10 Dezember 2014| Stupnikowa Tatjana Sergejewna, Dolmetscherin

Erinnerungen eines Dolmetschers

Tatjana Stupnikowa

Tatjana Stupnikowa

Im Gefängnis

Am nächsten Morgen nach unserer Ankunft in Nürnberg brachte uns ein alter sowjetischer Bus an den Ort, an dem wir die nächste Wochen und Monate arbeiten sollten. Es was das finstere und massige Gebäude des Justizpalastes in der Fürther Straße. Es war gemeinsam mit dem durch einen unterirdischen Gang mit ihm verbundenen Gefängnis wie durch ein Wunder heil geblieben in dem sonst ganz in Trümmer versunkenen Nürnberg. Es waren nur einige Ausbesserungsarbeiten von Nöten, um 1946 in diesem Gebäude wieder Recht zu sprechen.

An meinem ersten Tag in Nürnberg war ich so aufgeregt, dass ich wie in einem Traum durch das eiserne Tor in der massiven Steinmauer trat, die den Justizpalast von der breiten und  geraden Fürther Straße abschirmte, ohne um mich herum überhaupt irgendetwas wahrzunehmen. Ich folgte gehorsam den anderen Dolmetschern, die schon früher angereist waren und denen es deshalb schon gelungen war, sich in diesen unendlichen Labyrinthen des Justizpalastes einigermaßen zurechtzufinden. Wegen meiner Aufregung, die offensichtlich damit zusammenhing, weil ich mir bewusst war, was es für ein bedeutendes Ereignis für mich in meinem kurzen, erst zweiundzwanzig Jahre zählenden Leben, eigentlich war, dass ich hier dabei war, vergaß ich sofort wieder den Weg, den wir vom Bus aus bis in die Arbeitsräume der Sowjetischen Delegation zurückgelegt hatten, was dann später – man kann es so sagen – zu einem tragischen Ende meines ersten Arbeitstages im Nürnberger Justizpalast geführt hat.

Es war nämlich so, dass die Synchrondolmetscher nach Beendigung der Gerichtsverhandlung gewöhnlich in dem gleichen Bus in die Villen am Stadtrand, die man ihnen zugeteilt hatte, zurückgebracht wurden, wenn nicht bei den schriftlichen Übersetzern irgendein Notfall eingetreten war und es nötig war, diesen bei einer dringenden Übersetzung zu helfen. Was uns Neue betraf, sah unser erster Arbeitstag so aus: Wir wurden den Leitern vorgestellt und mit den Bedingungen und den Abläufen unserer Arbeit vertraut gemacht, wir erhielten die nötigen Passierscheine und noch einige andere Formalitäten wurden erledigt.

Ganz in Gedanken versunken – ich war das erste Mal in diesem Justizpalast, deshalb ging mit viel durch den Kopf – saß ich am Schreibtisch und bemerkte nicht, dass meine Kollegen den Raum schon verlassen hatten und zum Bus gegangen waren, der außerhalb des Geländes auf uns wartete.

So musste ich also selbst den Weg zum Ausgang suchen. Diese, man sollte meinen, eigentlich einfache Aufgabe, schien mich aber völlig zu überfordern. Als ich aus dem Arbeitszimmer heraustrat, sah ich keinerlei Hinweisschilder und ging einfach meiner Intuition folgend durch die endlosen Korridore, Übergänge und Treppen. Alle meine Versuche, einen Ausweg aus dem Labyrinth zu finden, scheiterten letztendlich. Ich konnte auch niemanden fragen, denn es war dort keine Menschen Seele. Als ich begriffen hatte, dass ich mich verlaufen hatte, legte ich einen Schritt zu. Der Gedanke daran, dass der Bus ohne mich abfahren könnte und dass ich – in einer fremden Stadt, ohne einen Pfennig Geld und ohne eine genaue Adresse zu haben – mit Sicherheit nicht bis zur Nacht zu meiner neuen Unterkunft gelangen werde oder vielleicht auch überhaupt nicht dorthin gelange, brachte mich der Verzweiflung nahe.

Und so habe ich, die ich noch vor nicht zu langer Zeit an der Front Kundschafterin war, die Orientierung verloren. Daraufhin bin ich die langen Korridore, in denen es weder Fenster noch Türen gab, nicht mehr entlanggegangen, sondern vielmehr entlanggelaufen. Als ich dann plötzlich eine besondere Kälte spürte, begann ich mir Hoffnungen zu machen, dass ich dem Ausgang nun doch endlich näher gekommen sei und so also auch dem Bus.

Am Ende eines Übergangs gab es eine Tür ohne Aufschrift. Ich schob sie etwas auf und im selben Augenblick befand ich mich in der Hand von zwei gewaltigen Soldaten, die von der amerikanischen Militärpolizei – von der military police oder abgekürzt MP – waren. Diese, ohne auch nur ein Wort zu sagen, ergriffen mich unter den Armen und führten mich irgendwohin und stießen mich in einen Raum mit vergitterten Fenstern.

Ich war also festgenommen, denn die zwei schlossen die Tür hinter sich ab. Ich war also ins Gefängnis geraten. Dieser Gedanke schlug wie ein Blitz bei mir ein und verschlug mir die Sprache. Zweifel daran gab es keine. Die mir gut bekannten Gefängnisfenster, die ich aus der Moskauer Butyrka-Haftanstalt kannte, wo ich meinen Vater oft besucht hatte, sehen in allen Ländern gleich aus. Ihr wichtigstes Element ist das Gitter.

Von irgendwo innen erfasste mich ein alles in sich aufsaugendes Gefühl der Angst, das mir die Kehle zuschnürte. Es würgte mich regelrecht und im Kopf schwirrten allerlei Gedanken umher, die mich erschrecken ließen. Was wird die amerikanische Gefängnisaufsicht sagen? Wie soll ich denen in meinem eher deutschen Englisch erklären, wie ich in das Gebäude gelangt war, das zu betreten – so wie es überall in der Welt üblich ist — zu jeder Zeit ohne eine besondere Erlaubnis strengstens verboten war?

Doch noch furchtbarer erschien mir eine andere Gefahr, die nicht nur mir, sondern auch meinen Angehörigen in Moskau drohen würde. Man kann sie mit einem kurzen Wort benennen, das jedem sowjetischen Bürger jener Zeit sehr wohl bekannt war – „GULAG“.

Diese Gefahr bestand ganz reell, denn in meinem Fall hätte man es als ein „heimliches“ Treffen mit Ausländern deuten können, das von den sowjetischen Sicherheitsdiensten nicht vorgesehen war. Und dann noch innerhalb jenes Gefängnisses, in dem die führenden Naziverbrecher inhaftiert waren. Für einen sowjetischen Untersuchungsrichter der 40-iger Jahre lag der Tatbestand eines Verbrechens ganz einfach auf der Hand und es bedurfte keinerlei weiterer zusätzlicher Beweise.

Es reichte aus, mich als einen amerikanischen Agenten oder einen Kundschafter der Nazis zu bezeichnen, da solche ohne Zweifel immer noch in der Amerikanischen Zone am Wirken waren.

Eine solche Entwicklung der Ereignisse schien mir unvermeidlich. Zumal Millionen von meinen Mitbürgern hätten bestätigen können, dass meine Befürchtungen ganz real waren und sie keinen Hirngespinsten entsprungen sind. Ich saß also nun auf einem Stuhl, wenn auch noch nicht in einer Zelle, so doch in einem Gefängniszimmer, und stellte mir unaufhörlich immer die gleiche Frage: „Verdammt! Warum bin nur ich, die Tochter von so gutmütigen, ehrlichen und von mir so unendlich geliebten „Feinden des Volkes“, in dieses verfluchte Nürnberg gefahren? Und immer wieder gab ich mir ein und dieselbe Antwort: Man hat es mir befohlen. Und es war nicht irgendeine Ratte vom Stab, sondern der Stellvertreter von Beria selbst — General Serow.

Diesen finsteren Gedanken ganz erlegen, verbrachte ich wahrscheinlich einige Minuten, die mir aber als eine Ewigkeit erschienen. Plötzlich ging die Tür auf und in Begleitung eines amerikanischen Offiziers und der beiden mir schon bekannten MPs betrat – vielmehr stürzte — unser Dolmetscher Kostja in den Raum.

„Endlich habe ich dich gefunden!“ – waren seine ersten Worte, die wir dann so oft einander immer wieder wiederholten. Meine neuen Kollegen hatten nämlich bemerkt, dass ich nicht da war und haben Alarm geschlagen und sofort Konstantin damit beauftragt, sich nach der verschwundenen Dolmetscherin auf die Suche zu machen. Sie selbst haben geduldig im Bus auf uns gewartet.

Alle meine Ängste stellten sich als haltlos heraus. Dieses Mal ging alles glimpflich ab! Diese Geschichte hatte sogar ein glückliches Ende, was wohl innerhalb von Gefängnismauern nicht so oft vorkommt. Kostja hatte dort nämlich nicht nur eine Dolmetscherin gefunden, die sich verirrt hatte, sondern auch seine zukünftige Ehefrau und ich einen interessanten und klugen Begleiter an meiner Seite für viele Jahre in meinem Leben!

Der Passierschein  

„Wenn man langsamer fährt – kommt man weiter“ – sagen meine Landsleute. „Eile mit Weile“ – sagt man in Deutschland. In meinen Gedanken bin ich schon im Justizpalast, doch noch immer nicht im Gerichtssaal, wo das Internationale Militärtribunal zusammenkommen soll. Darüber wird es später noch gehen. Es wird auf alle Fälle zusammentreten. Als Garantie dafür dienen zwei Passierscheine, die ich einer großen Ledertasche entnehme, in der ich nun schon 50 Jahre lang einige Dinge aufbewahre, die bezeugen können, dass ich damals wirklich in Nürnberg gewesen bin.

Die beiden Passierscheine sind zwei Pappkarten. Eine ist hellblau mit einem Foto in der rechten Ecke, von dem mich völlig konzentriert und ernsthaft ein junges Mädchen anschaut, mit einer schwarzen Schiefertafel auf der Brust. Auf der Tafel sind mit Kreide in lateinischen Druckbuchstaben mein Vorname und mein Nachname geschrieben. Dieses Dokument gab seinem Eigentümer das Recht, den Justizpalast zu betreten.

Das andere Kärtchen ist braun und ohne Foto, jedoch mit einer strengen Warnung auf der Rückseite versehen, die dort in vier Sprachen geschrieben steht: „Der Eigentümer dieses Passierscheines hat Zutritt zur verbotenen Zone und zum Gerichtssaal. Im Falle, dass irgendwelche Regeln, die das Internationale Militärtribunal aufgestellt hat, – sie mögen sowohl zu diesem Zeitpunkt gültig sein oder aber auch erst zu einem späteren Zeitpunkt erlassen werden —  verletzt werden, kann der Passierschein auf immer oder für eine bestimmte Frist entzogen werden“.

Diese beiden Dokumente mussten am Eingang in das Gebäude des Justizpalastes und am Eingang zum Gerichtssaal vorgezeigt werden, wo die amerikanische Militärpolizei – Military Police das uneingeschränkte Kommando hatte. Strengste Kontrolle war also somit gewährleistet. Ich kann jedoch zwei besondere und in ihrer Art eher komische Begebenheiten nicht vergessen, die zu erzählen ich mich nun anschicke. Der Titel dieser Erzählung soll „Zwei Hunde“ sein.

Zwei Hunde

Einer der zu diesem Prozess akkreditierten Korrespondenten – ich weiß nicht mehr, ob es ein französischer war oder ein englischer, auf alle Fälle kein sowjetischer —  hatte aller Wahrscheinlichkeit nach entschieden, dass es ihm ohne große Mühe gelingen wird, auch die aufmerksamste Wachtmannschaft auszutricksen, denn er hatte auf seinen Passagierschein das Foto seines geliebten Mopses geklebt, dem er eine sportliche Mütze aufgesetzt und eine Krawatte umgebunden hatte.

Mit diesem Passierschein ist der Korrespondent ohne irgendwelche Schwierigkeiten an der Kontrolle vorbei gegangen und saß zum Beginn der Verhandlung im Gerichtssaal. Mir ist es nicht bekannt, welche Wette er auf diese Weise gewinnen wollte, doch alle Bekannten (seine und auch die des Mopses) bestätigten, dass es hierbei nicht darum ging, die Aufmerksamkeit des Wachtpersonals zu testen. Es war vielmehr so, dass dieser Korrespondent und sein Mops, wie es oft vorkommt bei Hunden und ihren Herrchen, einander sehr ähnlich sahen.  Sie waren wie aus einem Gesicht geschnitten! Deshalb braucht man auch nicht an der Zuverlässigkeit der amerikanischen Wachtmannschaft zu zweifeln. Zumal man auch sagen kann, dass sich kein anderer gewagt hat, diesen Trick auszuprobieren.

Der eigentlich Störenfried und Ruhestörer im zweiten Fall war eine riesige Dogge, eine weiße mit schwarzen Flecken. Ihr Herrchen hatte sich zur Vormittagsverhandlung des Tribunals verspätet und hatte deshalb in der Eile die Tür zu seinem Hotelzimmer nicht verschlossen, was sich sein treuer vierbeiniger Freund zu Nutze machte. Er folgte seinem Herrchen bis in den Justizpalast und passierte erfolgreich den ersten Kontrollpunkt am Eingang es Gebäudes. Weiter lief er über Korridore und Treppen und konnte, ohne sich zu verlaufen (nicht so wie so einige andere), die nötige Richtung finden und so auch bis zum Gerichtssaal gelangen.

Niemand tat etwas, oder besser gesagt niemand wagte es, diesen stolzen Aristokraten – einen Vertreter einer alten englischen Rasse – aufzuhalten. Die Wachtleute erlaubten es sich, ihn schweigend zu begleiten, wobei sie immer einen bestimmten Abstand bewahrten. Den Hund auf seinem Weg zu seinem Herrchen aufzuhalten, hätte sie das Leben kosten können.

Es ist nicht bekannt, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn nicht zum Glück die amerikanischen MPs den Chef der Wachtmannschaft unterrichtet hätten, denn diesem war es wie durch ein Wunder gelungen im Gerichtssaal den Eigentümer des Hundes ausfindig zu machen. In dem Augenblick, als die Dogge bereits ihre Pfote auf den massiven Türendrücker gelegt hatte und drauf und dran war, in den Gerichtssaal einzudringen, hat ihr erschrockenes Herrchen diese im höflichen Ton aber mit Nachdruck daran gehindert.

Ehre gebührt der Wachtmannschaft der USA aber auch dem Hund. Die Situation war gerettet, das Tribunal wurde fortgesetzt, als ob nichts geschehen wäre. Im Saal hatte niemand die Aufregung hinter einer der Türen bemerkt.

Von der Arbeit der Wachtmannschaft   

Um der Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass die Arbeit der amerikanischen Wachtmannschaft sehr selten als Grundlage für eine lustige Erzählung dienen konnte. Den Justizpalast und das Gefängnis, die Teilnehmer des Prozesses und natürlich die Hauptpersonen, die Angeklagten, zu bewachen, war keine leichte Aufgabe.

Ich erinnere mich noch, wie während meiner Schicht als Dolmetscher einer der Wachtmänner, der ohne sich auch nur zu regen da gestanden hatte – die Hände hinter dem Rücken verschränkt, in Reih und Glied mit den anderen amerikanischen Soldaten, die die Angeklagten bewachten — plötzlich hinter einer Holzbarriere verschwand. Die Sitzung des Gerichtes wurde nicht unterbrochen. Sie setzte ihre Arbeit fort, als ob nichts geschehen wäre. Man konnte nur ahnen, wie dieser Soldat, der scheinbar in Ohnmacht gefallen war, bis zu der nächsten ordnungsgemäßen Pause in diesem schmalen Durchgang zwischen der Wand des Saales und der Holzbarriere, die die Anklagebank umgab, gelegen habe muss und das noch zu Füßen seiner Kammeraden.

Eine andere Episode, die mir im Gedächtnis geblieben ist, hat den Leiter der Wachtmannschaft, den Oberst Andrews, Blut und Wasser schwitzen lassen. Im Endeffekt stellte sich alles als Fehlalarm heraus. Einmal im Sommer sind uns, als wir zur Arbeit gekommen sind, vor der Steinmauer des Justizpalastes amerikanische Soldaten, die mit Maschinengewehren bewaffnet waren, aufgefallen. Die gesamte Wachtmannschaft war in Alarmbereitschaft versetzt worden. Aus einem Lager ganz in der Nähe waren – wie erzählt wurde – inhaftierte SS-Männer entflohen, die angeblich nicht vorhatten, die Hauptleute der Hitlerbande zu befreien, sondern, ganz im Gegenteil, sich an ihnen für den verloren Krieg zu rächen. Vielleicht waren es nur Gerüchte, da nichts dergleichen geschah, wenn man mal davon absieht, was für sensationelle Befürchtungen dieses Vorkommnis zunächst in den ausländischen Zeitungen und Zeitschriften der damaligen Zeit ausgelöst hat und in der Folge auch in den Erinnerungen einiger derer, die an dem Gerichtsprozess teilgenommen haben.

Doch nicht immer endete alles immer so glimpflich für die Wachtmannschaft und schon  gar nicht für ihren Chef. Es ist bekannt, dass sich bereits vor Beginn der Gerichtsverhandlung der Reichsleiter der Arbeitsfront, einer der bestialischsten Nazis, Robert Ley in seiner Zelle aufgehängt hat. Dieser Vorfall führte dazu, dass die Gefängniswachen verstärkt wurden und dass jeder Angeklagte von nun an rund um die Uhr bewacht wurde. Na und? Das hat Göring nicht daran gehindert, in der Nacht vor seiner Hinrichtung eine Ampulle mit Zyankali zu zerbeißen.

Es bleibt nur noch, hinzuzufügen, dass viele von den Jungs der Wachtmannschaft, die mit den Angeklagten zu tun hatten, deutsch sprachen und während der Pausen im Gerichtssaal in der Regel sehr aufmerksam deren Gespräche untereinander belauschten. Das gehörte zu ihren Aufgaben.

 

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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