27 Mai 2013| Steinbock Ephraim Moiseewitsch

Für mich war die Blockade damit zu Ende

Ephraim Moiseewitsch Steinbock 1954.

Als der Sommer 1941 begann, freute ich mich erst einmal auf richtig schöne Ferien. Ich war gerade 13 geworden, hatte alle Prüfungen abgelegt und die fünfte Klasse mit einem Zeugnis beendet, auf dem nur „Einsen“ standen. (Vor dem Krieg kam man mit 8 Jahren in die Schule). Meine Mutter hatte eine Arbeit in einer Textilfabrik in KrasnojeSelo angetreten – ganz in der Nähe von der Datscha, die wir in Duderhof (jetzt Moshajsk) für den Sommer gemietet hatten.

Am 15. oder 16. Juni traf ich mich mit meinem besten Freund MusjaSapolskim. Musja wohnte zusammen mit seinem Vater im Nachbarhaus. Seine Mutter war 1937 ein Opfer der Repressionen geworden. Musja unterschied sich schon damals von den Jungs in unserem Umkreis. Er hatte eine besondere Gabe, die Dinge im richtigen Licht zu betrachten und selbständig zu denken. Wir diskutierten mit ihm über die Meldung der TASS (Telegraphenagentur der Sowjetunion) vom 14. Juni, die von einer „hohen Wahrscheinlichkeit eines Krieges zwischen Deutschland und der UdSSR und von provokatorischen Aktionen, die darauf hinweisen würden“, sprach, aber auch über unsere Sommerferien, die gerade erst begonnen hatten. Nach dieser Meldung der TASS glaubte jedoch die große Masse der Bevölkerung, dass es zu keinem Krieg kommen würde: Es wäre noch hinnehmbar gewesen, wenn nur die Zivilbevölkerung so gedacht hätte, aber auch die Soldaten und Offiziere waren eher ruhig und entspannt. Musja erzählte mir, dass er in ein paar Tagen zusammen mit seiner Großmutter zu ihr, in den Westen Weißrusslands, in die Nähe von Bialystok fahren wird. Musjas Großmutter wohnte in dem Teil von Weißrussland, der nach dem Bürgerkrieg zu Polen gekommen war. 1939 war dieses Gebiet nun sowjetisch geworden, und die Großmutter, die ihren Enkel vorher nie zu Gesicht bekommen hatte, war im April 1941 nach Leningrad gereist, um ihn endlich zu kennenzulernen. Nun wollte sie ihren Enkel zu sich nach Hause mitnehmen, damit er dort schöne Ferien verbringen möge. Hätten wir es damals ahnen können, dass wir uns niemals mehr wiedersehen sollten? Beide stiegen am 19. Juni in den Zug. Musjas Vater hat nie mehr etwas von ihnen gehört. Bjalystok wurde gleich in den ersten Tagen des Krieges eingenommen und Musja war direkt in die Krallen der Hitlerbanden geraten. Alle Juden hat man dort in ein Ghetto gepfercht und im Laufe des Sommers getötet.

Meine Mutter und ich zogen am 18. Juni auf unsere Datscha. Am Morgen fuhr meine Mutter nach KrasnojeSelo zur Arbeit, ich blieb zurück und kümmerte mich um das Haus. Ich machte Bekanntschaft mit den Kindern in der Nachbarschaft und erkundete die Gegend. Mein Vater war in Leningrad geblieben, denn er musste dort arbeiten. Mein älterer Bruder Jascha – er war Student am Polytechnischen Institut – machte gerade in der Fabrik „Elektrosila“sein erstes Praktikum in der Produktion.

Unser Haus in Dudendorf lag am Fuße des Rabenberges. Der Rabenberg ist eigentlich nur ein Hügel  von etwa 150 m Höhe mit einer wunderschönen und zum Teil sehr seltenen Pflanzenwelt. In den nächsten Jahren jedoch wurde der Rabenberg zu einem bedeutenden strategischen Punkt. Zunächst für die Deutschen, denen er während des Beschusses von Leningrad durch die Artillerie als Beobachtungspunkt diente, dann aber auch für die sowjetischen Truppen, denen er  bei der Befreiung von Peterhof half.

Unsere gemütlich begonnenen Ferien fanden jedoch bald ein jähes Ende. In unserer Datscha — wie auch in den meisten Häusern in der Nachbarschaft — gab es kein Radio. Von irgendwelchen Ereignissen erfuhren wir nur von meinem Vater, der am Abend manchmal zu uns rauskam.

Sonntag, der 22. Juni, begann wie ein ganz normaler freier Tag. Meine Mutter schlief etwas länger als gewöhnlich an den Arbeitstagen, ich fuhr auf dem Fahrrad unserer Nachbarn durch die Gegend. Gegen 2 Uhr am Nachmittag kam mein Vater. Er war irgendwie sehr aufgeregt. Als er ins Haus trat, sagte er nur eins: „Es ist Krieg“.

Wir erfuhren dann, dass um 12 Uhr mittags der damalige Minister für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR B. Molotow im staatlichen Rundfunk mit einer allgemeinen Ansprache vor das Volk getreten war. In ihr hatte er mitgeteilt, dass die Deutschen ohne Kriegserklärung die Grenze überschritten haben und dass deutsche Flugzeuge bereits Städte der UdSSR bombardieren. Noch am selben Tag wurde für den 23. Juni die allgemeine Mobilmachung für alle Wehrpflichtigen, die zwischen 1905 und 1918 geborenen wurden, veranlasst. Im Verlaufe des Krieges wurden die Jahrgänge für den Einzug an die Front dann weiter ausgedehnt. (Es wurden später auch die Älteren eingezogen – man ging bis zum Jahrgang 1891 – sowie auch viel Jüngere — bis Jahrgang 1927).

Wir Jungs nahmen diese Meldung vom Krieg natürlich ganz anders auf als unsere Eltern. Deren Generation hatte bereits den Ersten Weltkrieg und den Bürgerkrieg erlebt. Mein Vater hatte zu dieser Zeit bereits das Rentenalter erreicht und sofort begriffen, dass nun schwere Zeiten auf uns zukommen werden. Sein ältester Sohn war noch Student, sein kleiner noch viel jünger.

Am 24. Juni begann der Sowjetische Informationsdienst mit seiner Arbeit. Die Bevölkerung wurde nur über die Meldungen des Informationsdienstes über die Ereignisse auf dem Laufenden gehalten. Diese Berichte waren jedoch ideologisch bearbeitet und oft sehr unklar formuliert. Es kam zum Beispiel eine Meldung über die „Ausgleichung der Frontlinie“ — zunächst ging es um die Gegend von Pskow, dann hieß es jedoch in der nächsten Meldung völlig unerwartet, die Gegend um Luga sei gemeint. Die Menschen jedoch begriffen sehr schnell, wo was passierte – auch ungeachtet dieser bewusst verfälschten Meldungen.

Bereits am nächsten Sonntag, am 29. Juni, verließen wir unsere Datscha. Wir ließen alle unsere zuvor dorthin gebrachten Möbelstücke zurück und kehrten heim nach Leningrad, in unsere Wohnung in der Puschkin-Straße. Als wir am Baltischen Bahnhof aus dem Regionalzug stiegen, sah ich das erste Mal Ballons der Luftabwehr. Sie wurden über große und wichtige Objekten, wie zum Beispiel der Isaak-Kathedrale, angebracht und sollten die zielgerichtete Bombardierung dieser durch die deutschen Flieger behindern, da die Piloten es damit riskierten, sich im Seil oder im Ballon selbst zu verfangen oder aber von den Munitionsgeschossen, die am Seil des Ballons angebracht war, getroffen zu werden.

Leningrad bereitete seine Verteidigung vor. Ende Juni begann man zusätzliche Grenzbefestigungen im Gebiet von Luga zu bauen. Man hob Gräben aus, errichtete Panzersperren und rüstete Feuernester aus. Alle diese Arbeiten verrichteten zum größten Teil Frauen und Studenten mit ihren Händen.

In der Nacht kleidete sich die Stadt in Dunkelheit. Es war mit aller Strenge angeordnet worden, dass sämtliche Fenster zu verdunkeln seien. Vor den Toren Leningrads wurden auf den Zufahrtsstraßen Panzersperren aufgestellt. Das waren Konstruktionen aus Beton und Metall, die die Panzer aufhalten sollten. Die unteren Etagen der Häuser wurden mit Sandsäcken verschlossen und mit Holzbrettern vernagelt. Auf vielen Kreuzungen wurden die Unterstände der Verkehrswacht in kleine Festungen umfunktioniert und mit Schießscharten für Maschinengewehre ausgestattet. Auf den Dächern vieler Häuser wurden Flakmaschinengewehre installiert, um feindliche Flugzeuge abzuschießen. Auf den Dachböden sämtlicher Gebäude wurden Sandsäcke bereitgelegt, um Brandbomben sofort löschen zu können.

Anfang Juli begann man mit der Evakuierung der Kinder. Viele wurden in Dörfer an der Bahnlinie nach Moskau gebracht, die etwa 150 bis 200 km von Leningrad entfernt lagen —  andere direkt in den Süden. Doch dies war ein Fehler. Die Deutschen waren sehr schnell bis in diese Gebiete vorgedrungen und die meisten Kinder flohen zurück nach Leningrad. Die älteren schlugen sich auf eigene Faust durch, andere konnten auf verschiedenen Wegen und unterschiedliche Weise von ihren Eltern in die Stadt zurückgebracht werden. Einige jedoch blieben im besetzten Gebiet unter den Deutschen zurück. Meine zukünftige Frau Geta hatte man zusammen mit ihrer Kindergartengruppe ins Gebiet von StarajaRussa gebracht. Ihr Vater hatte es jedoch geschafft, auf verschiedenen Pferdewagen und Fuhrwerken bis zu ihr zu gelangen und sie in die Stadt zurückzugringen. Unter meinen Freunden, die es ebenso geschafft hatten, in letzter Minute in die Stadt zurückzukehren, war auch Isaak Judbarowskij. Eigentlich sollte ich auch evakuiert werden —  man hatte mir schon die Haare ganz kurz geschert – doch am Vortag der geplanten Abreise fiel ich bei uns im Hof auf das Steinpflaster und schlug mir dabei das Knie auf, sodass meine Eltern entschieden, mich nicht fortzugeben.

Die Deutschen hatten Pskow bereits eingenommen. Bei uns in der Stadt verbreiteten sich daraufhin Gerüchte, dass es unter den Offizieren der Armee Verräter geben soll.

Mitte Juli wurden Lebensmittelkarten eingeführt. Hunger litt noch niemand, vielmehr verstand man, dass mit dieser  Maßnahme die Versorgung mit Lebensmitteln auf gewisse Weise reguliert werden sollte. Bald darauf wurden sämtliche nichtstaatlichen Geschäfte geschlossen, die nach dem sowjetisch-finnischen Krieg eröffnet worden waren.

In diesen Tagen begann man dann auch mit der regelmäßigen Evakuierung der Bevölkerung und der Fabriken, die für die Verteidigung des Landes produzierten. Mit den Fabriken wurden natürlich auch die dazugehörigen Arbeiter aus der Stadt gebracht.

Am 28. Juli begleiteten wir meinen Bruder zum Zug an die Front. Mein Vater war ganz bedrückt. Er ahnte wahrscheinlich, dass er seinen ältesten Sohn nie wiedersehen wird.

Mein Vater lag aufgrund seines Alters bereits außerhalb der Jahrgänge, die eingezogen wurden. Meine Eltern konnten sich, wie viele andere Leute auch, lange nicht für eine Evakuierung entscheiden. Sie schwankten hin und her, denn sie hatten Angst, ihre Wohnung und all das Vertraute, was mit ihr verbunden war, zurückzulassen. Endlich, Anfang August, stellten dann meine Eltern einen Antrag auf Evakuierung. Sie begannen mit den Vorbereitungen. Man durfte nur sehr wenig mitnehmen, nur das Nötigste. Unsere Abreise wurde für den 24. August geplant, deshalb lebten wir die Tage vorher bereits aus Koffern. Doch am 23. August verließ der letzte planmäßige Zug mit Flüchtlingen die Stadt. Unser Zug wurde ausgesetzt, denn die Deutschen hatten ganz Leningrad eingeschlossen. Eigentlich sind die Zugverbindungen in Richtung Osten – wie später bekannt wurde – erst am 27. August eingestellt worden, vom 24. bis zum 27. August verließen jedoch nur ausgewählte Züge die Stadt. So machte sich am 27. August auf eigene Gefahr auch ein Zug mit Familien von Eisenbahnern auf den Weg. Unter ihnen war auch die Familie meines Freundes Lew Parizkij. Wir blieben im belagerten Leningrad zurück.

Am 8. September nahmen die Deutschen Schlüsselburg ein und schlossen so den Ring der Blockade. Der einzige Verbindungsweg zwischen der belagerten Stadt und der großen, weiten Welt war der Ladogasee. Ende August – Anfang September war das Wetter hervorragend. Es gab noch genug Lebensmittel, und wir Jungs — wie auch viele Erwachsene — konnten uns noch nicht vorstellen, was uns noch bevorstehen sollte. Tagsüber erschien der Eiswagen auf der Puschkin-Straße und wir Kinder liefen alle zusammen und kauften das gesamte Eskimo-Fruchteis für 7 Kopeken pro Stück, woraus wir dann zu Hause Fruchtgrütze kochten.

Auch die Schule hatte wieder begonnen. Ich kam in die 6. Klasse. Doch der Unterricht dauerte nicht lange. Da die Deutschen im Raum SrednejRogatki bis an den Stadtrand von Leningrad  vorgedrungen waren, nahmen sie von dort die Stadt unter Artilleriebeschuss. Nach einigen Tagen, so etwa am 6. oder 7. September, begannen sie auch regelmäßige Bombenangriffe zu fliegen und warfen Brand- und Sprengbomben über der Stadt ab. Zu diesem Moment war dies das Furchtbarste. Die Menschen flüchteten für die ganze Nacht in die Luftschutzräume. In unserem Haus, wie fast in jedem Haus, diente dazu der Keller, der mit mächtigen Türen, schweren Fensterklappen und einem Belüftungssystem ausgestatten worden war. Da sich die Bombardierungen jeden Tag wiederholten und Bombenalarm manchmal mehrere Male in der Nacht ausgelöst wurde, begannen sich die Luftschutzkeller schon am Abend zu füllen. Es stiegen meist jene Leute in den Keller hinab, die nur langsam die Treppen hinabsteigen konnten. Einige nahmen Stühle mit sich, andere sogar Sessel, denn die Bänke, die man in den Kellern aufgestellt hatte, waren schmal und man konnte auf ihnen nicht besonders gut schlafen. Die Luftschutzkeller wurden so etwas wie eine Kommandozentrale für die Zivilbevölkerung, wo die Menschen, da sie dort ja viele Stunden verbrachten, alle nötigen Informationen erhielten und die aktuellsten Neuigkeiten austauschten. Wegen der Bombardierungen wurde der Unterricht in der Schule „bis auf weiteres“ eingestellt. Alle Schüler der 6. und 7. Klasse waren jedoch weiterhin in ihrer Schule oder aber in der Hausverwaltung ihrer Wohnhäuser zu gewissen Dienstenverpflichtet.

Am 8. September, etwa gegen 6 oder 7 Uhr abends, flogen die Deutschen einen mächtigen Bombenangriff auf Leningrad. An diesem Tag brannte es an hunderten von Orten. Das schlimmste war, dass auch die Lebensmittellager von Badaewgetroffen worden waren und nun in Flammen standen, was dazu führte, dass eine riesige Menge an Lebensmittelvorräten vernichtet wurde. Auf dem Schwarzmarkt konnte man noch lange Zeit Stücke von dem geschmolzenen Zucker erwerben. Ich war an diesem Tag auf dem Dach unseres Hauses und sah den riesigen Feuerschein und danach die dunkle Wolke, die sich noch lange über der Stadt hielt. Schon nach einigen Tagen wurden die Rationen, die auf die Lebensmittelkarten ausgegeben wurden, stark reduziert und die Menschen begriffen das erste Mal, dass schlimme Zeiten begonnen haben.

Viele Arbeiter in den Waffenfabriken, die nicht evakuiert worden waren, wurden in den Notstand versetzt. Das bedeutete, dass sie in ihren Fabriken auch leben mussten und nur selten zu ihren Familien nach Hause konnten.

Um die Menschen vor den Luftangriffen zu warnen, waren auf der Straße überall Lautsprecher angebracht worden, an die ein ständig arbeitendes Metronom angeschlossen war. Wenn ein schneller Takt geschlagen wurde, bedeutete dies Bombenalarm, bei langsamen Schlägen wurde Entwarnung gegeben.

Bei Artilleriebeschuss aus der Luft wurde direkt in das betroffene Stadtgebiet geschaltet und eine Stimme warnte vor dem Beschuss des jeweiligen Stadtteils. Da der Beschuss meist von Westen kam, wurden an den in Richtung Osten liegenden Straßenseiten Aufschriften wie diese angebracht: „Bürger! Diese Straßenseite ist während der Luftangriffe am ehesten gefährdet“. Auch heute noch hängt in Sankt Petersburg auf dem Newskij Prospekt am Haus Nummer 14 eine Gedenktafel, die noch immer daran erinnert, wie gefährlich es war, sich während des Luftangriffs auf dieser Straßenseite aufzuhalten.

Der 19. September war ein wunderbarer, sonniger Tag. Ich hatte Dienst in der Schule. Es war etwa 6 Uhr abends. Meine Schule befand sich auf dem Newskij Prospekt (damals der Prospekt des 25. Oktober) im Hinterhof des Filmtheaters „Kolosseum“. Zu den Pflichten des diensthabenden Schülers, der wiederum dem diensthabenden Lehrer in der Schule unterstellt war, gehörte es „hier- und dorthin zu laufen, das Eine zu melden oder das Andere zu bringen usw.“ – so wie es der diensthabende Lehrer anordnete. Unser Tisch, wo die Lehrerin und ich saßen, stand am Fenster am Ende eines langen Korridors im Erdgeschoss, der sich durch das gesamte Schulgebäude zog. Die Telefone waren in diesen Tagen schon alle abgestellt. Es war Luftalarm gegeben worden und die Einschläge und Explosionen der Geschosse rückten immer näher und wurden immer lauter. Die Lehrerin schlug vor, in den Luftschutzkeller zu gehen. Das taten wir dann auch. Nach einigen Minuten hatte ich das Gefühl, als ob der Boden unter meinen Füßen einbricht und die Wände zusammenbrechen wollten. Als wir uns wieder nach oben begaben, bot sich uns ein furchtbares Bild: Eine Bombe war auf den Schulhof gefallen, genau vor dem Fenster, an dem wir vor kurzem noch gesessen hatten. Der gesamte Fensterrahmen war herausgerissen und der Tisch an das andere Ende des Korridors geschleudert worden. Die Lehrerin hatte also im rechten Moment die richtige Eingebung gehabt. Nachdem wir auf die Straße getreten waren, stellte sich heraus, dass das Flugzeug, das sich bis über das Zentrum der Stadt durchgeschlagen hatte, auch einen Flügel des Kujbischew-Krankenhauses und einen Hofflügel des Hauses Nummer 63 am Newskij-Prospekt getroffen hatte. Das Schlimmste in diesem Augenblick war jedoch, dass eine schwere Bombe genau in die Dimitrow-Gasse gefallen war. Im Hof des Hauses Nummer 11 in dieser Straße befand sich das Kombinat, in dem mein Vater arbeitete. Ich wusste, dass er an diesem Tage Dienst hatte. Ich lief dorthin, doch der gesamte Straßenzug war abgeriegelt und niemand durfte hinein. Erst am späten Abend kam mein Vater nach Hause. Meine Mutter und ich waren beide bis dahin in heller Aufregung. Ich möchte dazu nur noch sagen, dass der Einschlag in der Dimitrov-Gasse so mächtig war, dass sich in der Mitte der Straße ein gewaltiger Bombentrichter aufgetan hatte. Noch viele Jahre nach dem Krieg war man damit beschäftigt, die Fassaden der Häuser in dieser Straße wieder instand zu setzen. Es wurde geredet, dass das Flugzeug, das sich an einem klaren, sonnigen Tag in die Stadt durchgeschlagen hatte, von einem erstklassigen Piloten geflogen worden sein muss. Im Allgemeinen erreichten während des Tages die Deutschen Flugzeuge nur sehr selten das Zentrum der Stadt.

Nach einigen Tagen sollte ich ein weiteres Mal etwas sehr Furchtbares erleben. Ich hatte gerade Dienst in der Hausverwaltung, als Bombenalarm ausgelöst wurde. Ich stand am Tor zu unserem Haus. Die Flakabwehrraketen schossen und versuchten mit allen Mittel den Durchbruch der deutschen Flugzeuge zu verhindern. Völlig unerwartet schlug ein Splitter einer Flakrakete in den hölzernen Deckel eines Abwassergullys direkt neben mir ein. Was für einen Schreck war das. Ich hatte große Angst.

Einmal zerstörte eine Bombe das Haus Nummer 4 in der Majakowskij-Straße. Zunächst stürzte das Dach ein, dann das gesamte Innere. Nur eine tragende Seitenwand blieb stehen, die schon zum Haus Nummer 6 führte. An dieser Wand hing in der 4. Etage ein Fahrrad. Es hing den ganzen Krieg über völlig verwaist an dieser Stelle. Es gab nichts, womit man es von dort hätte  herunternehmen können. In einigen Fällen zerstörten die Bomben die unteren Stockwerke, die oberen blieben manchmal stehen und hingen wie Torbögen in der Luft.

Langsam wurde auch die Versorgung mit Lebensmitteln immer dramatischer. Zweimal schlugen mein Vater und ich uns gemeinsam bis vor die Tore der Stadt durch, um dort auf den bereits abgeernteten Feldern nach etwas Essbarem zu suchen. Wir fanden aber nichts als irgendwelche Wurzeln und schmutzige Blätter. Im Oktober war auf mehr nicht mehr zu hoffen.

Mit der Verschlechterung der Versorgungslage suchten immer weniger Menschen die Luftschutzkeller auf, obwohl die Zahl der Bombenangriffe nicht weniger wurde. Das wichtigste Ziel war es nun, an etwas Essbares zu gelangen. In den Straßen um den Schmiedemarkt war ein Schwarzmarkt entstanden. Dorthin gingen die Menschen, um ihr wertvolles Hab und Gut in Lebensmittel einzutauschen. Aus der Not der Menschen schlugen diverse Unholde, die Zugang zu verschiedenen Lebensmittelvorräten hatten, ihren Profit. Mein Vater tauschte einmal bei dem Hausmeister des Hauses Nummer 27 in der Swetschnoj- Gasse etwas von unseren Sachen gegen eine kleine Packung Kleie ein, mit der zu normalen Zeiten die Pferde gefüttert wurden. Meine Mutter ergatterte eines Tages auf dem Schwarzmarkt eine Handvoll harte Schalen von Sonnenblumenkernen, aus denen das Öl bereits herausgepresst worden war. Wir kochten damals Speisen aus Tischlerleim und kauten Leder.

Da meine Mutter und mein Vater arbeiteten, war ich für den gesamten Haushalt verantwortlich – zu mindestens für die einfachen Dinge. Jede Familie versuchte einen Kanonenofen aufzutreiben. Dieser kleine Ofen hatte seine Nützlichkeit schon im Bürgerkrieg bewiesen. Auf ihm konnte man Essen zubereiten und er machte gleichzeitig auch das Zimmer warm. Die Rauchgase ließen wir direkt durch das Fenster nach draußen. Als Heizmaterial ließ sich alles verwenden: Holz aus zerbombten Gebäuden, Möbel, Bretter von alten Hängeböden, Bücher und Papier.

Die Lage in Leningrad verschlimmerte sich noch weiterhin dadurch, dass etwa 300000 Flüchtlinge aus dem Umland und den angrenzenden Regionen in der Stadt Zuflucht gesucht hatten.

Die Stromkraftwerke mussten immer wieder ihren Betrieb unterbrechen, denn es fehlte an Brennmaterial. Zunächst wurde immer zu bestimmten Zeiten regelmäßig der Strom abgeschaltet, dann ganz. Straßenbahnen und Trolleybusse stellten ihren Dienst ein.

Nachdem der Strom abgeschaltet worden war, behalf man sich zunächst mit Kerzen, um Licht zu machen, dann jedoch auch mit anderen Mitteln. In Schraubgläser gossen wir etwas Kerosin, in den Deckel bohrten wir ein Loch und steckten einen Docht hinein. Manchmal gaben wir auch Ölfirnis oder irgendeine andere brennende Flüssigkeit in das Glas. Manchmal benutzen wir aber auch einen einfachen Holzspan.

Der Druck in den Wasserleitungen wurde immer schwächer, deshalb musste man bald zu den Wasserpumpen auf der Straße gehen, beziehungsweise zu den Wäschereien oder aber zur Newa, um dort Wasser zu holen.

Im Verlaufe des Herbstes wurde die Ration an Brot und anderen Lebensmitteln mehrere Male reduziert. Am 20. November war dann der niedrigste Wert erreicht. Ein Arbeiter bekam auf seine Lebensmittelmarken 250 Gramm am Tag und alle anderen Berechtigten nur 125. Diese Norm hatte ihre Gültigkeit bis zum 25. Dezember. Man muss aber noch dazu sagen, dass etwa 50 Prozent und mehr des Brotes irgendwelche Beimengungen waren, die man eigentlich nicht essen konnte.

Im November begann das große Sterben. Zunächst starben die Männer. Es gab nicht immer die Möglichkeit sie zu beerdigen, deshalb lagen die Leichen oft einfach auf der Straße. Das erste Mal in meinem Leben sah ich einen Toten, als gleich mehrere Verstorbene in Laken gehüllt in der Majakowskij-Straße neben der  Poliklinik Nr. 36 einfach auf dem Bürgersteig gelegt worden waren.

Meine spätere Frau Geta, die damals 4 Jahre alt war, schlief mit ihrem Vater, der im Sterben lag, zusammen in einem Bett und sah mit eigenen Augen mit an, wie er verstarb. Ihre Mutter war zu diesem Zeitpunkt auf der Arbeit. Auch sie war zum ständigen Aufenthalt in ihrer Fabrik verpflichtet worden.

All die Grausamkeit des Hungers wurde noch verschlimmert durch die bittere Kälte, die über Leningrad hereingebrochen war. Es wiederholte sich der Winter 1939-40, als der Krieg gegen Finnland tobte. Er war um ein weiteres kälter und langandauernder als ein gewöhnlicher Winter. Im Winter 1939-40 war es jedoch zu Hause warm und niemand litt an Hunger. Die Menschen wickelten sich in alles ein, was sie finden konnten, besonders, wenn sie sich nachts in irgendeine Schlange stellen mussten.

Fäkalien wurden einfach in den Hof geschüttet und langsam bildeten sich riesige gefrorene Haufen.

Die Stadt stand nach wie vor unter Artilleriebeschuss und sie wurde weiterhin regelmäßig bombardiert. Manchmal dauerte ein Bombenalarm ganze 5 bis 6 Stunden. Die Leute jedoch hatten aufgehört, diesen Angriffen besondere Bedeutung beizumessen. Jeder hatte viel größere Sorgen. Die Bombardierung der Stadt war das eine, sehr viel schlimmer dagegen war der Hunger.

Einmal musste ich während eines Fliegeralarms — ich weiß nicht mehr warum —  in die Nekrasow-Straße gehen, ins Haus Nr. 39 zu meinem Freund Boris Pripstein. Wir saßen am Tisch und plötzlich begann aus dem Nichts heraus der Kronleuchter zu wackeln. Wir hatten sofort begriffen, dass irgendwo in der Nähe eine Bombe eingeschlagen war, denn wir hatten bereits Erfahrung damit. Und so war es auch. Eine Bombe hatte das gesamte Haus Nummer 43 – also zwei Häuser weiter – niedergerissen. Die ganze Straße war überschüttet mit den Trümmern des Hauses.

Am 25. Dezember wurde die Brotration, die man auf Marken bekam, auf 350 Gramm für Arbeiter und 200 Gramm für deren Angehörige erhöht. In der Tat kam aber in den Läden kein Brot an, ganz zu schweigen von anderen Lebensmitteln. Zwischen 4 und 5 Uhr morgens stand ich auf, zog alles, was ich hatte, an und begab mich zum Brotladen an der Ecke Newskij Prospekt – Vosstania-Straße, um mich in die Schlange einzureihen. Die Menschen dort froren, denn man konnte sich nirgends unterstellen. Am Morgen dann ertönte die Stimme des Verkäufers: „Geht nach Hause Leute, heute ist kein Brot gekommen!“ Manchmal machten die Brotläden auch gar nicht erst auf.

Im Dezember kam es dann wegen des Hungers zu einem Massensterben. Die Menschen konnten sich kaum auf den Beinen halten. Wenn jemand zu Boden fiel, dann war die Wahrscheinlichkeit, dass er es nicht mehr schaffte, aufzustehen, groß. So starb er dann auf der Straße. Der Schnee wurde nicht geräumt. An einigen Stellen lag er einen ganzen halben Meter hoch – und sogar noch höher. Wenn irgendwo ein Haus brannte und man versuchte, es mit Löschwasser zu löschen, dann bildete sich dort noch eine viel gewaltigere Eisschicht. So war es zum Beispiel vor dem Haus Nr. 9 in der Puschkin-Straße, wo sich ein Eisberg gebildet hatte, der eine Höhe von mehr als 3 Metern hatte.

Leider kam es auch zu einem Anstieg der Kriminalität in der Stadt. Es gab organisierte Banden, die den Menschen die Lebensmittelkarten wegnahmen oder den Brotwagen überfielen. Auch Fälle von Kannibalismus traten auf. Für einen Menschen, der nicht dürr und abgemagert war, war es gefährlich auf die Straße zu treten. Meine Schwiegermutter berichtete mir, wie sie einmal die kleine Geta auf einem Schlitten über die Newa gezogen hatte. Auf einmal fühlte sie, dass der Schlitten hinter ihr unheimlich leicht geworden war. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie zwei Männer das kleine Mädchen genommen hatten und sich aus dem Staub machen wollten. Sie warf sich auf die Männer und trat in einen richtigen Kampf um das Leben ihres Mädchens ein. Am Ende hatte sie es geschafft, den Unmenschen ihre Tochter wieder aus den Händen zu entreißen.

In diesen Wochen begannen bei mir auch Depressionen. Es gab nichts zu essen. Ich wollte nicht mehr leben. Nur dank der Wärme und Zärtlichkeit meiner Eltern besserte sich mein Zustand. Außerdem gelang es der Stadtleitung, ungeachtet der gewaltigen Schwierigkeiten, für uns Kinder ein richtiges Neujahrsfest zu Sylvester 1941-42 zu organisieren. Im Haus für künstlerische Erziehung der Kinder hatte man für uns einen Tannenbaum geschmückt, es gab ein kleines Konzert und – was das wichtigste war — man reichte uns ein richtiges Mittagessen, was uns damals als Glanzleistung kulinarischer Kunst erschien. Im Januar ging ich zu einigen Unterrichtsstunden in die Schule. Der Unterricht fand in demselben Luftschutzkeller statt, der mir vier Monate vorher das Leben gerettet hatte.

Der Unterrichtsraum war furchtbar kalt. Wir waren nur etwa 5 – 7 Schüler. Zu ihnen gehörten auch meine Freunde – meine Klassenkameraden Alik Katz, Nina Belowa und Tanja Birshtein, die dann im Folgenden eine bekannte russische Physikerin geworden ist, mit vielen russischen Auszeichnungen geehrt wurde, und sogar auch Preisträger der L`Oreal-UNESCO „Frauen in der Wissenschaft“ ist.

Überall in der Stadt wurde davon geredet, dass man dabei ist, die sogenannte „Straße des Lebens“ über das Eis des Ladogasees einzurichten. Mit aller Wahrscheinlichkeit waren in den Geschäften keine Lebensmittel zu haben, weil man sie irgendwo aufsparte.

In diesen Tagen begann die zweite Etappe der Evakuierung der Bevölkerung aus der Stadt —  über das Eis des Ladogasees. Dieses Mal waren viele Institute und ihre Mitarbeiter an der Reihe. Unter ihnen war auch mein unverheirateter Onkel, der von Kindheit an behindert war.

Ende Januar brach mein Vater zusammen und stand nie wieder auf. Er ging langsam seinem Ende entgegen.

Früher einmal war unsere Wohnung sehr groß – es war eine Kommunalwohnung. Es gab zwei Eingänge, einen von der Treppe im schmucken Vorderhaus und einen von der Treppe im Hof. In den dreißiger Jahren wurde die Wohnung dann aufgeteilt. Uns wurde ein eigener Wohnbereich zugeteilt mit einem separaten Eingang vom Hof. Der andere Teil blieb eine sogenannte Kommunalka, in der sich mehrere Familien Küche und Bad teilten – nur eben viel kleiner. In einem der Zimmer dieser Wohnung wohnte die Familie der Schwester meines Vaters – meine Tante Chasja. Im Januar starben sowohl ihr Mann als auch ihr Sohnan Hunger. Sie blieb mit ihrem zweiten Sohn, Ilja, allein zurück. Dieser war damals sehr kurzsichtig und deshalb nicht zur Armee eingezogen worden.

Am 11. Februar 1942 — endlich! — ertönte im Radio die lang ersehnte Meldung: „Vom morgigen Tag an, vom 12. Februar, werden in allen Geschäften, in denen man Lebensmittel auf Marken bekam, Lebensmittel ausgegeben. Was war das für eine Freude!

Am nächsten Morgen strömten die Menschen in die Geschäfte. Auch ich trug einige Zeit später die Lebensmittel nach Hause, die unserer Familie zustanden. Das waren Getreide, Fett und Zucker. Meine Mutter machte sich sofort daran, einen Hirsebrei zu kochen. Doch unsere Freude wurde bald getrübt, denn schon nach einigen Minuten kam unsere Tante Chasja mit Tränen in den Augen zu uns gerannt und erzählte, wie ihrem Sohn, während er im Laden in der Schlange stand, alle Lebensmittelkarten gestohlen worden waren. Das bedeutete den sicheren Tod. Doch hier erfuhr ich etwas, was mir mein ganzes Leben lang eine Lehre blieb. Mein Vater erhob sich, auch wenn ihm das sehr schwer fiel, vom Bett und wandte sich an meine Mutter: „Teile alles mit meiner Schwester!“ Mehr konnte er schon nicht mehr sagen. Und so teilte meine Mutter ganz ehrlich die Lebensmittel zwischen unseren beiden Familien auf. In der nächsten Nacht war mein Vater dann nicht mehr unter den Lebenden. Meine Mutter und ich waren absolut dagegen, dass man unseren Papa einfach so abholte, das heißt, dass einfach irgendwelche Männer kamen, die seinen Leichnam zu einer Sammelstelle brachten(meistens in ein Leichenschauhaus in einem Krankenhaus). Wir entschieden, dass wir ihn selbst beerdigen wollten. Aus diesem Grund baten wir darum, dass man uns schon einen Tag im Voraus die Brotration für den nächsten Tag aushändigte – das war nicht ganz leicht! —  damit wir den Totengräbern neben Geld auch noch etwas Brot zustecken konnten. Ich weiß schon gar nicht mehr, wer uns geholfen hat, den schnell zusammengezimmerten Sarg aus der Wohnung in den Hof zu tragen. Mein Cousin und ich banden jedoch zwei Kinderschlitten hintereinander zusammen, stellen den Sarg darauf und zogen ihn dann gemeinsam. Hinter dem Schlitten folgte ein kleiner Trauerzug: meine Mutter und meine Tante. Unsere „Expedition“ erwies sich als nicht sehr einfach. Der gesamte Weg war nicht geräumt: den Ligovskij-Prospekt und die Rasstannaja-Straße. Während wir die Schlitten durch die Alleen des Friedhofs zogen, sahen wir einige riesige Haufen mit Leichen in den unmöglichsten Lagen und Stellungen.

Die Toten wurden einfach hierher gebracht. Man schaffte es nicht, sie auch noch zu beerdigen. Die Totengräber führten uns zu einem bereits ausgehobenen Grab. Die Prozedur des Herablassens des Sarges in das Grab und das Zuschütten mit ein paar Schaufeln eisig-gefrorener Erde dauerte nicht lange. Meine Mutter vergoss stille Tränen und ich versuchte sie zu beruhigen.

Danach gingen wir langsamen Schrittes wieder nach Hause zurück. Ich schaute mich um und bemühte mich, mir die Gegend auf dem Friedhof zu merken, um das Grab dann später wiederfinden zu können. Das war sehr schwer, denn rund herum sahen die Alleen alle gleich aus. Überall Schnee und Leichen. Zu meinem tiefen Bedauern, konnte ich im Frühjahr, nach dem Tod meiner Mutter, als ich mich auf dem Wolkowo-Friedhof auf die Suche machte, das Grab meines Vaters nicht mehr finden. Darüber bin ich bis heute sehr traurig. Nach einiger Zeit begriff ich – oder aber irgendwer hatte mich darauf gebracht – dass das Grab nicht von ungefähr bereits im Voraus gegraben gewesen war. Die Totengräber hätten, nachdem wir gegangen waren, das Grab wieder öffnen, den Sarg herausheben und meinen Vater auf einen dieser Leichenhaufen werfen können. Das Grab hätten sie dann für Geld für eine andere kurzzeitige Beerdigung wieder verwenden können. So machten sie es wahrscheinlich tagein tagaus. Diese Menschen – oder besser gesagt Unmenschen! – haben sich wahrscheinlich an dem Leid vielen Leningrader eine goldene Nase verdient.

Meine Mutter litt sehr. Ständig wiederholte sie: „Ich kann ohne unseren Vater nicht leben“. Doch das Leben ging weiter. Meine Mutter nähte zu Hause – wie auch viele andere Frauen damals — für ihren Betrieb Uniformen für die Soldaten an der Front. Ich half ihr mit allem, was ich konnte.

Zum Ende des Frühjahrs beschloss die Stadtregierung eine sehr unangenehme, jedoch die einzig richtige Maßnahme. Alle sollten sich an der Bereinigung der Stadt beteiligen. (andernfalls hätte der Ausbruch von Epidemien gedroht).

Alle sollten bei der Säuberung der Straßen und Hinterhöfe mithelfen. Da meine Mutter körperlich bereits völlig entkräftet und für diese Arbeit nicht mehr in der Lage war, ging ich an ihrer statt, um die 3. Sowjetische Straße zu säubern. Außerdem zerschlug ich die gefrorenen Fäkalien auf unserem Hof mit einer Eisenstange.

Mitte April fuhren wieder die ersten fünf Straßenbahnlinien und es wurden einige öffentliche Badehäuser eröffnet. Das war eine solche Freude! Ich und mein Freud gingen in das Badehaus in der 1. Sowjetischen Straße und wuschen einander die Rücken mit warmem Wasser, das auch nur unter sehr geringem Druck in der Badestube ankam. Die Menschen gewannen ihr Selbstvertrauen zurück. Wir hatten einen so furchtbaren Winter überstanden und hofften nun, dass alles besser werden wird.

In den Geschäften bekam man nun regelmäßig die Lebensmittel, die einem auf die Marken hin zustanden. Es gab jetzt auch neue Waren, die den meisten von uns bis dahin völlig unbekannt waren. Ich spreche von Melange – einem Eipulver, sowie von einer besonderen Art von ausgelassenem Schweinespeck, lard – wie die Engländer sagen — und vieles andere. Die meisten dieser Lebensmittel waren ins Land und insbesondere nach Leningrad dank einiger Hilfsaktionen der Alliierten gebracht worden.

In den Betrieben wurden für besonders entkräftete Arbeiter spezielle Essensmarken für eine gesonderte Verpflegung über einen Zeitraum von 20 Tagen ausgegeben. Ab dem 1. Mai erhielt auch meine Mutter diese besonderen Essensmarken. Dieses Verpflegungsprogramm wurde im Restaurant „Moskau“ organisiert.

Nach den Maifeiertagen begann für mich die dritte und – wie sich herausstellte – letzte Schulperiode für dieses Jahr. Diese letzten Wochen unterschieden sich hauptsächlich dadurch, dass den Schülern die Möglichkeit geboten wurde, für 4 Kopeken eine Suppe zu kaufen. (Es war einfach nur heißes Wasser, in dem ein Löffel von etwas Mehligem aufgelöst war). Doch wir waren alle sehr froh über dies Suppe.

Meine Mutter hatte sich nur etwa 4 oder 5 Tage in das Restaurant begeben. Wegen der neuen und für damalige Verhältnisse üppigen Verpflegung, brach bei ihr ein Durchfall aus, in den Blut gemengt war und den niemand mehr stoppen konnte. Ich brachte meiner Mutter das Essen nach Hause, doch sie kam schon nicht mehr zu Kräften. Am 13. Mai morgens begann sie zu röcheln und versuchte mir irgendetwas zu sagen, doch sie schaffte es nicht mehr. Gegen 12 Uhr Mittag war sie dann schon verstorben. Ich war ganz allein in der Wohnung. Ich klopfte an die Wand er gegenüberliegenden Wohnung. Sofort kamen meine Tante und mein Cousin gelaufen. Doch wie hätten sie mir helfen können? Ich brach das erste Mal, seitdem der Krieg begonnen hatte, in Tränen aus. So war ich also Waise geworden.

Nach 2 Tagen kam ein Auto. Ich wickelte meine Mutter in ihr bestes wollenes Kleid ein – obwohl man mir gesagt hatte, dass man es ihr sowieso wieder abnehmen wird – und wir brachten meine Mutter auf den Piskarewskij-Friedhof, der zu diesem Zeitpunkt noch kein Gedenkfriedhof war. Dort waren gewaltige Gräben für Massengräber ausgehoben. Jedes Jahr am 13. Mai bin ich auf den Friedhof gefahren und habe auf der Marmorplatte eine Rose niedergelegt. Meine Mutter hieß Rosa.

Nach dem Tod meiner Mutter zog ich zu meiner Tante und versuchte ihr in allem behilflich zu sein. Einige Zeit noch (bis zum 20. Mai) ging ich ins Restaurant „Moskau“ und aß mich dort dank der Marken meiner Mutter so gut es ging satt. Im Frühjahr wurde die Stadt wieder stärker von der Artillerie beschossen.

Am 16. oder 17. Mai kehrte ich gegen 5 Uhr abends aus dem Restaurant nach Hause zurück. Ich ging den Newskij Prospekt entlang, auf der Seite mit den ungeraden Hausnummern in Richtung Moskauer Bahnhof. In dieser Zeit bogen die Straßenbahnlinie 12 und 13 vom Ligovskij Prospekt kommend auf den Newskij ab. (Der Straßenbahnverkehr auf dem Newskij-Propekt wurde 1949 eingestellt). Ein ganzer Straßenbahnzug – er war voller Menschen — war von einem Geschoss getroffen worden. Ich half die Menschen aus den Trümmern der Straßenbahn zu befreien und die Verletzten auf den Bürgersteig zu zerren. In der Nähe war eine Apotheke. Es bot sich mir ein grausames Bild, was ich mein ganzes Leben nicht vergessen kann. Der Newskij Prospekt war an dieser Stelle zu einem richtigen Meer aus Blut geworden.

Meine Tante war eine praktisch veranlagte Frau. Sie bat mich nach Kräutern (Brennnessel und Melde) zu suchen. Daraus kochte sie dann eine Suppe. Ach, was haben die geschmeckt – ihre Suppen! Es waren die ersten frischen Vitamine in diesem Jahr. Im Winter — auch als mein Vater bereits krank darniederlag — hat uns die Frage nach Geld überhaupt nicht interessiert. Wo sollten wir das Geld auch ausgeben? Für diese kleine Ration an Lebensmittel, die wir ergattern konnten? Dafür reichte auch ein sehr kleines Einkommen. Doch nun hatte meine Tante ja auch noch mich am Hals.

Eines Tages hatte ich zwei ganze Koffer mit den besten – wie mir schien – Büchern zusammengesammelt und mich zum Newskij-Prospekt aufgemacht. Dort setzte ich mich auf die Stufen des Hauses Nummer 58 (nach dem Krieg befand sich dort das Haus für Wissenschaftlich-technische Propaganda) und begann meine Bücher zu verkaufen. Es kamen aber nur wenige Interessierte. Die meisten von ihnen waren Soldaten. Trotzdem nahm ich etwas Geld ein.

Nachdem meine Mutter gestorben war, hatten wir damit begonnen, auf die Lebensmittelmarken, die auf meinen Namen ausgestellt waren, das Brot für einen Tag im Voraus zu erbeten. Doch plötzlich weigerte sich die Verkäuferin, uns das Brot zu verkaufen bis ich nicht die Marken für den laufenden Tag abgebe. Wir mussten also etwas tun. Wir entschieden uns, ein Brot bei einem Spekulanten zu kaufen und kratzen deshalb alles Geld, was wir hatten, zusammen. Über einen Bekannten hatte meine Tante erfahren, wo man auf einen Mittelsmann treffen konnte. Ich fuhr zu einem Haus an der Ecke Sadowaja-Straße – Prospekt der Majoren (jetzt Voznesenskij-Prospekt). Ich traf mich mit diesem Menschen und bekam ein ganzes Brot. Allerdings musste ich ihm ganze 400 Rubel dafür hinblättern. Ich war sehr zufrieden und machte mich auf den Heimweg ohne zu merken, dass ich auf dem Weg nach Hause langsam aber sicher ein Stück nach dem anderen vom Brot abbrach und in den Mund steckte. Als ich es dann plötzlich realisierte, begann ich das zweite Mal seit Kriegsbeginn zu weinen. Es war mir sehr peinlich. Wie sollte ich nun vor meine Tante treten? Sie hatte für mich so viel Geld zusammengesammelt und ich, Trottel, hatte es einfach so aufgegessen. Meine Tante hatte jedoch ein Nachsehen mit mir.

Ilja arbeitete in einer Molkerei (ich habe vergessen, in welcher — Nr.2 oder Nr.3). Den ganzen Winter war sie geschlossen gewesen. Erst im Frühjahr, als wieder irgendwelche Zutaten geliefert werden konnten, wieder Strom produziert wurde und die Wasserversorgung wieder in Gang kam, wurde unter der Leitung von Ilja, der in diesem Augenblick der einzige Ingenieur und Technologe in diesem Betrieb war, die Produktion wieder aufgenommen und einige Lebensmittel auf der Grundlage von Trockenmilchpulver hergestellt.

Im Mai eröffnete man dann auch die Schifffahrt über den Ladogasee und es begann die 3. Etappe der Evakuierung der Bevölkerung. Die Stadtregierung hatte beschlossen, dass alle Frauen mit kleinen Kindern aus der Stadt zu bringen seien und auch der Teil der Bevölkerung, der nicht in der Lage war, für die Verteidigung der Stadt zu arbeiten. Dazu zählte auch ich. In der Hausverwaltung hatte man mich schon mehrmals darauf hingewiesen, dass es notwendig sei, sich evakuieren zu lassen. Man muss dazu sagen, dass ich mich nicht allein hätte evakuieren lassen können, da ich noch nicht volljährig war. Man schlug mir vor, mich einer Berufsschule oder einem Waisenhaus anzuschließen. Das gefiel mir aber nicht, und ich wusste nicht, was ich tun sollte.

Vor dem Krieg fiel mir das Lernen in der Schule leicht. Darüber hinaus besuchte ich an den Nachmittagen einige Zirkel in der Schule, insbesondere den Literaturzirkel. Ich hatte ein sehr gutes Verhältnis zu der Leiterin des Zirkels, zu Zoja Alexejewna (Sie war auch die Leiterin der Schulbibliothek). Ich kann mich leider nicht mehr an ihren Familiennamen erinnern.

In diesen Tagen trafen wir uns einmal zufällig auf der Straße. Ich habe ihr alles erzählt, was mir in den letzten Monaten zugestoßen war. Sie entgegnete mir, dass sie kürzlich einen Schriftsteller von der Armee getroffen habe, der solche Jungs wie mich, die ihre beiden Eltern verloren haben, sucht, damit sie ihm bei seiner Arbeit behilflich sind. Zoja Alexejewna gab mir seine Adresse. Der Schriftsteller logierte im Hotel „Astoria“. Ich bin zu ihm gegangen, und wir machten einander bekannt. Dieser Mann war der zukünftige, bekannte sowjetische Dramaturg Alexander Stein, der Autor der Theaterstücke „Ozean“, „Hotel Astoria“ und vieler anderer. Zu diesem Zeitpunkt trug er eine Marineuniform und arbeitete in der Redaktion der Zeitschrift „Rote Flotte“. Wir haben mit ihm den ganzen Abend zusammengesessen. Er hat mich nach allem ausgefragt und mir auch etwas zu Essen angeboten. Zum Abschied gab er mir ein für die damalige Zeit sehr kostbares Geschenk – ein Bund Zwiebeln. Am nächsten Abend trafen wir uns wieder und redeten über meine Zukunft. Zunächst ging es dabei darum, mich in eine Partisaneneinheit zu schleusen. Da ich jedoch völlig unterernährt war — man hatte bei mir Dystrophie des 2. Grades diagnostiziert — wurde diese Variante bald verworfen. Etwa zeitgleich in diesen Tagen bekam ich aber auch einen Brief von meinem Bruder, der mir schrieb, dass er zur Neugliederung seiner Einheit gerade in Wologda weilt.

Ich berichtete davon Alexander Stein, und er versprach mir, dass er mir helfen würde, die nötigen Papiere zu beschaffen, die es mir erlauben würden, selbständig nach Wologda zu fahren, um mich dort in die Armee zu integrieren. Wir verabredeten unser letztes gemeinsames Treffen. Als ich deshalb zu ihm kam, sah ich, dass eine junge Frau in seinem Zimmer saß. Ich war sehr verwundert, denn es war die damals schon überall bekannte Dichterin Olga Bergholz. Alle, die wir die Blockade durchlebt haben, kannten ihren Namen. Sie trat oft im Radio auf und zitierte ihre unvergleichlichen Gedichte. Für mich, einen 14 jährigen Jungen, hat sich dieser Abend für immer in meinem Gedächtnis eingeprägt. Wir saßen zu dritt zusammen, tranken Tee und redeten. Alexander Petrowitsch gab mir die nötigen Briefe an das Wehrkommando in Wologda und wir nahmen herzlich Abschied von einander.

Als ich dann viel später erfuhr, dass die Aufschriften auf den Gedenktafeln auf dem Piskarjewskij-Friedhof unter anderem mit Texten von Olga Bergholz angefertigt worden sind, empfand ich wohlige Genugtuung. Damals, 1942, hatte sie das „Tagebuch eines Februar“ und das „Leningrader Poem“ verfasst.

Alexander Stein begegnete ich noch einmal im Jahre 1974, im Januar, auf einem Gedenkabend zum 30. Jahrestag der Beendigung der Blockade. Er hat sehr herzlich mit mir gesprochen und mich mit der Schriftstellerin Vera Ketlinskaja bekannt gemacht, die den Abend moderierte. Olga Bergholz war zu diesem Zeitpunkt schon sehr krank und ist im darauffolgenden Jahr dann auch gestorben.

Im Verlaufe von etwa 2 Wochen bereitete ich mich auf die Evakuierung vor. Fast zeitgleich mit den Dokumenten, die mir Alexander Stein gegeben hatte, bekam ich auch vom Wehrkommando in Wologda die Erlaubnis in die Stadt einzureisen. Darum hatte sich mein Bruder gekümmert. Auf Grundlage all dieser Papiere stellte man mir die notwendigen Evakuierungsdokumente und einen Passierschein für Wologda aus. (Eine Evakuierung nach Wologda, war grundsätzlich nicht erlaubt, deshalb brachte man für die Stadt einen besonderen Passierschein).

Ich stellte eine Liste mit allen Dingen, die ich in der Wohnung zurückließ, zusammen. Diese unterschrieb dann der Hausverwalter, der dann auch in meinem Beisein die Wohnung versiegelte. Zum Tausch für meine Lebensmittelkarten bekam ich für die Verpflegung unterwegs andere Marken und auch eine kleine Tüte mit Lebensmitteln.

Am 28. Juli stieg ich, nachdem ich mich von meiner Tante Chasja und Ilja verabschiedet hatte, auf dem Moskauer Bahnhof in einen Zug, der über den Eisenbahnring auf die Landenge von Karelien zufuhr. Die Endstation war BorisowGriw. Von dort wurden wir mit Autos bis an die Bootsanlegestelle Osinowez gebracht, wo schon zwei Fährschiffe auf uns warteten – ein großes und ein kleines. Das kleine Fährschiff hat es nicht bis ans andere Ufer geschafft. Es wurde von den deutschen Flugzeugen bombardiert. Das große Schiff jedoch brachte uns bis an die Anlegestelle Kobona, die sich am südöstlichen Ufer des Ladogasees befand.

Ephraim Moiseewitsch Steinbock 2008.

Hier bekamen wir alle ein Mittagessen und wurden in einen Güterwagen verfrachtet, der uns in Richtung Osten bringen sollte. An fast allen großen Bahnhöfen auf der Strecke nach Wologda hatte man besondere Verpflegungspunkte eingerichtet, wo wir auf sehr üppige Weise mit sehr fettem Essen versorgt wurden. Dies stellte sich jedoch als ein „Bärendienst“ für die Leningrader heraus, denn viele starben auf der Fahrt, da ihr völlig entkräfteter Organismus das plötzliche schwere, fette Essen nach so vielen Monaten des Hungers nicht verarbeiten konnte. Für mich war damit die Blockade beendet.

P.S.: Mein Cousin Ilja wurde im Herbst 1942 dann doch noch zur Armee eingezogen. Im Sommer 1943 ist er an der Front gefallen. Meine Tante Chasja konnte lange Zeit nicht an seinen Tod glauben und lehnte noch viele Jahre nach den Krieg staatliche Zuwendungen, die ihr als Mutter eines gefallenen Rotarmisten zustanden, ab.

Der Blockadering wurde durch die sowjetische Armee am 18. Januar 1943 durchbrochen. Doch erst am 27. Januar 1944 wurde die Blockade ganz aufgehoben. Während der Blockade starben – nach unterschiedlichen Angaben – von 700 Tausend bis 1 Million Menschen. (Unter ihnen zwei meiner Klassenkameraden – VitjaDudin und Jura Schmidow).

Calgary 2011.

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

Comments (login)