mit ansehen konnte und einem Klassenkameraden dann auch noch eine übergezogen habe. Danach wurde ich aber sehr krank und musste sogar ins Krankenhaus. Ich hatte Diphterie. Meine Mutter meinte nur: „Ich gebe meine Tochter nicht in ein Krankenhaus!“ Mein Vater musste zu seinen Eltern ausziehen, um sich nicht anzustecken. Lebensmittel gab er uns durch ein kleines Fenster, denn wir wohnten ja im Erdgeschoß. Ein Arzt kam regelmäßig und schaute nach mir. Meine Mutter war in diesen Wochen gleichzeitig Krankenschwester und Hygienefachfrau, denn es musste jeden Tag die gesamte Wohnung desinfiziert werden. In dieser Zeit jedoch lernte mein Vater eine andere Frau kennen. Nachdem ich wieder gesund geworden war, zog er zu ihr. Dabei hatten mein Vater und meine Mutter 17 Jahre zusammen gelebt. Meine Mutter war in einem furchtbaren Zustand. Sie meinte immer wieder: „Ich bin bereit, sonst wohin zu fahren, nur damit mich nichts mehr an die zusammen verbrachten Jahre erinnert“. Man schrieb damals das Jahr 1938. Mein Vater fand für uns eine Wohnung auf dem Lermantow-Prospekt.  Die Küche, die ganze erste Etage und unsere Zimmer waren alle zweigeteilt worden. Wir hatten ein großes Zimmer. Es hatte 30 Quadratmeter und war scheinbar früher ein Esszimmer gewesen. (Das konnte man am Deckenstuck erkennen. Diesen zierten nämlich in allen vier Ecken wie auch in der Mitte diverse Früchte.) Unser Zimmer hatte zwei Eingänge. Der eine führte direkt in den Flur und der zweite in die Küche. Unter uns im Erdgeschoß wohnte die ehemalige Eigentümerin des Hauses. Ich weiß nicht, wer diese einst Dame gewesen war, aber sie hatte sehr viel Stil. Das erinnere ich noch. Sie sprach sehr wenig mit den anderen Menschen. Sie war irgendeine Adlige.

In der dritten Klasse ging ich dann in eine Schule am Krjukow-Kanal gegenüber der großen Nikolaj-Kirche. Es war das frühere deutsche Gymnasium und bis zu meiner Zeit unterrichteten dort immer noch Deutsche die deutsche Sprache. In dieser Schule besuchte ich die dritte, vierte und fünfte Klasse.

Als der Krieg begann, war ich gerade einmal zwölfeinhalb Jahre alt. Im Sommer des Jahres 1941 schickte mich meine Mutter in ein Sommerlager der Pioniere nach Pribytkowo. Dort ist die Landschaft wunderschön. Für den 22. Juni war ein Elterntag geplant. Ich erinnere mich noch, wie wir uns darauf vorbereiteten. Es sollte ein großes Fest werden, gewidmet der Eröffnung des Lagers. Viele Eltern kamen und berichteten uns, dass der Krieg begonnen hat. Meine Mutter musste entscheiden, was sie mit mir nun machen sollte. Es gab zwei Möglichkeiten: Die erste – es sollte ein Zug bereitgestellt werden, der uns Kinder direkt aus dem Lager in den Osten bringen wird. Wer das jedoch nicht wollte, konnte seine Kinder mit zurück in die Stadt nehmen. Meine Mutter entschied, dass ich bei ihr besser aufgehoben bin. Der Zug mit den Kindern kam dann auch in der Tat nicht weit, denn die Deutschen beschossen den gesamten Zug, zusammen mit den Kindern. Ich weiß gar nicht, ob da überhaupt jemand überlebt hat.

Wir kehrten in die Stadt zurück. Meine Mutter wurde zum Graben von Schützengräben eingeteilt. Frauen halfen bei diesen Arbeiten, denn die Männer waren nun alle bei der Armee. Die einen waren eingezogen worden, andere hatten sich freiwillig gemeldet. Ich rannte in diesen Tagen durch die Geschäfte. Noch gab es keine Probleme mit der Versorgung. Ich kaufte Zucker, Sonnenblumenöl, alles, was ich auftreiben konnte. Brot bekam man, wie es mir scheint, auch damals schon nur auf Lebensmittelkarten. Die ersten Marken, die eingeführt wurden, waren Brotmarken. Wir konnten natürlich nicht das gesamte Brot, was wir für die Marken bekamen, aufessen, doch wir nahmen stets die gesamte uns zustehende Ration mit nach Hause. Ich weiß noch, dass es in unserem Zimmer ein großes venezianisches Fenster und einen Schreibtisch gab, auf dem wir Papier auslegten und darauf das Brot trockneten.

Wir hatten Glück mit unseren Nachbarn. Alle die sich die ehemalige große Wohnung miteinander teilten, waren einander sehr freundschaftlich zugetan. Dies änderte sich auch nicht während der gesamten Zeit der Blockade und auch danach nicht, obwohl einige Nachbarn ausgezogen und neue eingezogen waren. In einem der Zimmer wohnte vor dem Krieg ein Ehepaar – ein Mann und eine Frau. Sie arbeitete als Kartographin und war vor dem Krieg damit beschäftigt gewesen, die Gegend zu fotografieren. Sie sagte immer wieder zu meiner Mutter: „Agripina Vasiljewna, schnappen Sie sich ihre Shenja und fahren Sie raus auf die Weißkohlfelder“. Diesen gab es nämlich in der Stadt schon nicht mehr zu kaufen. Das taten wir dann auch und kratzten überall die letzten grünen Blätter, die wir noch finden konnten, zusammen und legten sie zu Hause in Salz ein. Während der Blockade nannte man diesen eingelegten Kohl „Chrjapa“. Ich weiß nicht mehr, wie viele Kohlblätter wir so in die Stadt brachten und einlegten.  Aber dank dieses Kohls hatten wir wenigstens für das Jahr 1941 einen kleinen Vorrat an Lebensmitteln.

Während der Blockade gab es Brot nur auf Zuteilung. 125 Gramm pro Person. Dem Brotteig hatte man aber auch Zellulose beigemischt. Arbeiter bekamen die größte Ration, danach Angestellte und dann erst Pflegekinder. Meine Mutter galt als Angestellte. Natürlich hatte ich schon kein Anrecht mehr auf eine Kinderkarte. Wir kochten Sülze aus Tischlerleim und dann aus Gummi. Der Geruch war unerträglich. Ich hielt mir beim Essen die Nase zu.

Meine Mutter hatte bereits vor dem Krieg eine Arbeit angetreten, weil mein Vater nur für meinen Unterhalt sorgte. Auf dem Vitebsker Bahnhof gab es eine Poststelle, wo sie Frachtscheine auf die Ladung klebte und an der Schreibmaschine arbeitete. Ich erinnere mich noch, dass es auf dem Vitebsker Bahnhof auch einen Speisesaal gab. Da meine Mutter dort arbeitete, hatte sie auch einen Passierschein und durfte dort hinein. Sie nahm mich oft dorthinein mit, denn da konnte man Kuchen essen. Das war im September 1941. In den Läden gab es schon nichts mehr zu kaufen. Dann wurde jedoch die Poststelle auf dem Vitebsker Bahnhof aufgelöst und mit der auf dem Moskauer Bahnhof zusammengelegt. Den Vitebsker Bahnhof hatte man bereits still gelegt. Auf ihrem neuen Arbeitsplatz arbeitete meine Mutter dann auch in der Frachtgutabteilung der Post.

Zum ersten Mal wurde die Stadt am 8. September bombardiert. Um acht Uhr abends wurde völlig unerwartet Luftalarm ausgelöst. Wir waren alle unterwiesen worden, einen Rucksack mit uns zu nehmen, in dem jeder seine offiziellen Ausweispapiere, einmal Wäsche zum Wechseln und ein Kopfkissen mit sich nehmen sollte. Alle sollten sich in die Luftschutzkeller begeben. Der für uns vorgesehene Luftschutzkeller befand sich im Haus 22 auf dem Lermantow-Prospekt. Dort wohnten wir ja auch. Der Luftschutzkeller war aber sehr klein und deshalb stiegen wir in ihn nicht hinunter. In unserem Haus gab es dagegen eine breite Wendeltreppe, die direkt nach draußen auf den Lermantow-Prospekt führte. Während der Bombenangriffe legten wir uns unter die Stufen. Es waren grausame Stunden. Man hört, wie eine Bombe von oben fällt, und wartet, was im nächsten Augenblick passieren wird. Als wir uns nach der Entwarnung aus unserem Versteck erhoben, sahen wir eine Unmenge von Glassplittern und Scherben. Der gesamte Lermantow-Prospekt war davon übersäet. Er führte weiter bis zur Straße der Dekabristen. Vorher kreuzte ihn noch die Sadowaja-Straße. Der Häuserblock zwischen der Sadowaja-Strasse und der Fontanka war für den Fahrzeugverkehr gesperrt. An der Fontanka befand sich ein Hospital für Verletzte. Man hatte es bombardiert und in Schutt und Asche gelegt.

Ich erinnere mich auch noch an den hellen Feuerschein an diesem Abend, der den gesamten Himmel lodern ließ. Die Lagerhäuser von Badaewsk, in denen Zucker und anderer Lebensmittel gelagert waren, brannten. Die gesamten Lebensmittelvorräte waren so zerstört worden. Ich erinnere mich noch, wie mich die Angst überfiel. Wie sollten wir nun weiterleben? Doch der Mensch gewöhnt sich an alles. Jeden Abend um acht Uhr – man hätte die Uhr danach stellen können – wurde Luftalarm gegeben. Diese peinlich genauen Deutschen begannen regelmäßig um 20 Uhr mit ihren Luftangriffen auf die Stadt.

Es war schon höllisch kalt draußen. Ganz in der Nähe gab es ein Heizwerk, doch es gab schon nichts mehr, womit man die Öfen hätte heizen sollen. Gleichzeitig wollte man auch keinen Rauch aufsteigen lassen, denn der hätte ja darauf hingedeutet, dass hier Menschen lebten, die es zu liquidieren galt. Deshalb besorgten wir uns einen Kanonenofen. Auf ihm kochten wir auch. Aber dieser Kanonenofen musste auch irgendwomit geheizt werden. Dazu dienten uns meistens Möbel.

In den ersten Monaten der Blockade waren die Schulen noch in Betrieb. Es war so kalt, dass sogar die Tinte in den Tintenfässern einfror. Es gab damals solche Tintenfässer, die nicht umkippen konnten. Wir tauchten darin unsere Federhalter mit der Feder Nr.86. Die Schule konnte man in dieser Zeit kaum wiedererkennen. Niemand rannte durch die Flure, niemand sprang und keiner lachte. Das gehörte alles der Vergangenheit an. Alle gingen langsam über die Flure, stiegen in den ersten Stock hinauf, setzten sich ich ihr Klassenzimmer, zitterten und warteten bis endlich die eigene Klasse in den Speiseraum gerufen wird. Dieser lag im Erdgeschoß. Dort gab man uns einen Teller warmer Hefesuppe. Es war vielmehr Wasser, das ein bisschen gesalzen war und worin man etwas Hefe zerlassen hatte. Das war´s. Natürlich gab es dazu kein Brot. Viele Kinder kamen mit leeren Gläsern in die Schule. Doch die Erzieherin oder der diensthabende Lehrer achteten streng darauf, dass jedes Kind seine Suppe selbst aufaß. Sie erlaubten es nicht, dass jemand Essen mit nach Hause nahm. So war die Situation bis Dezember 1941. Dann verkündete man uns eines Tages völlig unerwartet: „Kinder, ihr braucht nicht mehr in die Schule zu kommen, wir haben für euch keine Hefesuppe mehr!“ So war es im Jahr 1941. Im Winter 41/42 wurde praktisch der gesamte Schulbetrieb in der Stadt eingestellt. Es gab den Versuch, den Schulunterricht in den Luftschutzkellern wieder aufleben zu lassen. Doch es gab erstens zu wenige Kinder, um sie in Klassen aufzuteilen, und zweitens störten die Kälte, der Hunger und die Luftangriffe.

Dann jedoch im Frühjahr wurden wir Schüler wieder zusammengerufen. Wir sollten beim Jäten der Beete mit Möhren und anderer Knollenfrüchte und dann später beim Einbringen der Ernte helfen. Man konnte zu diesem Zeitpunkt sogar schon wieder Straßenbahn fahren, denn diese hatten ihren Dienst wieder aufgenommen. Während der Blockade von Leningrad wurden alle Kinder, die bis zu diesem Zeitpunkt überlebt hatten, zusammengerufen und zur Arbeit auf die kleinen Gemüsefelder geschickt. Wir arbeiteten unter Aufsicht einer deutschen Lehrerin. Sie sorgte für uns, steckte uns hin und wieder ein Stück Gemüse zu und erlaubte uns sogar, wenn wir gut gearbeitet hatten, ein oder zwei Möhren oder eine Runkelrübe mit nach Hause zu nehmen.

Meine Mutter und ich wohnten im zweiten Stock in einem Zimmer mit hohen Decken. Diese waren typisch für die alten Häuser. Um Wasser zu holen, gingen wir zur Fontanka. Ich erinnere mich noch an den Brotladen dort. Er machte um 6 Uhr morgens auf. Es wurde jede Woche neu ausgehängt, an welchen Tagen man Brot auf Marken bekommen konnte. Selbst die Brotration von 125 Gramm gab es nicht jeden Tag. Man konnte anziehen, was man wollte, immer fror man. Die Leute zogen mehrere verschiedene Sachen übereinander —  alles, was aus wärmendem Material gefertigt war — und darüber noch einen Mantel. So stellten sie sich dann schon eine Stunde vorher in die Schlange nach Brot und warteten. Die Leute waren schrecklich anzusehen. Alle waren gereizt und hungrig, die Wangen eingefallen und die Augen groß hervorgetreten. Ich erinnere mich noch an eine furchtbare Begebenheit. Ein kleiner Junge hatte einmal bei jemandem die Brotration von der Waagschale stibitzt, bevor dieser sie selbst genommen hatte. Die Leute warfen sich auch den Jungen und schlugen auf ihn ein. Der jedoch hatte sich das gesamte Stück Brot in den Mund gesteckt und hinuntergeschluckt.

Viel später, es war schon nach 41, sah ich, wie Leute auf der Straße gingen und sich am Brückengeländer festhielten. Manchmal blieben einige plötzlich stehen und sackten zusammen. So blieben sie dann regungslos auf der Straße liegen und erfroren. Ich erinnere mich, wie ich einmal auf dem Weg zur Arbeit einen Mann in Filzstiefeln auf der Straße liegen gesehen habe. Auf dem Weg zurück hatte er schon keine Filzstiefel mehr an. Durch die Straßen zogen ganze Gruppen vom Luftschutz — es waren meist junge Mädchen — die die Toten einsammelten. Die Leute, die zu diesen Gruppen gehörten, hatten einige Privilegien. Sie bekamen eine größere Ration an Brot. Doch nicht immer schafften sie es, rechtzeitig die Toten einzusammeln. In unserer Wohnung gab es sieben Tote. Meine Mutter und ich sind die Einzigen, die überlebt haben.

Zum Neuen Jahr am 6. Januar 1942, also kurz vor dem Weihnachtsfest (obwohl kaum jemand davon wusste), wurde in einer Schule im Stadtbezirk Oktjabrskij ein Fest organisiert. Es waren alle Kinder eingeladen, die noch am Leben waren. In der Stadt gab es nur noch wenige Kinder. Die meisten konnten sich kaum noch bewegen. Sie lagen den ganzen Tag reglos in ihren Betten. Andere waren bereits gestorben. Dieses Weihnachtsfest während der Blockade habe ich mein ganzes Lebtag nicht vergessen. Man hatte einen Tannenbaum geschmückt und den Saal geheizt. Die Kinder kamen warm eingepackt, doch niemand zog sich aus. Voller Ungeduld warteten wir auf die Geschenke. Für jedes Kind gab es eins, aber keins der Kinder stürzte sich sofort auf seine Süßigkeiten. Alle hoben sie für zu Hause auf.  Danach führte man uns in den Speisesaal, wo es für uns eine warme Suppe gab und Haferplätzchen. Niemand tanzte. Niemand lachte. Wir formierten uns auch nicht zu dem typischen Reigen um den Weihnachtsbaum herum.

Die Zeit ging weiter und alles wurde immer schlimmer. Alle Vorräte waren bald aufgebraucht. Lassen Sie mich veranschaulichen, wie es war: Meine Mutter stellte einen großen Aluminiumtopf, der etwa 4 bis 6 Liter Wasser fasste, auf unseren Kanonenofen, gab sechs Esslöffel Weizen hinein, etwas Salz und was herauskam, war eine klebrige Masse. Das war unsere Suppe.

Ich erinnere mich noch an eine Situation. Ich hatte mich schon hingelegt. Meine Mutter fragte mich plötzlich:

—  Shenjetshka, frierst du?

—  Nicht sehr …

—  Shenjetshka, willst du etwas essen?

—  Nicht sehr …

Die Kräfte waren langsam aufgezehrt und meine Mama entschied, dass wir uns bewegen müssen. Wir machten uns nun also auf und gingen zu Fuß bis zu den Nikolaj-Reihen. Danach kehrten wir zurück und nur danach erlaubten wir uns, Mittag zu essen. Es war schnell dunkel, es war ja Winter. Strom gab es keinen. Wir zündeten Öllampen an mit dem Öl, das extra für Lampen war. Wir hätten auch Rizinusöl verwenden können, doch das war uns dafür zu schade, das aßen wir lieber selbst.

Im Januar 1942 waren alle Vorräte endgültig aufgebraucht sowohl bei den Behörden als auch bei den Leuten. Uns retteten einige Packungen Kakao, die wir in Wasser auflösten und tranken. Plötzlich erging die Weisung, dass alle ein Neujahrsgeschenk bekommen sollten. Dank des Leih-und Pachtgesetztes der USA war von amerikanischen Schiffen eine humanitäre Hilfslieferung in die Stadt gebracht worden. Wir erhielten 300 Gramm Schinken, Wurst, eine Flasche mit Pflanzenöl und einiges an Kleidung. So kam ich zu einem ordentlichen Mantel mit einem Pelzkragen, den ich auch nach dem Krieg noch getragen habe. Diese Hilfslieferung war jedoch völlig nichtig, denn alles war schnell aufgebraucht. Kaum jemandem hatten diese „Geschenke“ das Leben retten können.

Man musste sich also entscheiden: sterben oder am Leben bleiben. Meine Mutter nahm mich mit auf ihre Arbeit. Dort wurde gerade ein zweimonatiger Kurs, in dem man das Sortieren von Briefen lernen konnte, abgehalten. Nachdem ich den Kurs absolviert hatte, arbeitete ich als Briefsortierer. Oft waren es die dreieckigen Briefe von der Front, die durch meine Hand gingen. Doch die meisten Briefe  gingen in den Ural und nach Sibirien. Im Oktober 1942 wurde ich 14 Jahre alt. Ich war sehr klein von Wuchs und deshalb wurde für mich auf der Arbeit eine Holzbank angefertigt, damit ich auch die oberen Regalfächer benutzen konnte. Dorthinein gehörte die Korrespondenz, die für die Eisenbahn und die großen Städte bestimmt war. Ich strengte mich sehr an und schaffte sogar mehr als die Norm. Ich war eine der Besten. Im Frühjahr 43 half ich neben der Arbeit noch bei den Aufräumarbeiten in der Stadt. Wenn der Schnee taute, tauchten viele Fäkalien auf, die beseitigt werden mussten, weil sonst Epidemien hätten ausbrechen können. Doch das konnte verhindert werden. Man brachte auch die Badehäuser wieder in Ordnung. Ganz in unserer Nähe war das Usatschewskij-Warmbad. Dorthin gingen wir. Ehrlich gesagt, war es grausam, sich auszuziehen. Alle waren dürr wie Skelette. Wir hätten alle hervorragend als Anschauungsmaterial für den Anatomieunterricht dienen können.

Ich hatte große Lust, wieder zur Schule zu gehen. Doch auf der Arbeit wollte man mich nicht gehen lassen. In dieser Zeit war es streng untersagt, seine Arbeitsstelle zu kündigen. Wenn man kündigte, wurde man zum Feind des Volkes erklärt. Die Leitung sagte dann stets: „Wenn einer geht, dann gehen auch andere. Und wer wird dann die Arbeit machen?“ So gingen wir mit meiner Mutter bis zur Kreisleitung. Dort antwortete man uns: „Lassen Sie das Kind zur Schule!“ Ich hatte zu diesem Zeitpunkt, im November 43 schon eine Medaille bekommen. „Für Verdienste bei der Verteidigung Leningrads“. Dann, 1948, noch einen weitere: „Für hervorragende Arbeit“. Im Herbst 43 wurde ich dann erneut zur Schülerin. Ich sollte nun theoretisch in die sechste Klasse gehen. Wir kamen mit meiner Mutter in eine Schule, wo jedoch die Direktorin zu uns meinte: „Ich kann ihre Tochter nicht nehmen. Sie hat schon gerochen, was Geld ist, sie hat schon gearbeitet. Sie wird wohl kaum noch einmal lernen wollen“. Doch irgendwie konnten wir sie dann doch überreden und so wurde ich in der Schule aufgenommen. Dort lernte ich dann Galja Rakowa kennen. Es war eine Mädchenschule. Galja erinnert sich, dass ich immer in der ersten Schulbank gesessen und dem Lehrer aufmerksam zugehört habe. Wir lernten zusammen in der 6. und 7. Klasse der 231. Schule im Stadtbezirk Oktjabrskij. Dann kamen aber auch bald die ersten Kinder aus der Evakuation zurück. In der Schule war es deshalb bald zu eng, und so wurden wir woandershin umgeschult, in eine Schule am Krjukow-Kanal auf der Rückseite des Marijnskij-Theaters. Die  8. bis 10. Klasse besuchte ich dann schon dort auf dieser Schule. Ich war gesellschaftlich sehr aktiv. Ich war sogar Gruppenratsvorsitzender. Wir gingen in die Krankenhäuser und gaben dort Konzerte. Ich weiß noch, wie wir kleine Glasfläschchen sammelten. Die Glasfabrik hatte nämlich ihren Betrieb noch nicht wieder aufgenommen, doch die Glasfläschchen wurden zum Abpacken von Medikamenten überall dringend gebraucht.

War meine Mutter religiös? Eigentlich nicht sehr. Doch in der Ecke bei uns zu Hause hing eine kleine Ikone. Nach dem Krieg zündeten wir vor ihr zu feierlichen Anlässen, zum Beispiel zu Ostern ein Öllämpchen an. Ich erinnere mich noch an den Tag des Sieges. Ich rannte in die Schule zu einem feierlichen Fahnenapell und auf dem Weg dorthin sah ich, wie sich wildfremde Menschen, die mir entgegenkamen, in den Armen liegen und sich küssen. Am Abend gab es dann ein Feuerwerk. Es war wirklich ein großes Fest.

Evgenia Nikolajewna Sinotowa, foto 2012.

Nach der Schule entschied ich mich, an einer Universität zu studieren. Bereits als Schülerin wollte ich Chemikerin werden. Zusammen mit Galja Rakowa schrieb ich mich an der Chemischen Fakultät der Leningrader Universität ein. Dort studierten wir dann fünf Jahre zusammen. Danach trennten sich unsere Wege, doch wir sind bis heute mehr oder weniger enge Freundinnen geblieben. Sie schrieb dann ihre Doktorarbeit im Bereich „Hochmolekulare Verbindungen“. Ich dagegen arbeitete in einer geheimen Spezialabteilung am Lehrstuhl für „Chemie bei radioaktiven Prozessen“. Wir führten Untersuchungen durch für die Entwicklung eines Kernbrennstoffs. Man hatte auch Jungs aus Taschkent und aus Kasachstan dazu geholt und einen Teil der Physikstudenten. Wir hatten sehr viele Privilegien und bekamen ein hohes Stipendium. Dort studierten wir fünfeinhalb Jahre. Es war ein erweitertes Programm. 1957 promovierte ich dann, und 1959 starb meine Mutter. Sie hatte die Blockade überlebt und auf zwei Arbeitsstellen gearbeitet, um mir eine ordentliche Ausbildung gewähren zu können. Dann wurde sie krank. 1959 lernte ich aber auch meinen zukünftigen Mann kennen, Lwow Michajlowitsch Krishanskij, mit dem ich nun schon bereits 53 Jahre glücklich zusammen lebe. Als meine Mutter starb, hatte sie mir noch gesagt: „Ich kann nun in Frieden sterben, Shenjetschka, denn du hast jetzt einen richtigen Freund an deiner Seite“.

Aufgeschrieben von Tatjana Aleschina

Uebersetzt von Henrik Hansen
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