25 November 2014| Aus dem griechischen von der Vychrowa Dionysia, Nonne

Ein Teil des Kreuzes von Griechenland: persönlicher Einsatz im Kampf gegen die Besatzer

Prolog

Der Metropolit von Trikala und Stagon Dionysios (Charalambus) wurde 1907 in Kleinasien geboren. Mit fünfzehn Jahren musste er erleben, wie während der grausam-blutigen Ereignisse der Kleinasiatischen Katastrophe von 1922 seine Eltern und seine beiden Schwestern den Märtyrertod durch die Türken starben. Die anderen drei Kinder sind seitdem spurlos verschwunden. Der Junge kümmerte sich zunächst um das weitere Schicksal seiner beiden anderen Schwestern, die ebenso wie er gerettet werden konnten. Dann jedoch entschied er sich, der Welt zu entsagen. Im Alter von 16 Jahren ging er auf den Athos und wurde dort im Kloster „Große Lawra“ Novize. Ein Jahr später wurde er dort zum Mönch geweiht. Der spätere Metropolit war von Jugend auf an durch den Herrn mit der Gabe bedacht, die Dinge geistig zu durchscheuen. Er begab sich deshalb selbstständig auf die Suche nach spiritueller Erkenntnis.

Der Metropolit von Trikala und Stagon Dionysios (Charalambus)

In jenen Jahren befand sich das Mönchtum in einer Krise. Es gab auf dem Athos nur wenige spirituell erfahrene und gereifte Mönche und diese waren dann auch nur wenigen bekannt. Die Tradition eines gemeinschaftlichen Klosterlebens war in Vergessenheit geraten und jeder Mönch rang auf seine Weise um sein geistiges und materielles Überleben. Obwohl Metropolit Dionysios einige spirituell besonders gereifte Mönche erwähnt, können wir doch, wenn wir seinen Lebensweg betrachten, feststellen, dass er sich selbst seinen, wenn man es so sagen kann, dreifaltigen geistigen Lehrmeister erschaffen hat: zum einen waren Leid und Schmerz seine ersten Lehrer (noch zu seinen Lebzeiten wird man ihn den zweiten Hiob nennen), die ihn lehrten zum Herrn aufzublicken. Sein zweiter großer Lehrmeister war der Heilige Johannes Chrysostomos, dessen Werke und deren Studium sein ganzes Leben hindurch für seine Seele unverzichtbarer Nektar gewesen sind. Obwohl die Heilige Schrift für ihn immer die dominierende Stelle einnehmen wird, hat er doch gerade von Johannes Chrysostomos gelernt, sich immer wieder neu in das Studium und das Verständnis der Bibel zu vertiefen. Sein dritter Lehrmeister war sein Nächster: Sein gesamtes Leben widmete er dem Dienst am Nächsten, sodass seine Zeitgenossen sein Wirken für das geistige und materielle Wohlergehen seiner unzähligen geistigen Zöglinge mit dem von Basilius dem Großen verglichen haben.

Die heute in der gesamten Welt bekannten Klöster von Meteora [1] hat der Metropolit Dionysios aus Ruinen wieder zu einem Ort voller Leben werden lassen, an dem junge und gebildete Mönche, begeistert von seinen spirituellen Gaben, seinem Vorbild folgten. Unter ihnen waren viele spätere herausragende Persönlichkeiten, von denen der bereits verstorbene Erzbischof von ganz Griechenland Christodoulos und der Patriarch des modernen Mönchtums Pater Emilian(Wafidis) vielleicht die bekanntesten sind.

Metropolit Dionysios hat keine umfangreichen theoretisch-theologischen Werke hinterlassen, sondern vielmehr auf wunderbare Weise gezeigt, wie das Erbe der Heiligen Väter auf ganz praktische Weise angewendet auch heute noch seine Gültigkeit hat, indem er mit ihrer Hilfe in seiner konkreten Epoche, die konkreten Probleme seiner Gemeinde zu lösen versucht hat. Man könnte ihn deshalb einen praktischen Patrologen der Kunst des Hirtendienstes nennen.

Man könnte ihn aber auch einen Märtyrer der faschistischen Konzentrationslagern (1942 -1945) nennen, gemeinsam mit den zum Tode verurteilten Häftlingen, deren Pastor er war, als er mit ihnen zusammen die Hölle der Lagerhaft teilte.

Er war ebenso ein treuer Bekenner des Glaubens, denn er hat die Kirche von Griechenland davon abgehalten, dem Ökumenischen Patriarchen Athinagoras zu folgen, der auf dem Wege war, sich mit der Römisch-Katholischen Kirche zu vereinigen (1964), so dass später der Ökumenische Patriarch gezwungenermaßen zugeben musste: „Dionysios hat uns alles verdorben …“

In seiner Eparchie verkündete er ohne Unterlass das Wort Gottes. Es glich seinem  ständigen Gebet. Obwohl er in seinen letzten Lebensjahren schwer krank war und täglich unter unerträglichen Schmerzen litt, begab er sich dennoch nicht zur Ruhe, bis ihn nicht der Herr selbst am 4. Januar 1970 von seinen Aufgaben entbunden hat.

Belohnung

Am nördlichen Ufer von Lesbos [2], am Fuße eines silberglänzenden Felsens, ragt ein luxuriöses Herrenhaus in den Himmel. Vertieft in dichtes, duftendes Grün lauscht es mit schweigendem Vergnügen der manchmal säuselnden, dann aber auch wieder tobenden und nie endenden Melodie der Wellen, die sich im Schaum des Meeres balgen. Es ist, als ob die Insel Lesbos der himmelblauen Ägäis voller Strahlen zulächelt.

Dieses herzeinfache Zusammenspiel vom Licht der Sonne mit dem Blau und dem Grün hatte seine wunderbare Wirkung auf die Seelen zweier edler Bewohner dieses Hauses: auf das fröhliche und offene, gutherzige und gastfreundliche und vor allem großzügige Ehepaar D. und I.

Einmal, es war schon während der faschistischen Besatzung, klopfte jemand leise an ihre Tür. Sofort wurde dem jungen Mann, der sich so zögerlich bemerkbar gemacht hatte, bereitwillig die Tür geöffnet und mit aller Fülle christlicher Gastfreundschaft im Hause aufgenommen. Aber der junge Mann war nicht irgendein Gast. Der Fremde gehörte zu den Resten einer verfolgten Einheit der englischen Armee, die in eine andere Region gezogen war, um gegen die Hitlertruppen zu kämpfen. Hier nun herrschte Angst. Die Gestapo hatte wie eine Spinne überall ihre Netze gespannt. Nur eine kleine unbedeutende Bewegung reichte aus und das grausame Insekt wurde informiert und lauerte in der Deckung. Und was dann? … Doch der junge Mann, der so plötzlich auf der Schwelle des Hauses gestanden hatte und vom Tode bedroht war, musste gerettet werden. Das ist eine Pflicht, die man Griechenland und dem Menschen gegenüber zu erfüllen hat.

Und D. war bereit und gewährte ihm Zuflucht. Deshalb befindet er sich jetzt auch unter uns Gefangenen der Deutschen, dieser bemerkenswerte Bewohner der Insel Lesbos, der sich bewusst dafür entschieden hat, seine Pflicht zu tun, obwohl ihm die Gefährlichkeit der Lage sehr wohl bekannt war.

Als ob ein geheimnisvolles Zittern das mit Olivenbäumen bepflanzte Ufer von Lesbos erfasste, das Licht fahl wurde und das Hellgrün plötzlich dunkel, als ob die blonde Ägäis auf einmal ernst geworden ihr heiteres Lied verstummen ließ.

Der vom Leben sonst so verwöhnte Rechtsanwalt muss eine ganze Reihe von Entbehrungen ertragen, die sehr schwer für ihn sind, die er jedoch ohne zu Murren bereitwillig auf sich nimmt. Die unendlichen Qualen dauerten 18 Monate und waren von stetiger, grausamer Intensität. Nun aber, als er nun endlich zu Boden sinken soll, durchfährt ihn ein neues geistiges Hochgefühl. Viele von uns, auch D., sollen gemeinsam nach Deutschland gebracht werden – in den sicheren Tod.

Doch er hatte einiges an Besitz. Wenn er den jetzt nicht einsetzten würde, wann sollte er ihn dann später noch brauchen? Und die Deutschen lieben das Gold. Und so wird er es ihnen geben und sich auf diese Weise retten können. Reichtum ist eine Sache, die sich wieder erwerben lässt.

Gut, er wird ihnen das Gold geben, um sein Leben zu retten, das natürlich viel mehr wert ist als Gold. Das ist richtig. Möge es also so kommen.

Doch die Deutschen wollten dieses Mal kein Gold. Noch am selben Abend hätte ein Wasserflugzeug D. auf seine Insel und in sein Haus gebracht. Dort wäre ihm ein Briefumschlag gegeben worden, und als Gegenleistung für seine Freiheit hätte er sich mit jenen Bedingungen einverstanden erklären sollen, die im Briefumschlag geschrieben standen.

Nun bittet man ihn um etwas viel Wertvolleres als Gold, etwas, was sogar kostbarer ist als das eigene Leben, etwas, was natürlich mit keinem Gold der Welt aufzuwiegen ist. Das, was sie nun von ihm wollen, befindet sich auf der eine Schale der Waage, auf der anderen jedoch alles andere: sein Haus und sein Unternehmen, die Freude und das Leben.

Doch es gibt noch das Gewissen, das unverkäuflich ist und so dreht er das Ruder seines Lebens entschlossen in Richtung Deutschland, wo er nichts anderes erwarten konnte als den Tod.

Doch er war ganz ruhig. Er lehnte den Vorschlag ab und wusste, dass er auf dem rechten Wege und nun gerettet ist, da er einen Weg gewählt hatte, den ihm sein Gewissen gewiesen hat. Und wenn der gütige Gott es so fügen möge und er dieses  Licht in sich nicht zum Erlöschen bringt, dann gibt es nichts, was er dort fürchten muss, wohin man ihn bringen will, in dem Land des Todes, selbst wenn tausend Tode sich auf ihn stürzen wollen.

Und so wurde er nach Deutschland abtransportiert und durchlebte dort das Grauen dessen Konzentrationslager. Und bis zum Ende bewahrte ihn der gütige Gott, dem er sich anvertraut hatte, vor jeglichem Tod und führte ihn hin zum inneren Frieden.

Am nördlichen Ufer von Lebos, am Fuße eines silbrigen Felsens ragt ein prachtvolles Herrenhaus in den Himmel. Hingegeben dem dichten, duftenden Grün lauschte es mit schweigendem Vergnügen der mal säuselnden und mal tobenden Melodie, die die sich im Schaum balgenden Wellen erneut begonnen hatten für es zu singen. Und wieder schien Lesbos mit seinem strahlendem Lächeln die himmelblaue Ägäis grüßen zu wollen.

Geboren in Griechenland

Nikolaos K. war ein wahrer Sohn seiner griechischen Heimat. Er war hochgewachsen und hager und etwa fünfzig Jahre alt. Er stach heraus aus den traurigen Wachleuten des Gefängnisses von Paulos Melas [3].

In seinem Herzen hatte er ohne Zweifel jenes harte Gestein, aus dem unsere unendlich vielen rauen Felsen in unseren Bergen beschaffen sind. Anders lässt es sich nicht erklären, wie er die Hölle des Konzentrationslagers überstehen konnte. Geboren war er … aber was bedeutet es schon zu wissen, woher genau er stammte? Aber vielleicht sagt es doch einiges über ihn aus. Also, er stammte aus Griechenland, aus dem alten Griechenland, das in den Krallen der türkischen Sklaverei für seine Freiheit und seinen Glauben gekämpft hat. Für das Griechenland, das es nicht mehr gibt, von dem wir träumen und nach dem wir uns sehnen.

Einst hielt Nikolaos es für die größte Tragödie seines Lebens, dass er sich — ohne sich darüber  freilich viele Gedanken gemacht zu haben — als Wächter im Gefängnis von Paulos Mela wiederfand. Er sollte jene bewachen, die von den Fritzen als schuldig befunden worden! Er sollte also Menschen quälen, anzeigen und in enge Zellen sperren, die ihr Haupt nicht vor den Eroberern gebeugt hatten. Jene also, denen er die Stirn küssen wollte. Und diese Küsse wären dann für ihn die wertvollsten seines Lebens gewesen.

Die Augen des Griechen leuchten. Dieses Feuer, geboren, wer weiß, vielleicht etwas früher als die Schlacht von Marathon. Und bis heute, obwohl er in sich selbst für seine Arbeit längst eine Rechtfertigung vor seinem Gewissen gefunden hat, fühlt man, wie er am ganzen Leib erzittert, wenn er von der Freiheit zu sprechen beginnt. Seine hitzige Seele sieht, wie um uns herum noch eine weitere Seite unserer Geschichte umgeblättert wird, eine weitere voller Licht wie das große Einundzwanzigste Jahr[4], ja vielleicht etwas noch Größeres. Er ist bereit, die Türen der Zellen zu öffnen, die er selbst gerade verschlossen hat. Er fühlt in sich, wie sein heißes Blut in seinem Adern voller Leben zirkuliert.

Denn jetzt würde er schon deshalb im Konzentrationslager bleiben, um einer äußerst harten Sache zu dienen: die „Helden“ zu beschützen. Früher hatte er keinen besonderen Enthusiasmus verspürt, doch dann hat er verstanden, dass auch sein Dienst jemandem irgendwie von Nutzen sein kann, denn nur so – wenn er jemandem von Nutzen sein kann – konnte er Befriedigung finden in dem, was er tat.

—  Das ist Heldenmut, was du hier tust.

—  Heldenmut? Nein! Ich weiß nur, dass ich hier ein bisschen gebraucht werde – antwortete er mit einem Lächeln.

Ein wenig die Haft unserer Brüder erleichtern, so weit man es vermag und soweit es möglich ist. Besondere Kühnheit, besonderer Mut oder gar Heldentum sind dafür nicht von Nöten. Nur ein wenig Phantasie, um die fetten Fritze hereinzulegen. Das ist nicht einmal allzu gefährlich.

— Es ist wirklich nicht gefährlich, die fetten Fritzen an der Nase herumzuführen. Es ist genauso ungefährlich, wie wenn man seinen Kopf unter das Fallbeil legt oder vor einem Schießkommando steht, das den Befehl bekommen hat zu schießen. Ist es nicht so, Niko?

—  Das haben sie richtig bemerkt, Pater! – lächelt der Mann, der als ein Sohn Griechenlands gelten will.

Und als er einen der deutschen Wachtmänner kommen sieht, beginnt er unwillkürlich vor Wut zu schäumen:

— Na kommt nur her! Ihr seid hier heute schon genug umhergeschlendert! – dröhnt seine wutentbrannte Stimme mir ins Trommelfell. Ich senke den Kopf und trete zur Seite.

— Etwas leiser, Nikola! Du machst uns noch ganz taub!

— Und auch du sei etwas leiser, Pater, dass uns der Rotschopf da nicht bemerkt. Gute Nacht – flüstert er mir zu und dreht den Schlüssel zweimal um und schließt die Tür. Das erste Mal an diesem Abend.

Eingeschlossen in der Zelle, bitte ich den Herrn, den gutherzigen Nikola zu beschützen. Er tut hier so viel für uns.  …

Und so setzt der Wachtmann Nikolaos K. jede Minute sein Leben aufs Spiel: Kopf oder Zahl, Zahl oder Kopf. Zwei Dinge sind in seiner Seele ununterbrochen am Arbeiten. Die Liebe zu Griechenland, seine Freiheit und sein Glaube und der Hass auf die Deutschen, die Griechenland besetzt haben. Er ist von Natur aus ein Hitzkopf und kann sich nur schwer im Zaum halten. Doch es gelingt ihm, sich zu beherrschen und wer es nicht weiß, kann nicht erkennen, dass es nur eine Maske ist, die er trägt. Einige Gefangene meinen, er sei der furchtbarste aller Wachmänner. Manchmal mache ich ihm davon Mitteilung. Doch er lächelt nur:

— Das Wichtigste ist, dass der Sache gedient wird, Pater!

Während der Besuchszeiten sorgte er dafür, dass er immer an der Pforte war. Dies war für ihn wirklich harte Arbeit. Und Nikolaos war bei seiner Arbeit stets gewissenhaft und riskierte dabei alles, mitten im Rachen des Wolfes. Wie das Päckchen einer Mutter für ihren inhaftierten Sohn durchsuchen und eine Nachricht, die die Mutter für ihn beigelegt hat, nicht bemerken und diese dann auch vor den Deutschen verbergen? Oder wie eine schnelle Ausrede formulieren? Wie jemandem etwas Gutes tun, ohne dass die Deutschen davon etwas merken und dahinterkommen?

— Na, wie ist es heute gelaufen, Niko?

— Alles in Ordnung, Pater. Gott sei Dank. Habe wieder vieles hereingeschmuggelt.

— Sei vorsichtig, mein Kind, sei sehr vorsichtig!

— Seien sie unbesorgt. Ich weiß, dass man vorsichtig sein muss.

Nach jeder Besuchszeit war er immer etwas blass, obwohl er sein Handwerk gut beherrschte.

— Möge Gott dir beistehen!

Er ist hier geblieben, um den Gefangenen zu helfen. Natürlich setzte er sich dabei Gefahren aus. Das wusste er sehr gut. Doch sein Platz war hier — trotz der Gefahr. Das war sein ganz persönlicher Beitrag im Kampf gegen die Besatzer. Es war sein Teil des Kreuzes, das Griechenland zu tragen hatte.

Wie viele Möglichkeiten gab es für einen Wachmann, den Gefangenen zu helfen? Ein wenig den Verschluss der Zellen hinauszögern, manchmal auch nur so tun, als ob man abgeschlossen hätte, schriftliche Nachrichten übermitteln, ein gutes Wort für jeden haben, jemanden warnen. Der Gefangene und sein Gefängnis! Was kann für einen Gefangenen unerträglicher und verhasster sein als sein Gefängnis? Und die Wachmänner sind auch ein Teil des Gefängnisses. Und da erscheint ein Wachmann wie Nikolaos in einem gewissen Sinne wie ein Schutzengel für die Gefangenen. Verliert etwa so auch das Gefängnis ein wenig seine Feindseligkeit und wird etwas heimischer? Natürlich nur soweit es möglich ist. Und das dank deiner, Nikolaos K.

Die Deutschen schöpften keinen Verdacht. So gut spielte er seine Rolle. Er galt bei der Gefängnisleitung als einer der zwei — drei vertrauenswürdigsten Wachmänner. Er, den die Deutschen als ihren Freund betrachteten, war ihr Todfeind. Sie dachten, dass er ihr treuer Diener sei und zu ihnen gehört. Doch er gehörte den Gefangenen, denn eigentlich war auch er selbst ein Gefangener —  ja, auch er war ein Gefangener, aber ein anderer, ein besonderer. Er war etwas mehr, als ein Gefangener an unserer Seite, denn er liebte uns alle, ohne nur einen von uns hervorzuheben. Er liebte uns und war um jeden besorgt. Jede Freude und jeglicher Schmerz unter uns fanden in seiner Seele ihren Widerhall.  Wenn man auch die Seele nicht sehen konnte, so war sie doch sichtbar im Ausdruck seines Gesichtes und in den Bewegungen seines Körpers. Und Nikolaos offenbarte mit solch einer Bereitschaft seine Züge und es warf so einfach, in ihnen die Bewegungen seiner Seele zu lesen.

— Du hast heute aber eine sehr finstere Mine, Niko. Erzähl mal, was geht da wieder vor sich!

Auf dem Gesicht von Nikolaos steht tiefer Schmerz geschrieben. Auch mein Herz verdunkelt sich und hört auf in der Brust zu schlagen. Die letzten zwei-drei Tage waren voller Besorgnis. Die Deutschen haben, um sich für einen von den Partisanen gesprengten Zug zu rächen, vierzig Gefangene aus dem Lager geholt und getötet. Natürlich fuhr uns allen der Schreck in die Glieder und wir begannen nun von Minute zu Minute zu bangen, dass auch wir nun bald an der Reihe sein werden. Der Tod schrie in unseren Ohren. Und er tat dies noch mehr, als wir Gesprächen lauschten von den Gräbern und unsere Münder dabei offen stehen blieben. Wann sperren die Gräber auch für uns ihre Rachen auf …

— Werden sie auch noch andere holen?

— So sagen sie es, Pater …

Ich sehe, wie bedrückt er ist. Ich habe ihn oft vor mir weinen sehen, wie ein Kind, wenn er mit ansehen musste, wie wieder jemand erschossen oder einer von den Gefangenen gefoltert wurde.

— Bete für uns Niko, dass wir jenes Leben gewinnen mögen …

Er steht kurz davor, in Tränen auszubrechen. Doch er geht schnell aus der Zelle und schließt die Tür.

— Gute Nacht!

Der Schlüssel dreht sich nicht im Schloss. Ach, bester Nikolaos!

Noch eine Nacht voller Bedrängnis, noch eine schlaflose Nacht, erfüllt von Gebeten. Dieses Schweigen, dass im Lager herrscht, das einem ermöglicht, die aufgewühlten Schläge der Herzen zu vernehmen – so muss der Tod sich anfühlen.

Plötzlich, als ich gerade niedergekniet war, um zu beten, kam ein zusammengeknülltes Stück Papier in die Zelle geflogen. Wie ein Schmetterling. Ich steckte mich nach ihm aus. Alle umringten mich.

„Erschießen aufgeschoben. Bitte an alle mitteilen. Nikolaos“.

Aus den Telefongesprächen, die er während der Nacht teilweise belauscht hatte, hat er diese freudige Nachricht erfahren und sich eilends daran gemacht, sie uns auch mitzuteilen, ohne auf den nächsten Morgen zu warten.

Ich haben ihn aus den Augen verloren seit dem Augenblick, als die Wölfe uns in ihre Höhle geschleppt haben.

… ich sehe mich um und möchte Menschen finden, die in Griechenland geboren sind.

Die Schwalben Christi

Es weht ein kalter Wind in Thessaloniki. Es ist der vierundzwanzigste Dezember. Der Vorabend des Weihnachtsfestes. Dieses Datum — der 24. Dezember! – sollte den Leuten doch etwas sagen! …

Zusammen mit den eisigen Böen des Vardaris [5] gelangte zu uns auch ein Kinderlied, das voller Leben und Fröhlichkeit an den dunklen Fenstern der Zellen von Paulos Melas rüttelte. Es erklang aber auch, um an den dunklen Seelen zu rütteln, die hinter den Fenstern in tiefes Schweigen versunken waren.

Ehre sei Gott! Ehre sei ihm !

Unter der Last ihrer Qualen beginnen die Seelen zaghaft ihre Flügel zu regen. Weihnachten! Nur mit Mühe halten die Gefangenen ihre Freude zurück und erscheinen vorsichtig an den Fenstern.  Wer kann das sein? Wer besingt das göttliche Fest der Weihnacht, das Fest der Geburt Christi? –sie kommen aus den Türen heraus und  – sie können es kaum glauben – sie treten vor den  Stacheldrahtzaun des Lagers und kommen in den Hof hinunter. … Für uns also sind diese Lieder. Für uns ….

— Gott preisen die Schar der Engel.

Die Gefangenen nähern sich, so weit sie es können, dem Stacheldraht. Doch sie bleiben auf sicherem Abstand, aus den sehr wohl bekannten Gründen. Wer weiß, was hier passieren kann. Die deutschen Bestien finden an Musik keinen Gefallen. Vielleicht werden sie plötzlich Wutausbrüche bekommen und dann Gnade euch Gott, euch Insassen vom Lager Paulos Mela. Deshalb sind sie so vorsichtig.

Also für uns sind diese Lieder und Hymnen bestimmt. Und sie sind von euch, ihr Schwälbchen Christi. Ihr habt uns nicht vergessen, auch jetzt nicht! Seid willkommen ihr Boten der Freude. Ihr seid zu uns gekommen in diesen doppeltkalten Winter, ihr hageren und verletzlichen Vögelchen. Bringt auch uns die Vorfreude auf den Frühling. Ihr hab euch von dem doppeltkalten Winter nicht einschüchtern lassen um unser willen. Wir danken euch von ganzem Herzen!

Alle sind sie zu uns gekommen, alle „unsere“ Kinder von der Christenlehre. Ja, es sind unsere! Die, die sich um uns Sorgen machen, die sich nicht scheuen, uns ihr Lächeln zu bringen. Sie stehen dicht gedrängt hinter dem Stacheldrahtzaun. Ihre Stimmen klingen warm und voller Kraft. Sie dringen uns tief ins Mark und erfüllen unser Dasein mit ihrer lebenspendenden Ehrfurcht. Dankbarkeit durchfährt uns wie eine Welle aus lichter Wärme und lässt unsere Brust weit werden und unser Augen sich mit Tränen füllen. Wir danken dir Herr, dass du uns nicht allein lässt.

Voller Liebe erklingt dort eine Stimme:

— Der Welt ist der Heiland geboren!

— Voller Klang jubeln die Himmel.

Die Kinder aus der Christenlehre sind alle gekommen, nicht eines der Vögelchen fehlt, die uns schon so lange voller Freude und bereitwillig Lebensmittel und kleine Geschenke aus der Freiheit bringen, gepaart mit dem Wertvollsten, was sie uns von sich selbst schenken können – ihrer Reinheit und Naivität. Fast alle von ihnen kennen wir, da sie uns so oft mit ihren Besuchen beglücken.

Da ist Kosta mit seinen hellblauen lebendigen Augen. Dort der kleine Dimitri, der die Deutschen nicht fürchtet, auch wenn alle ihm dies einreden wollen. Dort der ernsthafte Petros, der seine „Pflicht und Schuldigkeit“ tut, da Manolakis und Giorgos, Takis und Gianni. Alle sind sie hier. Eine ganze Schar von Köpfen mit ihren charakteristischen Kindergesichtern, helle und dunkle – und auf allen steht nun der Ernst der Stunde geschrieben.

— Ehre sei dir Gott! Ehre sei dir!

Langsam kommen die Gefangenen zusammen. Alle sind sichtlich berührt. Dort auf dem Hof des Paulos Melas geschieht etwas sehr merkwürdiges. Dort kommen ganze Welten zusammen, so viele, wie es Gefangene gibt. Im Hof von Paulos Mela versammeln sich eine Vielzahl von Städten Griechenlands, ein Vielzahl von Regionen und  Familien – die Familien der Gefangenen. Und eine Unmenge  von Bildern erfüllt nun alles herum. Man hört heimlich gesungene Lieder, man tauscht Worte aus, gegenseitige Wünsche und kleine Aufmerksamkeiten. Bekannte, Freunde, Verwandte  — die Familien der Gefangenen. Und in erster Linie die Kinder. Ach diese kleinen teuren Geschöpfe!

— Mein Panajotakis sieht dem Takis so ähnlich …

— Und mein Mimis ähnelt so dem Manolakis …

— Mein Wasilakis ist eine Kopie von Giorgos. …

So wurden fast alle Kinder der Christenlehre unter den Gefangenen „aufgeteilt“. Jeder der Gefangenen suchte sich seinen aus und hob ihn aus den anderen hervor. Einige wählten auch zwei oder drei und erkannten in ihnen ihre eigenen Kinder wieder, bei denen sie nun nicht sein konnten. Und wie ähnelten die Kinder von jedem Einzelnen diesen Kindern hier, die für sie gekommen waren, um zu singen.

So einen Eindruck habt ihr auf uns gemacht, Kinder von Thessaloniki, dass wir alle so sehr gewünscht haben, dass unsere eigenen Kinder so wären wie ihr, ja sogar äußerlich euch gleichen. Dass sie von eurer Freude erfüllt sein mögen, von eurer Anständigkeit und Entschlossenheit, von eurer Güte und eurem Glauben. Und jeder Vater unter den Gefangenen nahm sich euch zum Vorbild, denn so wie euch wollte er auch sein eigenes Kind erziehen, wenn dann endlich der gesegnete Augenblick der Freiheit kommen wird.

Die Lippen einiger Gefangener, der erregtesten von ihnen, beginnen sich zu regen und in das Lied der Kinder mit einzustimmen:

— Die Weisen bringen Gaben – Gold und duftende Myrre.

Ein edles Ziel, doch sind es nicht nur Worte? … Sie verstummen plötzlich in der Mitte des Liedes. … Jener leichte, feine Windhauch durchwehte das Lager. Jenes Gefühl von Erleichterung und Milde. Die Menschen lächeln und machen sogar kleine Späße. Die Augen aller leuchten.

Lebensfrohe weihnachtliche Träume erweichen die Seelen. Für Sehnsucht gibt es nun wieder einen Grund.

Das Lied ist verklungen. Die Kinder wünschen uns, dass wir auch im nächsten Jahr wieder Weihnachten feiern und schon bald freikommen mögen. Sie lassen uns ihre reichen Gaben und gehen fort.

Wir Gefangenen jedoch bleiben noch eine Weile im Hof stehen und blicken ihnen nach. Heute werden wir auf sie schauen, bis sie aus unseren Augen verschwunden sind … Und dort verschwindet in der Ferne der Straße eine lange Reihe von Schwälbchen, die uns in diesen doppeltkalten Winter von Paulos Mela den Frühling gebracht haben.

— Ehre sei dir oh Gott, Ehre sei dir!

Und siehe die lange Reihe der Schwalben hat sich in die Lüfte erhoben und zerteilt das Blau des Himmels. Doch anstatt in der Ferne zu verschwinden – kommen sie immer näher und immer stärker füllt sich der Himmel mit einer unendlichen Zahl von Schwalbenschwärmen und immer mächtiger füllt sich der Raum mit ihrem Lied, denn sie sind gekommen, um den Frühling Christi nach Griechenland zu bringen.



[1] Meteora (auf griechisch Μετέωρα) – eine der größten Klosteranlagen in Griechenland, die besonders bekannt geworden ist durch seine einmalige Lage auf den Spitzen von hoch hinausragenden Felsen. Die Klöster wurden um das 10. Jahrhundert herum gegründet und bestehen seit dem ohne jemals geschlossen worden zu sein. 1988 wurden die Klöster in die Liste des UNESCO Welterbes aufgenommen. Kirchenrechtlich gehören sie zur Metropolie der Orthodoxen Kirche Griechenlands.

[2] Lesbos – oder Mytilini, eine Insel

[3] Paulos Mela —  hier ein Militärlager, das als Gefangenenlager genutzt wurde.

[4] Das Große Einundzwanzigste Jahr – gemeint ist das Jahr 1821, als die Griechen sich gegen die Türkenherrschaft erhoben, welche 400 Jahre bestanden hat.

[5] Vardaris – der eisigste und schärfste Wind in Thessaloniki

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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