7 Juli 2014| Uchowa V.

Bist du jetzt meine Mama?

Mir und meinen Landsleuten, die wir im russischen Norden leben, ist es erspart geblieben, das ertragen zu müssen, was die Menschen in Leningrad durchmachen mussten. Obgleich es auch bei uns keine Familie gibt, die nicht jemanden an der Front verloren hat.

Trotzdem war unser Leben in nichts mit dem zu vergleichen, was die Menschen in Leningrad durchgestanden haben. Ich habe welche von ihnen gesehen, die man aus der Stadt evakuiert und zu uns gesandt hatte. Allen waren sie völlig erschöpft und ausgehungert und konnten kaum ein Bein vor das andere setzen. Das Furchtbarste jedoch waren die kleinen Kinder, die vom Hunger ganz ausgemergelt waren. Von ihnen möchte ich hier erzählen.

Seit dem 1. Januar 1942 arbeitete ich in der Schulbehörde von Kreis Kubeno-Ozerskij im Gebiet von Wologda. An einem Morgen im März erreichte uns dort ein Anruf aus Wologda, in dem uns mitgeteilt wurde, dass ein ganzer Zug mit Evakuierten Leningradern in der Stadt eingetroffen war. Unter ihnen waren viele Mütter, die auf der Reise gestorben waren und so ihre Kinder als Waisen zurückgelassen hatten. Die schwächsten Kinder hatte man in den Krankenhäusern der Stadt beziehungsweise in den umliegenden Kinderheimen untergebracht. Die Kräftigeren wollte man zu uns schicken, in das Kinderheim unseres Kreises. Wir wurden gebeten, Pferde anzuspannen und genügend Schafspelze bereit zu halten, denn von der Kreisstadt bis zum Kinderheim waren es sieben Kilometer.

Wir hatten alles vorbereitet und warteten. Von Wologda bis zu uns sind es dreißig Kilometer. Es gab überall Schneewehen, denn auch tagsüber, ungeachtet dass es schon März war, wehten eisige Stürme. Die gewöhnlichen Busse  — von ihnen gab es nicht viele – brauchten von Wologda bis zu uns etwa eine Stunde beziehungsweise eine Stunde und zwanzig Minuten.

Wir warteten und warteten, aber der Bus kam nicht. Es war bereits Mitternacht, dann ein Uhr, dann zwei Uhr nachts. Wir riefen in der Stadt an. Dort sagte man uns, dass der Bus abgefahren sei. Wir schickten ihm einen Pferdeschlitten entgegen. Später stellte sich heraus, dass der Bus auf der Fahrt kaputt gegangen war. Endlich um drei Uhr nachts kam ein kleiner Bus mit achtzehn Plätzen bei uns vorgefahren.

Die Schulbehörde unseres Kreises befand sich damals in einem zweistöckigen Haus. Als wir das Weinen der Kinder hören und die Tür öffneten, war ich am Anfang einfach sprachlos. Die hohe Treppe war voll mit kleinen Kindern, die die Stufen nicht hinaufgingen, sondern hinaufkrochen und mit völlig kraftlosen Stimmen weinten.

Wir alle eilten ihnen zu Hilfe. Stehen konnten die Kleinen nicht. Sie fielen sofort wieder um. Die Schaftspelze hatten wir zum Glück für sie bereits angewärmt. Wir zogen die Kinder aus uns legte sie auf den Fußboden und baten Ärzte aus dem Krankenhaus, sie zu untersuchen. Wir versuchten, ihnen etwas zu Essen zu geben, doch die Kinder waren völlig kraftlos. Sie nahmen ein Stück und sackten dann wieder zusammen. Bald schliefen alle ein.

Es war ein schreckliches Bild. Die Kinder, die zu uns gekommen waren, waren zwischen drei und sieben Jahre alt. Alle waren kurz geschoren. So konnte man kaum erkennen, wer ein Junge und wer ein Mädchen war. Sie waren völlig abgemagert und allem gegenüber völlig apathisch. Sie lagen vor uns und schliefen.

Am nächsten Tag brachten wir sie, in die Schafpelze gewickelt, in das Kinderheim. Nach einer Woche trug man mir auf, den Zustand der Neuankömmlinge zu überprüfen. Wir fuhren zu acht Uhr früh ins Kinderheim. Die Gruppe der „Neuen“, wie sie die Erzieher dort nannten, waren gerade bei der Morgenwäsche. Sie schauten mich voller Neugier an und einer von ihnen fragte mich plötzlich:

— Warum sind Sie zu uns gekommen. Werden Sie uns untersuchen?

— Nein, — antwortete ich.

— Werden Sie uns Spritzen geben?

— Nein.

— So, warum dann?

— Einfach nur schauen, wie ihr lebt.

— Gleich zeigen wir es Ihnen.

Sie zogen mich mit sich in ihr Spielzimmer, stellten einen kleinen Stuhl in die Mitte und boten ihn mir als Sitzplatz an. Ich setzte mich.

Die Kinder umringten mich plötzlich alle, nahmen meine Hände und begannen sie in alle Richtungen zu zerren. Zuerst verstand ich nicht, was dies bedeuten sollte. Jeder versuchte, näher an mich heran zukommen und mich, koste es was es wolle, zu berühren, mir in die Augen zu sehen und mir zuzuflüstern: „Willst du meine Mama sein? Hast du mich gefunden?“ Einige von ihnen konnten diese Worte deutlich formulieren, anderen stand es in den Augen geschrieben.

Es fällt schwer, darüber zu schreiben. Jede Frau, die zu uns ins Kinderheim kam — wer auch immer es war — brach bei Anblick dieser nach einer Mutter flehenden Kinder in Tränen aus.

Doch niemals ist auch nur eine Mutter gekommen, um eines dieser Kinder abzuholen. Wenn einer  von ihnen sieben Jahre alt geworden waren, dann wurde er in einem anderen Kinderheim untergebracht, in einem anderen Kreis. …

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

Comments (login)