25 September 2013| Starikova Iraida Vassiljevna (übersetzt von Lebedeva Julia)

Eine Bekanntschaft im Lazarett

Iraida Vassiljevna Starikova

Stepan Andrejewitsch hatte eine schwere Verwundung. Wegen der Bombenangriffe wurde er sehr lange von der Front bis zum Lazarett transportiert, die Zuege verspaeteten sich, und er bekam ein Gangraen. Das Bein schwoll schrecklich an, von den Zehen bis zum Knie.

Die Aerzte beschlossen einstimmig: Unverzuegliche Beinamputation. Stepan Andrejewitsch lehnte eine Amputation rundweg ab und verteidigte seinen Entschluss sehr heftig. Zu jener Zeit kam eine Kommission ins Lazarett, die ein General des Sanitaetsdienstes leitete. Der Laerm weckte seine Aufmerksamkeit und er ging in den Operationsraum. Als er erfuhr, was war los und warum der Kranke so tobte (und Stepan Andrejewitsch schrie inzwischen: „Besser sterben, als ohne Bein bleiben“), meinte General: „Na, dann hab` Geduld!“. Es wurde ihm dreimal eine Bluttransfusion gemacht. Man schnitt das Bein von beiden Seiten des Unterschenkels auf, reinigte die ausgeschnittenen Wunden und machte dann eine Bluttransfusion. Das Bein wurde gerettet, eingegipst, und er blieb in diesem Lazarett noch etwa drei Monate.

Ich hatte ausser meiner Hauptarbeit noch den Auftrag, zwei Stunden nach meiner Arbeit in der Bibliothek zu bleiben und den nicht bettlaegerigen Kranken Buecher auszuleihen. Den schweren Kranken musste ich die Buecher in den Krankensaal bringen, wenn es dort keine Kranken gab, die gehen konnten.

Als ich Stepan Andrejewitsch zum ersten Mal sah, war er schon kein bettlaegeriger Kranker mehr, er konnte sich schon allmaehlich bewegen, nur aus dem Krankensaal kam er noch nicht. Und einmal wurde ich gebeten, ihm Buecher zu bringen.

Als man ihn fragte, welches Buch er moechte, antwortete er:

— Shakespeare.

In der Bibliothek gab es keinen Shakespeare, aber ich hatte mein eigenes Buch, riesig dick, mit grauem Einband, das ich – stellen Sie sich vor, wie dumm – oft mitnahm.

Und ich sagte:

— In der Bibliothek gibt es kein Buch, aber ich habe mein eigenes.

— Bringen Sie es mir.

Ich brachte ihm das Buch. Er las es durch — ich habe schon vergessen wie schnell, und als er es durchgelesen hatte, bat er mich durch Freunde, dass ich es abholen komme. Und als er mir das Buch zurueckgab, legte er vor meiner Augen einen viermal gefalteten Zettel hinein.

— Und das, sagte er, lesen Sie.

Den Zettel gleich wegzuwerfen, war mir peinlich, also musste ich ihn nehmen. Dann eilte ich in den Desinfektionsraum, rannte die Treppe hinunter, las den Zettel und empoerte mich sehr ueber seinen Inhalt. Ich glaubte, dass dieser Mann viel aelter als ich war, so um die dreissig Jahre und vielleicht sogar mehr. Also hoechstwahrscheinlich verheiratet und mit Familie. Wie konnte er es nur wagen, mir solche Sachen zu schreiben! Im Brief stand, dass er aus der Ukraine stammt, seine Eltern und Verwandte unter der Okkupation sind, dass er sich sehr einsam fuehlt und mich sehr gerne hat, und sich mit mir befreunden will. Ungefaehr so, genauer kann ich mich nicht erinnern, was da woertlich stand. Womit habe ich nur das verdient?!

Es beleidigte mich dadurch, dass er doch – wie ich damals glaubte – ein aelterer Mann war und mir so etwas schrieb. Und ich hatte doch einen guten Ruf. Es genuegt, einen Vorfall zu erwaehnen.

Ausser der ehrenamtlichen Arbeit in der Bibliothek leitete ich abends im Lazarett einen Zirkel, so etwas wie einen Quizabend. Einmal sammelte ich Zettel mit Fragen ein, die darauf geschrieben waren, und organisierte so ein Quiz. Alle Kranken, die gehfaehig waren, kamen nach dem Abendessen in den Saal. Im Prinzip war es recht unterhaltsam. Aber dann kam die Anordnung des Lazarettkomissars, dass nach der Arbeitszeit dort niemand bleiben duerfe. Es war naemlich zu verschiedenen Vorfaellen gekommen, keinen guten; zum Beispiel waren Frauen dort nach der Arbeit geblieben. Und da eine solche Anordnung gekommen war, hoerte ich auf, mein Quiz zu veranstalten. In der Bibliothek arbeitete ich aber weiter, das war doch mein ehrenamtlicher Auftrag.

Kurz danach rief mich auf einmal der Lazarettkomissar und fragte:

— Warum machst Du deine Abende nicht mehr?

Ich antwortete ihm:

— Aber es gibt doch Ihre Anordnung!

— Das betrifft Dich nicht, Dich kenne ich doch wie mich selbst.

Ich war sehr froh, dass man mir solches Vertrauen erwies, und unsere Quizabende wurden fortgesetzt.

Deshalb war ich ueber diesen Fall mit dem Zettel sehr empoert. Was fuer ein Recht hat man, mir solche Briefe zu schreiben?!

Im Spital wurde den Film „Maskerade“ vorgefuehrt. Alle Kranken gingen in den Saal und nahmen ihre Plaetze ein. Zu der Zeit ging Stepan schon auf Kruecken. Er kam rein und setzte sich auf den letzten Stuhl im Durchgang, so dass er das Bein auf die Kruecke legen konnte. Und eben dann kamen wir Angestellten durch den Durchgang nach vorne zu freien Plaetzen. Ich gehe an Stepan vorbei und da fragt er mich ploetzlich sehr laut:

— Wann geben Sie mir eine Antwort?

Ich antwortete ihm sehr schroff:

— In zehn Tagen, fuenfzehn, oder zwanzig. Und vielleicht niemals!

Es war so furchtbar, die Leute konnten sich doch alles moegliche einbilden. Nach der Vorfuehrung gingen wir und die Kranken heraus und da gab man mir wieder einen Zettel von Starikow. Ich zerriss ihn vor aller Augen und warf ihn ueber das Gelaender.

Einige Tagen vergingen. Ich versuchte, jede Moeglichkeit, Stepan zu begegnen, zu vermeiden. Und da ploetzlich stellte sich heraus, dass wir fast gleichaltrig waren. Das geschah so. Maria Genrihovna, unser Hauptarzt, nahm mich immer waehrend ihrer Visite mit und gab mir Verordnungen fuer diejenigen Kranken, denen Heilgymnastik vorgeschrieben wurde. Ich war Heilgymnastiklehrer und machte mit den Kranken Uebungen. An jenem Tag aber war ich verhindert, mit ihr zu gehen und ich kam in den Diensraum, um Anweisungen zu bekommen. Und dort fiel mir eine Krankenliste auf, die auf dem Tisch unter Glas lag. Ich blickte darauf und las: Stepanow, 1921 geboren.

Ich war verbluefft. Der Unterschied zwischen uns betrug nur zwei Jahre: Er war 1921 geboren und ich 1923. Also hatte ich ihn ungerechtfertigt beschuldigt …

Ich schrieb ihm gleich eine Notiz und bat eine meiner Bekanntin: „Anja, bitte uebergib doch diesen Zettel“. Und dort schrieb ich: „Wenn Sie mit mir sprechen wollen, kommen Sie in meinen Fachraum im vierten Stock um vier Uhr“. Ich lud ihn also zu einem Rendezvous ein. Um vier war ich fertig mit der Arbeit, ich sass am Fenster und wartete. Und da oeffnete sich die Tьr und Stepan kam auf Kruecken herein. Er war sehr schoen in diesem Moment, besonders seine tiefblauen Augen, nur der Blick war beunruhigt.

Ich stand auf und er sagte:

— Was wollten Sie mir sagen?

Im Raum war eine kleine Bank und ich bot ihm an, Platz zu nehmen und sagte:

— Wissen Sie, Sie sind in der Liste zur Ueberfuehrung in ein anderes Spital.

Man wollte ihn wirklich ueberfuehren, da unseres Lazarett sich auf Verwundungen der oberen Gliedmassen und des Brustkastens zu spezialisieren begann. Und alle Kranken mit der Verwundung der unteren Gliedmassen mussten in andere Lazarette ueberfuehrt werden.

Stepan fragte:

— Und Sie wollen, dass man mich ueberfuehrt?

Was konnte ich da machen? Wenn ich sage, dass ich will, treffen wir uns nie wieder…

Ich antwortete ihm:

— Das wollte ich sehen. Wenn Sie nicht gehen, wenn Sie nicht zustimmen…

— Gut, dann bleibe ich.

Und das warґs. Stepan blieb im Lazarett und wir sahen uns jetzt oefter, da er mir die Briefe von meinen Verwandten von der Post, die im Erdgeschoss war, brachte.

Er kam ja immer in irgendeiner Angelegenheit, aber es scheint mir, er wollte auch wissen, wer mir schreibt. Die Briefe waren von meiner Mutter, meiner Schwester, meinem Bruder… Und Stepan brachte sie mir. Dann nahm er einen Stuhl, setzte sich in die Ecke unweit von dem Platz, an dem ich arbeitete, und so sass er bis zum Mittagessen und ging dann weg. So lief es etwa zwei Monate, den ganzen April und Mai. Und dann kam er ploetzlich und sagte ploetzlich:

— Heiraten Sie mich.

Ich war wie vor den Kopf geschlagen.

— Wieso heiraten? Ich will aber nicht heiraten, ich habe ja ueberhaupt keine Notwendigkeit, zu heiraten.

Nach einiger Zeit kam er wieder und sagte etwas ganz unvorstellbares:

— Ich habe Ihren Eltern geschrieben, – und er kennt ja die Adresse, — dass ich Sie geheiratet habe, dass Sie jetzt meine Frau sind.

Ich blieb zuerst mit offenem Mund stehen, ich glaubte ihm einfach nicht und dann empoerte ich mich:

— Sie haben dazu kein Recht! Ich glaube Ihnen nicht!

Ich kann mich jetzt nicht erinnern, wann genau er mir all das sagte, aber am 30. April bekam ich auf einmal einen Brief und ein Telegramm. Im Telegramm stand:

„Wir gratulieren Dir zu Deinem neuen Familienleben. Liebe Gruesse. Papa, Mama“. Es war im Jahre 1943, sie hatten aus dem Twersker Gebiet geschrieben, wohin sie evakuiert worden waren.

Was konnte ich da machen? Sollte ich denn ins Blaue hinein heiraten? Ich war verwirrt. Ich kann nicht sagen, dass er mir nicht gefiel. Er war ein sehr schoener Mann, konnte wunderbar erzaehlen, so dass man ihm stundenlang zuhoeren konnte, er hatte einen guten Charakter und, was mir besonders gefiel, Stepan war zielbewusst, hatte Mut und Standhaftigkeit… Und meine Eltern schickten mir schon ihre Glueckwuensche im Telegramm…. Ich oeffnete Mutters Brief, voller Sorgen und Hoffnung, mit Traenenspuren auf den Blaettern. Sie fragte: „Toechterchen, wie hast Du nur den Mut zu einem solchen Schritt gehabt?“ Dann folgten solche Worte wie: „Wenn du nun aber schon verheiratet bist, dann lebe so, wie wir gelebt haben. Ein schlechtes Beispiel hast du in unserer Familie nie gesehen. Stepan Andrejewitsch, Sie haben unsere Tochter gewaehlt, bitte, schuetzen und lieben Sie sie“. Und der ganze Brief in diesem Stil. Wie bedaure ich jetzt, dass ich diesen Brief nicht aufbewahrt habe, aber nur wenige denken daran mit zwanzig Jahren.

Was blieb mir uebrig? Ich hatte schon keine Wahl mehr. Zuerst dachte ich, im Mai sei es nicht gut zu heiraten. Ich hatte irgendwann gehoert, dass das ein schlimmes Vorzeichen ist, und dass man sich dann das ganze Leben lang abplagen muss. Im Juni wuerde es aber schon zu spaet sein, denn meine Mutter hatte schon allen Bekannten erzaehlt, dass ich verheiratet bin. Wir fuhren doch jedes Jahr auf die Datscha in Schichino, und wenn ich diesmal dorthin komme, was werde ich ihnen dann erzaehlen? Wenn ich sage, dass ich ueberhaupt nie verheiratet war, wuerde mir niemand glauben, sondern denken, er haette mich verlassen. Im Krieg kann alles passieren, und so etwas glaubt man leider leichter… Was konnte ich da machen? Es blieb mir nichts anderesuebrig, als zu heiraten. Es war zwoelf Uhr Mittag, ich ging zum Lazarettleiter, der mich gut kannte, mit seinen Toechtern,– er hatte zwei Toechter, eine war vierzehn und die andere zwoelf Jahre alt — waren wir gute Freunde. Ich ging also zu ihm und sagte:

— Nikolaj Iwanowitsch, lassen sie mich bitte gehen.

— Wohin musst Du denn gehen?

— Ins Standesamt, die Ehe registrieren lassen.

— Was?! Was fuer eine Ehe? Und wer wird dein Mann?

Ich sage:

— Starikow.

— Den kenne ich nicht, und dabei ich bin Lazarettleiter, und Du selbst, kennst Du ihn?

— Nein.

— Na, was machst Du denn?! Von wegen Hochzeit! Schlagґ Dir das aus dem Kopf!

Wissen Sie, was ich darauf antwortete? Mich selbst kenne ich, und die Ehre meiner Jungfraeulichkeit wahre ich, aber ich kann nicht anders handeln, was sage ich dann meinen Eltern, Verwandten und Freunde? So stand ich vor ihm und konnte ihm das alles nicht erklaeren.

— Wissen Sie, Nikolaj Iwanowitsch, ich muss heiraten, ich kann nicht anders.

Was konnte er sich nur denken!

— Na, dann geh`.

Und am selben Tag, am Mittag, ohne sich vorzubereiten und die Hochzeit zu organisieren, in dem, was wir anhatten, gingen wir ins Standesamt. Und Stepan war erst drei Tage zuvor der Gips abgemacht worden. Als er den Stiefel anzog, flossen ihm die Traenen aus den Augen. Die Strassenbahnen funktionierten nicht und deshalb dauerte es lange bis wir ankamen. Als wir zurueckkehrten, musste man den Stiefel aufschneiden, weil es unmoeglich war, ihn normal auszuziehen.

Nach der Eheschliessung kamen wir gegen vier Uhr mittags ins Lazarett zurueck, und dort wurde schon Laerm gemacht: „Ira heiratet!“ Und auf dem Weg ins Lazarett gingen wir an dem Haus vorbei, wo das ganze Oberpersonal wohnte. Aus dem offenen Fenster rief mir die Frau des Lazarettkommissars zu: „Irotschka, Irotschka, kommen Sie zu uns!“ Sie brachte eine Platte mit Kuchen an und sagte: „Als sie heiraten gegangen sind, habe ich mich entschlossen, Kuchen zu backen, und sie sind aufґs Beste gelungen. Also werden sie zusammen sehr gut und gluecklich leben!“ Das war am 30. April, vor den Maifeiern. Am diesen Abend wurde eine Hochzeitsfeier organisiert und alle riefen Stepan und mir „gorko!“ zu — (ein Ausruf bei Hochzeiten, bei dem die Jungverheirateten aufstehen und sich kuessen muessen — Anm. d. Ue.).

Im Juni bekam meine Mutter Typhus und musste ins Krankenhaus. Stepan bat meine Eltern in einem Brief, ein vom Arzt beglaubigtes Telegramm zu schicken, dass beide krank sind. Mit diesem Telegramm ging ich zum Lazaretteiter und sagte:

— Nikolaj Iwanowitsch, ich muss nach Hause und meinen Eltern helfen. Sie sind eben erst aus Leningrad gekommen, sind sehr schwach und bald kommt der Winter: Man muss Brennholz und Lebensmittel beschaffen. Entlassen Sie mich bitte!

Dabei war es passiert, dass ich meinen Pass bei mir hatte. Ich hatte ihn ins Standesamt mitgenommen und nach der Hochzeit nicht in die Buchhaltung zurueckgegeben. Denn es war damals die Regel, dass alle Paesse in der Buchhaltung aufbewahrt wurden.

Der Spitalleiter verordnete meine Entlassung aus den familiaeren Grьnden. Aber am selben Tag, an dem ich mit dem Laufzettel herumrannte, widerrief er unerwartet diese Verordnung, weil er — wie er mir sagte — aus dem Oblzdrawotdel (Abteilung „Gesundheitswesen“ — Anm. d. Ue.) eine andere Verordnung eingetroffen war. Das hing damit zusammen, dass ich bei der Neuattestierung in Jaroslawl als sehr gute Fachkraft eingeschaetzt wurde. Ich musste nach der Neuattestierung Vorlesungen im Rahmen von Kursen fuer Heilgymnastiklehrer halten, die in Jaroslawl eroeffnet worden waren. Ich dachte mir dabei Uebungsbloecke fuer die Ausbildung des Knie- und oberen Sprunggelenks aus.

Im Oblzdrawotdel zeigte ich das Telegramm der Eltern und erklaerte, dass ich ihnen helfen muesse.

— Na gut, — sagte der Leiter von Zdrwotdel Melichow, — ich kann Sie auf Dienstreise schicken, aber fuer wie lange?

— Fuenfundzwanzig Tage, — sagte ich.

Ich weiss nicht, warum ich genau diese Frist nannte — vielleicht, weil sie mir lang genug erschien, da wir doch waehrend des ganzen Krieges ueberhaupt keinen Urlaub bekommen hatten.

— Wenn Sie von ihrer Dienstreise zurueckkehren, kommen Sie gleich zu mir, — sagte Melichow.

Also begab ich mich auf den Weg nach Hause. Ich fuhr mit dem Zug, und nicht ohne Abenteuer. Ich wurde bestohlen, jemand zog alle Sachen aus einem Flechtkorb mit einem Deckel heraus. Diesen Korb hatte mir Wala gegeben. Sie empfahl mir, einen Schluessel daran zu haengen, aber ich verzichtete darauf, weil ich nicht wie eine „alte Gutsherrin“ aussehen wollte. Der Korb stand auf der obersten Ablage in meinem Zugabteil, und die Diebe stahlen alles ausser einem alten Wintermantel …

Ich stieg an der Station Eremkowo aus, und von da waren es noch fuenfundzwanzig Kilomether bis Schichino, dem Ort, wo mein Vater und meine Mutter lebten. Als ich bei den Eltern angekommen war, fuhr ich nach Wyschnij Wolotschok, um eine neue Arbeit zu suchen.

Und bald schrieb mir mein Mann einen Brief, in dem er sagte, dass ich auf keinen Fall ins Lazarett zurueckkehren solle. Stepan verbot mir, das zu machen. Ich sei doch verheiratet und muesse auf ihn hoeren. Wie er sagte, so tat ich. Es war aber schwer, mich aufzufinden, da in meinen Papieren als Ziel meiner Dienstreise die Station Eremkowo angegeben war. Als ich nicht zur festgesetzten Zeit zurueckkehrte, wurde mein Mann zur Staatsanwaltschaft bestellt.

Ich wollte in Wolotschok in einem Spital arbeiten, aber dazu musste ich mich melden. Und mein Mann verbot mir, das zu tun. Dann ging ich ins Rajkom des Komsomol (eine regionale Abteilung des Komsomol — Anm. d. Ue.) und wurde zum Leiter eines Lagers fuer Kinder von Armeeangehoerigen ernannt. Ich erwies mich als sehr guter Leiter. Danach war ich Leiter einer Agitationsbrigade: wir fuhren waehrend der Ernte durch die Doerfer, gaben Konzerte, verlasen Frontnachrichten und versammelten uns auf den Strassen. Unter den Teilnehmern war auch der jetzt schon beruehmte Schauspieler Spartak Mischulin.

Stepan bekam vor der Rueckkehr an die Front zehn Tage Urlaub. Er kam nach Wischnij Wolotschok und fuhr von dort mit dem Auto nach Schichino. Meine Eltern sagten ihm, dass ich mit der Agitationsbrigade in Garussowo sei, 16 Kilomether von unserer Datscha entfernt. Nachdem wir uns wiedergesehen hatten, uebergab ich die Leitung einem anderen Teilnehmer und wir gingen zu Fuss zurueck nach Schichino. Auf den Weg fragte mich Stepan ploetzlich: „Willst du mir nicht etwas sagen?“. Ich antwortete ihm: „Nein, was denn?“. Er wiederholte seine Frage und ich sagte ihm das gleiche und fuegte hinzu, dass ich auf ihn gewartet habe. Dann kamen wir zu Hause an.

Und es geschah folgendes: Meine Eltern waren schon lange mit der Familie Bistrow befreundet. Sie hatten zwei Soehne, und ich gefiel einem von ihnen, Lescha. Als ich aus dem Spital zu meinen Eltern gekommen war, gab mir meine Mutter einen Brief von Lescha, in dem er fragte, wo ich jetzt sei, und sie bat mich, ihm selbst zu antworten. Ich schrieb meinem alten Freund einen Brief und teilte ihm mit, dass sich mein Leben sehr veraendert habe, aber – ich weiss nicht warum – ich schrieb ihm nicht deutlich, dass ich schon verheiratet war.

Und er antwortete mir mit einem Brief, der mit roter Tinte geschrieben war. Darunter fanden sich Zeilen wie: „Auch wenn du ein Kind hast, das spielt keine Rolle. Ich werde sein Vater sein, solange ich auf dieser Welt lebe“. Diesen Brief liess ich auf dem runden Tisch mit den Briefen meines Mannes liegen. Und als Stepan zu mir kam, sah er Leschas Brief und las ihn. Wir hatten einen furchtbaren Streit. Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte und worin meine Schuld bestand. Ich dachte nur: „Womit habe ich nur all das verdient?!“ Ich war voellig verwirrt, Traenen stuerzten mir aus den Augen und ich rannte aus dem Haus weg in den Wald. Und Stepan ging zu meinen Eltern. Meine Mutter erzaehlte mir dann, dass Vater ihm ziemlich lange zugehoert hatte und dann meinte: „Wissen Sie, Stepan Andrejewitsch, wir haben Ihnen unsere Tochter nicht aufgedraengt, Sie haben sie selbst gewaehlt und wissen selbst, wie sie war. Und wir zwingen Sie nicht, hier zu bleiben, Sie koennen auch frei weggehen“. Mehr sagte er nicht. Stepan kam schnell zur Vernunft, rannte mich zu suchen und bat dann um Entschuldigung…

Den orthodoxen Glauben gab ich nie auf. Die Mutter ging oft in die Kirche, und als wir noch klein waren, nahm sie uns mit in die Gottesdienste und zur Liturgie. In Leningrad, auf dem Lermontowskij Prospekt, unweit von unserem Haus gab es eine kleine Kirche. Und sogar dann, waehrend wir in Schichino wohnten, besuchten wir den Gottesdienst, obwohl die Kirche ziemlich weit weg war, fuenf Kilometer von unserem Haus entfernt.

Im Gedaechtnis ist mir das letzte Ostern vor dem Sieg haftengeblieben. Ich fuhr schon im Voraus nach Schichino; am 5. Mai kam inґs Dorf, wo die Kirche war, um mich nicht zu verspaeten. Ich uebernachtete bei Bekannten und war am Morgen beim festlichen Dienst, empfing die Kommunion… Mein Vater war nie dagegen, dass die Mutter uns im Glauben erzog. Solange er jung war, ging er mit ihr in die Kirche, doch spaeter ging Mutter alleine… Unsere Bekannten wussten, dass meine Mutter glaeubig war, sie waren immer sehr nett zu ihr, sprachen aber nie darueber mit uns. Von Unterdrueckung konnte also nicht die Rede sein.

Uebersetzt von Julia Lebedeva
Lektor priesterThomas Diez

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