19 Februar 2014| Chartschenko (Korshenkowa) Larissa Sergejewna

Die Volljährige

Сергей Михайлович Харченко

Sergej Michailowitsch Chartschenko

Mein Vater, Sergej Michailowitsch Chartschenko, hatte einen wichtigen Posten in der Partei. Meine Mutter, Olga Alexandrowna Chartschenko, war Lehrerin für Menschen mit Behinderungen. Sie wurde im Jahre 1900 geboren. Mein Vater erst 1905. Meine Mutter stammt aus Sankt Petersburg. Sie ist eine richtige Petersburgerin! Mein Vater dagegen kommt aus einer Kosakenfamilie vom Kuban. Das ganze Leben lebte unsere Familie in einer Wohnung an der Fontanka. Unser Haus ist schon 100 Jahre alt. Mein Großvater war ein kleiner Kaufmann und die Jungs, die bei ihm im Laden ausgeholfen haben, bewohnten ein Zimmer in unserer Wohnung. Vor dem Krieg haben hier viele Menschen gewohnt. Alle waren wir sehr freundschaftlich miteinander verbunden. Meinem Vater – er war Kommandeur bei der Roten Armee – wurde während der Revolution ein Zimmer in der Wohnung der Eltern meiner Mutter zugeteilt. Hier haben sich meine Eltern dann auch kennengelernt, sich ineinander verliebt und später auch geheiratet.

Ich war wegen meiner kleinen Schwester Inna auf meinen Vater stets eifersüchtig. Sie ist sieben Jahre jünger als ich. Damals bekamen wir Apfelsinen aus Spanien geliefert. Wir wurden geradezu mit spanischen Apfelsinen überschüttet. Einmal hat mein Vater meiner kleinen Schwester eine Apfelsine unter das Kopfkissen gelegt, mir aber nicht. Ich hab ihm dann daraufhin gesagt:

— „Papa, du hast mich nicht lieb!“

Er entgegnet:

— „Warum sagst du das?“

— „Ihr hast du eine Apfelsine hingelegt, mir aber keine“.

— „Da, die Schale ist voll, nimm dir doch eine!“

— „Das sind nicht die richtigen!“

Jetzt ist unser Fußboden gestrichen. Früher war er ganz weiß. Es war eine ganze Wissenschaft ihn zu wischen! Man hat dir einen Schrubber in die Hand gedrückt und damit musste man dann den Boden wischen. Die Wäsche haben wir draußen im Hof gewaschen — uns selbst im Badehaus. Dort musste man sich in eine Liste einschreiben. Es war schwer, doch niemals hat uns je jemandem bestohlen.

Übrigens hat man uns schon vor dem Krieg beigebracht, wie man schießt. Es gab einen Schießklub für alle, die wollten. Ich bin dort auch hingegangen und habe es auf diese Weise gelernt. Als man mir dann eine Maschinenpistole in die Hand drückte, konnte ich schießen und wusste, was ich zu tun habe.

Der Arztberuf war damals groß in Mode. Doch leider habe ich die Aufnahmeprüfungen für das Medizinstudium nicht geschafft und deshalb Pharmazie studiert. Das Studium fiel mir leicht. Ich war ein anständiges Mädchen. Trotzdem habe ich die Universität jedoch nicht abschließen können. Nur den ersten Kurs habe ich beendet.

Denn der Krieg begann. Ich war 18 Jahre alt. Nach der Ansprache Molotows bekamen wir einen Anruf aus der Parteileitung der Stadt: Eine Frauenstimmer fragte: „Wo ist dein Vater?“ – „Er ist auf der Datscha in Martyschkino“ (das ist bei Peterhof). „Er soll schleunigst in die Parteileitung kommen!“ Am 24. Juni 1941 war mein Vater bereits an der Front und im November 1941 ist er dann gefallen. Er war nur 36 Jahre alt.

Meine Mutter und ich wurden evakuiert. Ein Freund meines Vaters hat dafür gesorgt. Ich weiß noch, wie wir in Viehwagons bis zur Bahnstation Wolga gefahren wurden und dann weiter auf Pferden bis in das Dorf Olifniki im Gebiet von Jaroslawl gelangt sind. Unsere Großmutter hatte gemeinsam mit meiner kleinen Schwester Inna schon vor uns die Stadt verlassen. Man hatte sie in jenes Dorf geschickt, in dem sie einst geboren worden war. Auf der Reise wurden wir bombardiert. Immer wieder bat ich meine Mutter: „Mama, lass uns aussteigen!“ – sie aber antwortete stets: „Nein, ich gehe nirgendwohin. Mögen sie uns doch bombardieren“. Ich entgegne ihr dann immer: „Du bist verrückt geworden!“ Ich erinnere mich noch bis heute an ein sehr komisches Bild: Der Zug ist in voller Fahrt, die Frauen müssen aber mal. Also banden sie sich mit Schnüren aneinander fest, öffneten ein wenig die Waggontür und hielten ihren Allerwertesten nach draußen. Die Männer hatten es in dieser Beziehung leichter. Das ist ganz natürlich. Wir waren lange unterwegs. Ich erinnere mich noch an die Bahnstation „Roter Hügel“: „Mama, los lass uns aussteigen, du siehst doch, dass sie uns in einem fort bombardieren!“ – „Nun, wenn es so sein soll, dann lass sie doch. Ich kann nicht springen“. Sie hatte ihre Nähmaschine mitgenommen. Sie hatte große Sorge, dass eine Bombe unseren Waggon treffen könnte.

Wir gelangten in das Dorf zu einem Onkel meiner Mutter. Es begannen die Wochen, in denen wir uns an die neue Situation gewöhnen mussten: an die unbekannte, schwere Arbeit der Bauern. So lernte ich Heu zu mähen, einen russischen Ofen zu heizen, und viele andere Arbeiten zu verrichten, die bei einem Leben auf dem Dorf so anstehen. Es fiel uns sehr schwer, nicht nur was das Körperliche anbetrifft, sondern auch moralisch, denn Informationen von der Front gelangten zu uns nur mit großer Verzögerung. Radio gab es im Dorf nicht ebenso auch kein Licht. Im Dorf hatte man alle Männer und sämtlich Zugkräfte wie Pferde an die Front eingezogen. Es waren nur Kinder, Frauen und die Alten übrig. Die Kolchose brauchte aber alle Kräfte und Hände und so arbeiteten wir vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit der Losung „Alles für die Front – alles geben für den Sieg!“

Im Herbst 1941 gelangten die ersten offiziellen Benachrichtigungen über die Gefallenen zu uns ins Dorf. Ende November bekamen auch wir so ein Kärtchen. Mein Vater Sergej Michailowitsch Chartschenko war bei Dubrowka an der Newa gefallen. Bis heute wissen wir nicht, wo man ihn beerdigt hat. Nachdem mein Vater nicht mehr am Leben war, meinte der Onkel meiner Mutter nur: „Schert euch aus meinem Haus!“ So hat er mich, meine Schwester und meine Mutter davongejagt. Nur meine Großmutter und meine Tante durften bleiben. Was hat meine Mutter da geweint! Doch ich meinte nur zu ihr: „Warum weinst du? Nimm dir ein Haus von den Bauern, die man enteignet hat! Von denen gibt es hier viele“. Und so schlug man ihr vor: entweder auf den Friedhof oder ein Haus.

So nahmen wir uns ein Haus, gruben den Garten um und brachten die Saat aus. Die Nachbarn gaben uns Tipps und zeigten uns, wie man richtig pflanzt. Im Garten wuchs alles heran und ich habe das erste Mal mit angesehen, wie aus einem kleinen Zwiebelchen eine richtige Zwiebel wurde. Wir pflanzten auch Weißkohl. Mit Geld wurde damals nichts gehandelt, man tauschte einfach was man hatte gegen etwas andere. Meine Mutter konnte sehr gut nähen. Alle meine Sachen, die wir bei uns hatten, alles, was wir und meine Mutter mit uns nehmen konnten, tauschten wir ein. Meine Mutter kaufte davon eine Kuh und wir legten dank dieser ein ganzes Fass Fleisch in Salz ein.

Die Nachrichten von der Front kamen bei uns immer verdreht an. Sogar alte Zeitungen konnte man im Dorf nicht bekommen, da die Männer aus ihnen Zigaretten drehten. Im Frühjahr des Jahres 1942 wurden auch die noch im Dorf verbliebenen Jungs an die Front eingezogen. Unter den Jugendlichen herrschte damals eine gewaltige patriotische Stimmung. Auch ich spielte mit dem Gedanken, mich freiwillig für die Front zu melden. Einmal waren meine Mutter und Inna in eine benachbarte Siedlung gefahren. Dorthin war ein ganzes Kinderheim evakuiert worden. Ich dagegen ging die 30 km bis Myschkina, wo das nächste Wehrkreiskommando lag, zu Fuß: Der Kommissar hatte mich angehört und dann nur gesagt: „Also, ohne Erlaubnis deiner Mutter schicke ich dich nirgendwohin. Komm noch einmal wieder, aber dann zusammen mit deiner Mutter!“ So haben wir mit meiner Mutter später noch einmal bei ihm vorgesprochen. Meine Mutter hat zu weinen angefangen: „Nehmen Sie sie mir nicht auch noch weg! Mein Mann ist gefallen. Soll nun auch noch meine Tochter sterben? Ich bitte Sie, lassen Sie sie!“ Und so wurde ich nicht genommen. Ich aber dachte nur: „Ach was! Ich habe ja noch die Kreisleitung des Komsomol, die ich fragen kann!“ Und nach einer Woche habe ich mich zu denen auf den Weg gemacht.

Am ersten Dezember 1942 habe ich eine Benachrichtigung bekommen, worin ich aufgefordert worden bin, mich im Wehrkreiskommando des Gebiets Jaroslawl zu melden. Ich nahm daraufhin ein Pferdegespann aus der Kolchose, belud es mit Zwiebeln, Kartoffeln, Weißkohl, Möhren und Roter Beete. Ich sagte mir: ich bringe meinen Leuten einige Lebensmittel. Für den Winter wird es genügen: So bin ich dann nach Hause gekommen und habe meiner Mutter eröffnet: „Ich gehe an de Front“.

— Ich habe dir doch gesagt, geh nicht!

— Ich bin schon 19 Jahre alt! Ich habe das Recht zu tun und zu lassen, was ich will.

Durch das Wehrkreiskommando des Kreises Myschkino im Gebiet von Jaroslawl wurde ich zum Studium in das 139. Artillerieregiment nach Moskau delegiert. So begann mein Dienst in der Armee. Ich hatte 10 Klassen absolviert und den ersten Kurs des Leningrader Pharmazeutischen Instituts. Unter den Mädchen, die eingezogen worden waren, war ich die mit der besten Bildung. Auf Befehl des Kommandeurs wurde ich zum Assistenten des Zugführers des Ausbildungsbataillons ernannt. Das war eine sehr schwere Arbeit. Die Mädels — weg von zu Hause — hatten alle ihren spezifischen Charakter und ihre Gewohnheiten. Dabei musste man doch die Anweisungen der Kommandeure befolgen und sich an die sehr strenge Disziplin halten. Nichts war dort einfach und leicht. Es fing an mit dem Aussehen und endete mit dem Exerzieren. Und dann noch der ermüdende Tagesablauf. Uniform und Stiefel wurden uns gestellt. Ich hatte damals Schuhgröße 38, bekam 42. Also habe ich mir Lappen um die Füße gewickelt. Ich weiß auch heute noch, wie das geht.

Als rauskam, dass ich etwas von Physik verstehe, wurde ich auf eine Schulung zum Umgang mit Funkmessscheinwerfern geschickt. Damals hatte England uns einige von diesen Geräten nebst den dazugehörigen Gebrauchsanweisungen geschickt. Wir wurden zwei bis drei Monate in einem Dorf außerhalb der Stadt, in Tschernitzino — das ist hinter Sokolniki — ausgebildet. Nachdem ich den Kurs beendet hatte, wurde ich zum Untersergeanten befördert.

1943 kam ich dann zusammen mit einer Truppe nebst Ausrüstung als Stationsleiterin in die Stadt Korosten (Ukraine), in die 1. Rotte des 13. Funkmessbataillons auf die Funkmessstation Nr. 21. Ich erwiderte zunächst, dass ich dazu doch gar nicht befähigt sei. „Dann wirst du es eben lernen“ – war die Antwort. Die Truppe war international: es gab Russen, Ukrainer, Moldawier mit nur drei oder vier Klassen Schulbildung. Alle sind wir freundschaftlich miteinander ausgekommen. Wir haben viel geschuftet, denn wir alle waren uns im Klaren, dass unser Leben von jedem einzelnen Soldaten unserer Truppe abhängt. Für mich war der Dienst völlig neu. Wo wir auch hinkamen, überall hieß es erst einmal Schützengräben zu graben. Ich hatte ständig Schwielen an den Händen. Wenn wir die Stellung wechselten, dann war das erste, was eingerichtet werden musste – eine Toilette. Dann mussten wir auf nacktem Boden, wo noch kein Schnee gefallen war, eine Garage bauen für den Wagen, dann ganze Erdhöhlen graben mit Gängen und alles so einrichten, dass man darin leben konnte. Zuletzt musste auch noch die Verpflegung organisiert werden.

Der Wachdienst der Truppe musste streng organisiert und ein Zeitplan erstellt werden: 2 Stunden auf dem Posten und dann Ausruhen. In der Nacht war die ganze Truppe auf den Beinen. Die Aufgabe der Station war es, so früh wie möglich den Feind zu erspähen und ihn im Lichtschein der Projektoren sichtbar zu machen bis er dann an eine Begleittruppe „übergeben“ werden und die Flaksoldaten ihn abschießen konnten. Alle mussten sehr genau und untereinander abgestimmt arbeiten. Wenn die Deutschen die Station mit ihren Granatwerfern beschossen, ertönte das Kommando des Vorgesetzten: „In die Schützengräben!“ Die Soldaten hinter den Projektoren blieben auf ihrer Kampfstellung und hatten nicht das Recht diese zu verlassen, bevor das Kommando „Hebelschalter!“ gegeben wurde. Nachts waren wir immer im Einsatz und haben deshalb nie geschlafen. Gegen Morgen konnte man sich dann etwas hinlegen und ein wenig dösen. Die Station gehörte zu den Suchtrupps im Bataillon. Der Dienst war sehr verantwortungsvoll, die Truppe aber eher ungebildet. Die Ausbildung ging sehr schwer von statten. Und für alles musste der Leiter der Station seinen Kopf hinhalten. Hier musste ich selbst sehr viel dazulernen, wie man sich zum Beispiel den unterschiedlichen Personen gegenüber zu verhalten hat. Dabei hat mir der Kommandeur des Regiments sehr geholfen. Er war ein Landsmann von mir, ein Leningrader. Leutnant Nikolaj Semjonow. Die Grundlage von allem ist die Disziplin und die Ausführung der Befehle des Kommandeurs. In der Nacht musste Dienst geschoben und am Tage der Zustand der Projektoren untersucht und kontrolliert werden, die Soldaten hinter den Geräten eingewiesen und politische Schulungen durchgeführt werden, dann das Frontblatt herausgegeben und die Waffen gereinigt werden. Ich erinnere mich noch an das Reinemachen in den Erdhöhlen und des Territoriums der Station. All das gehörte zur Aufgabe des Stationsleiters.

Ich hatte einige Jungs aus Woronesh unter mir. Es waren 18 Männer. Eines Tages hatten sie sich aufgemacht, beim Vorsitzenden der Kolchose um Kartoffeln zu bitten.  – „Gibt keine, wir haben nur Saatkartoffeln“ – Die Kartoffeln waren aber schon längst ausgelegt. Da sehe ich, wie meine Jungs irgendwohin verschwinden:

— Wohin wollt ihr?

— Wir verschwinden mal für eine halbe Stunde.

— Bitte etwas genauer!

— Genosse Sergeant! Wir sind Jungs vom Dorf, wir graben ein bisschen und bringen dann Kartoffeln mit.

Ich antworte: — Ach so! Stiefel ausziehen.

— Wieso „ausziehen“?

— Ihr Dummköpfe! Die Spuren verraten euch doch.

— Ach, ja! – und sie zogen sie aus.

Sie kamen mit einem Eimer Kartoffeln zurück – Mein Gott, was war das für eine Freude! Ich erinnere mich noch bis heute an diese Kartoffeln. Was haben die geschmeckt. Ich kann das mit Worten gar nicht beschreiben. Wir bekamen ja damals nur Grütze und Haferbrei zu Essen. Es gab manchmal auch amerikanische Fleischkonserven. Die Mädchen hatten der Reihe nach Küchendienst.

1944 kam der Befehl zum Verlegen der Station vor die Stadt Kowel in Weißrussland an der Grenze der UdSSR. Es war schwer, sich wieder neu einzurichten. Wieder mussten wir neue Erdhöhlen graben. Diesmal jedoch drang Grundwasser ein. Die Position zu verlassen war verboten, denn es kam darauf an, dass die Funkgeräte ein bestimmtes Gebiet aus genau einem bestimmten Winkel überwachen können. So haben wir dann den ganzen Winter mit dem Wasser unter uns ausgeharrt, haben Bretter ausgelegt und sind auf ihnen gelaufen. Unter den Pritschen stand das Wasser und mit ihm kamen auch die Krankheiten. Die Arbeit jedoch musste gemacht werden, und so der eine immer wieder für einen anderen einspringen. Im Frühling passierte dann die nächste böse Überraschung. Die weißrussischen Nationalisten erhoben ihre Stimme. Sie wollten alles Sowjetische zunichte machen. In Kowel entführten sie einen Chauffeur und ermordeten einige Mädchen von der Fernmeldeeinheit. Ich geriet zwei Mal sogar unter ihren Beschuss. Sie hatten auch vor, den Vorsitzenden der Kolchose zu töten. Dieser lief dann von ihnen in Unterhosen fort. Was führten sie im Schilde? Wenn ein Mädchen die Idee der Sowjetunion unterstützte, scherten sie ihr die Haare ab. Was für eine Schande für ein Mädchen! Einmal gelang es unserer Truppe zwei sehr verdächtige Bürger festzunehmen. Beide erwiesen sich als aggressive Nationalisten.

Mir persönlich gelang es, Kontakte zur Zivilbevölkerung herzustellen. Wenn Erste Hilfe nötig war, eilten sie zu uns. Sogar der Vorsitzende des Dorfrates suchte uns oft auf, um Hilfe zu bekommen. Ich wohnte bei einer Frau, die ein kleines Kind hatte. Ich habe ihr immer wieder von meiner Lebensmittelration etwas abgegeben: „Gib des dem Kleinen!“. Einmal brachte sie ihn aus dem Haus heraus. Sie hatte ihn auf dem Arm. Wie erschrak ich, als ich sah, dass die Hälfte der rechten Hand des Kleinen ganz zerfetzt war. Der Junge fragte mich: „Tante, werden meine Finger wieder nachwachsen?“ Die Deutschen hatten „Spielzeug“ in die Gegend geworfen, das  explodierte.

Um Kowel tobten erbitterte Kämpfe. Das gesamte Territorium um das Dorf und unsere Stellung herum war voller Minen. Sehr viele Bauern fielen beim Pflügen ihrer Felder diesen Dingern zum Opfer. Aber auch viel Vieh kam ums Leben. Einen Bauern, der auf eine Mine getreten war, konnten wir noch retten. Wir erwiesen ihm die Erste Hilfe und brachten ihn in ein Hospital. Aber auch in unserem Bataillon hatten wir Opfer zu beklagen, die auf die Rechnung der Nationalisten gingen: einige Soldaten und die Mädchen von der Fernmeldeabteilung.

Am 8. März hatten wir uns einmal mit drei Frauen zusammengesetzt: ich, Goloborodko und Tolstenko. Ich hatte ordentlich einen getrunken und sah, wie einer der Scheinwerfer den gesamten Boden abtastet. Ich meinte zu den beiden: „Mädels, haut ab, ich werde von meiner Truppe schon gesucht. Ich mach mich los“. Aber es gelang mir nicht, einen Schritt vor den anderen zu setzen. So setzte ich mich auf einen Stein und wartete. Da kam irgendein Kerl angefahren (ich war in Uniform): „Oh, Mädchen, was machst du denn da?“ Ich war schon immer sehr schlagfertig und antwortete: „Ich warte auf dich“ – „Los setz dich!“ – antwortete er mir. Und ich setzte ich mich zu ihm. Er brachte mich genau bis zu unserer Stellung. Der Leutnant hatte uns bemerkt. „Das ist doch einer von den Nationalisten! Wie konntest du nur? Er hätte dich umbringen können!“ Mein Leutnant war ein Leningrader, ein feiner Kerl. Sobald er sein Lebensmittelpäckchen, das Offizieren zustand, bekommen hatte, sagte er zu mir: „Genosse Sergeant, kommen Sie bitte mit einem heißen Teekessel zu mir!“ Ich bin dann zu den Mädels in unserer Truppe: „Bringt dem Leutnant den Teekessel“.  Das, was er mir dann mitgegeben hat, habe ich bei uns dann auf dem Tisch ausgeschüttet und in einen Teller getan – für uns alle.

Am 24. August 1945 wurden wir Mädels vom Dienst entbunden und nach Brest gebracht, wo die Züge formiert wurden, die die Soldaten wieder in ihre Heimat zurückbrachten. Auch hier noch wurden unsere Autos beschossen. Zum Glück ist dabei keiner ums Leben gekommen. Doch es gab einige Verwundete. Sich an alles das zu erinnern, fällt schwer.

Die Freundin meiner Mutter, Tante Walja, Wawara Alexandrowna, hat in Leningrad in unserer Wohnung an der Fontanka die Blockade überlebt.  So hat sie sie für unsere Familie erhalten. Sie gehörte für uns praktisch zur Familie. Heute würde man sie eine Haushälterin nennen. Früher galt sie als eine Bedienstete. Vor dem Krieg, bevor wir auf die Datscha gefahren sind, hatten wir Unmengen Makaroni, Getreide und Kerosin eingekauft, um nicht unnötig viel in die Geschäfte gehen zu müssen. All das hat nun die Tante zur Verfügung gehabt. Da sie allein war, hat es für eine kleine Mahlzeit jeden Tag ausgereicht. Einige wenige Sachen hat sie gegen Brot eingetauscht: Schuhe von meiner Mutter, einen Stoff für ein Kleid für mich. Damals war Geld nicht gefragt, nur Dinge zählten. Als der Krieg zu Ende war, hat Tante Walja meiner Mutter eine Einladung geschickt, sodass es ihr gestattet wurde, wieder in die Stadt zurückzukehren.

Als ich von der Front nach Hause zurückkam, habe ich meinen Großvater fast nicht mehr wiedererkennen können. Durch die ständige Unterernährung war er völlig aufgedunsen. Er hat dann auch nur noch kurz gelebt und ist bald gestorben. Ich habe zu meiner Mutter gesagt: „Mama, ich werde mein Studium am Institut auf jeden Fall abschließen“. Sie entgegnete mir: „Bist du verrückt geworden? Heirate erst einmal!“ Einen jungen Mann, Sascha Arabelskij, der um meine Hand angehalten hatte, hat sie aber abgewiesen. „Sie wird nicht Ihre Frau werden“. Ich stand hinter der Tür und konnte alles mit anhören. Er kam heraus und meinte: „Los, lass uns zusammen fortgehen!“ Ich zu ihm: „Ich kann das meiner Mutter nicht antun. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel sie durchmachen musste. …“ Meine Mutter ist dann mit 60 schon gestorben.

In das Pharmazieinstitut bin ich dann aber nicht mehr zurückgekehrt. Meine Mutter hat mir eine Stelle in einer Schule als Lehrerin für Produktive Arbeit verschafft. Ich habe Kindern, die Lernschwierigkeiten hatten, das Nähen und Sticken beigebracht. Trotzdem habe ich nach dem Krieg noch meinen Hochschulabschluss gemacht. Ich habe Sonderpädagogik studiert und alle Prüfungen gut bestanden. Fünf Jahre dauerte das Studium. Ein Sonderpädagoge bekam damals 1200 Rubel, wir jedoch nur 700.

Geheiratet habe ich einen ehemaligen Mitschüler von mir – Tolja Korschenikow. Wir sind zusammen zur Schule gegangen und waren in einer Clique: drei Mädchen und fünf Jungs. Was haben wir nicht alles gemacht! Auf der Eisbahn haben wir Schlittschuhlaufen gelernt und später dann zusammen auch das Schießen. Ich war seit der siebten Klasse heimlich in ihn verliebt und er, wie sich dann später herausstellte, in mich schon viel früher. Als ich aus dem Armeedienst entlassen worden war und nach Leningrad nach Hause zurückgekehrt bin, rief ich einen Bekannten an. Wir hatten zu Hause einen Telefonapparat. Der Bekannte sagte mir: „Weißt du, dass Tolka Koshernikow auch von der Front zurück ist?“. Ich antworte: „Dann lasst uns doch alle zusammenkommen“. So trafen wir uns und so haben auch Tolja und ich uns wiedergesehen. Er hat mir sofort einen Heiratsantrag gemacht. Ich aber: „Neee, zu erst muss ich erst einmal studieren. Ich kann jetzt nicht mit dir fahren“. Ich habe sofort gedacht, dass meine Mutter mich auffressen wird. Sie hat mich dann auch wirklich angefaucht: „Hast du noch alle beisammen? Fast alle Jungs sind an der Front umgekommen und du jonglierst noch mit einem solchen prima Kandidaten umher?“ Doch ich blieb dabei, dass ich zuerst einmal mein Studium beenden will, damit ich wenigstens einen ordentlichen Beruf habe. Erst später wollte ich dann heiraten. Ich ging zu meiner Taufpatin. Sie war die Leiterin einer Fabrikhalle in der Textilfabrik, die das Zentrale Leningrader Kaufhaus belieferte. Hier habe ich nähen gelernt. Aber auch meine Mutter hatte mir und meiner Schwester bereits die ersten Handgriffe gezeigt: Stricken und Sticken.

Ich machte mir sehr viele Sorgen. Ich wollte ein Kind, aber es klappte nicht. Ich ging zum Arzt. Sie sah nach und meinte: „Du bist gesund. Und dein Mann, wo war er?“ – „In Leningrad, eingeschlossen in der Blockade“. – „Ach mein Mädel, was willst du denn! Gib ihm ordentlich Futter und fahr mit ihm ans Meer. Dann wird schon alles werden“ ….

Лариса Харченко

Larissa Chartschenko (Korshenkowa)

Nach dem Krieg wurde mein Mann nach Deutschland, nach Weimar, zum Arbeiten geschickt. Ich machte in dieser Zeit bei einer alten Nachbarin sauber. Wir nannten sie „Mutter“. Sie hatte eine kranke Tochter. Ich schnitt immer heimlich von meinem Stück Butter etwas ab und streute Zucker drauf. „Hier Frau, das ist für Ihre Tochter.“ So kam ihre Tochter langsam wieder auf die Beine. Ich kann nicht wiedergeben, wie dankbar die alte Frau war – sie war doch eine Mutter! Ich fragte sie: „Wie konnten Sie denn unter Hitler überleben?“ Wissen Sie, was sie mir geantwortet hat? „So, wie ihr auch unter Stalin lebt“. Ich biss mir auf die Zunge. So also! Damals war es strengstens verboten, sich auch nur einen Witz über Stalin zu erzählen oder geschweige denn etwas Schlechtes zu sagen. Nur immer: „unser Führer und Lehrer“ — das wars.

In den 50-er Jahren kamen wir, mein Mann und ich, aus Deutschland zurück. Wir hatten schon zwei Töchter. Hier in Russland konnte man damals nichts kaufen. Mit der Lebensmittelversorgung stand es schlecht. Es gab alles nur auf Marken. Ich weiß noch, wie ich für Bananen in der Schlange anstehen musste. 1 Rubel 40 Kopeken für ein Kilo.

Einmal stand ich an und war fast an der Reihe. Als ich an den Ladentisch trat, wurde mir plötzlich schwindlig. Ich sagte: „Mädels, könnt ihr mir die Bananen schon einmal geben? Es steht doch geschrieben: „Kriegsveteranen werden außerhalb der Schlange bedient. Hier mein Ausweis“. Die Verkäuferin schrie mich an: „Elende Bande!“ Und da bin ich in Ohnmacht gefallen. Man zog mich aus dem Laden heraus und setzte mich auf die Stufen vor dem Eingang. Ich fühlte mich so elend, als ob es mit mir zu Ende geht. In dieser Lage hatten andere Frauen mir meine Lebensmittelmarken abgenommen, sie in großen Stücken abgerissen und in ihren Handtaschen verschwinden lassen. Dieser „neue russische Frauentyp“ waren gerade erst aufgekommen. Wenn ich mich dagegen heute nur ein wenig an eine Wand lehne, fragt man mich sofort: „Ist ihnen schlecht? Sollen wir Ihnen helfen?“ Das eine andere Erziehung.

Aufgeschrieben von Tatjana Aljoschina für www.world-war.ru

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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