Passive Helden
Menschen, die besonders erfinderisch waren und aus Gott weiß was für Stoffen und Materialien etwas Essbares und Vitamine gewinnen konnten, Menschen, die Brennstoffe aufspüren und somit Wärme erzeugen konnten, mit der sie das Leben von Kindern retten und kulturelle und wissenschaftliche Werte erhalten konnten – ihr Beitrag bei dem heroischen Widerstand Leningrads gegen den Faschismus, war vielleicht nicht so sehr sichtbar wie die Feuersalven von Kronstadt, aber auch dies war eine Form von Widerstand — nicht weniger wichtig für den Ausgang der Kämpfe an der Nordflanke der endlosen Front.
Der Mitarbeiter der Öffentlichen Saltikow-Schedrin–Bibliothek, S. G. Miljaew, – er war ein „eingefleischter Vertreter der Intelligenz“ — erwies sich als erfahrener Artillerist. Professor W. I. Scharkow von der Forstakademie erfindet Speisehefe und andere Ersatzstoffe für die Nahrung und rettet somit tausenden Menschen das Leben. B. I. Schelisch, ein gewöhnlicher Techniker, erfindet aus der Not heraus (Benzin und Strom gab es nicht mehr) aus irgendwelchen Materialen, die er gerade zur Hand hatte, einen „Wasserstoffmotor“, mit dessen Hilfe die Ballons, die die Luftwaffe bei ihren Angriffen behindern sollten, in die Luft erhoben und auch wieder herabgesenkt werden konnten.
Und die Ärzte! Vieles mussten sie neu entdecken. Es stellte sich heraus, dass die Medizin zu Friedenszeiten erstaunlich wenige Kenntnisse über Hunger und Unterernährung hatte. Manchmal scheint es, dass die Menschheit so wie ein Kind all die unangenehmen, kränkenden und erniedrigenden Erlebnisse, zu denen auch der Hunger von Massen gehört, einfach schnell vergisst.
In einem Brief als Reaktion auf die Veröffentlichung des ersten Teiles des Buches „Von der Blockade“ hat ein Leningrader berichtet, dass er damals ins Krankenhaus gekommen ist, dort zehn Tage gelegen hat und den Arzt in Staunen versetzt hat, weil er während dieser Tage stark an Gewicht verloren hatte. Dabei hatte er nur Wasser verloren (er war ganz ausgedunsen) und war zu seinem Normalgewicht zurückgekehrt. Damals haben die Ärzte diesen Zusammenhang noch nicht sofort erkannt. Oder die tragischen Fälle von Kobon, als sich die über den Ladogasee aus der Stadt gebrachten, völlig unterernährten Menschen auf normales Essen stürzten und daran dann gestorben sind. Auf einer Bahnstation, an der die aus der Stadt Evakuierten vorbeikamen, konnten diese ein Plakat lesen: „Ein Herzliches Willkommen den Unterernährten aus Leningrad!“ Die Menschen, die dies geschrieben hatten, hatten einfach schon vergessen, was „unterernährt“ bedeutet. Als ob es 1921 und 1933 keine Hungersnöte gegeben habe! …
Josué de Castro berichtet in seinem Buch „Die Geographie des Hungers“[i], dass bei der Befreiung der Gefangenen aus den faschistischen Konzentrationslagern die Menschen genau die gleiche verblüffende Vergesslichkeit an den Tag legten — ja sogar die Ärzte! – und nicht wussten, was es heißt, an Unterernährung erkrankt zu sein. Erneut mussten sie herausfinden – und zu dieser Erkenntnis gerieten sie nicht sofort — vielmehr mussten sie sich ins Gedächtnis rufen, dass das Beste, was man einem Unterernährten zuerst geben sollte, entrahmte Milch ist. Bis sie sich aber wieder auf dieses Wissen besonnen hatten, starben die Unterernährten, obwohl sich Ärzte um sie bemühten und kümmerten, weiterhin einer nach dem anderen.
„Bis zum heutigen Tag – so behauptet der Autor des Buches „Geographie des Hungers“ – war diese Frage, da sie auch Probleme sozialen und politischen Charakters berührt, eines der Tabus unserer Zivilisation. Sie war unsere im höchsten Maße verwundbare Achillesverse. Es ist ein Thema, welches gefährlich war, öffentlich zu diskutieren. Für eine solche organisierte Verschwörung darüber zu schweigen, gab es mehrere Gründe. In erster Linie waren es Erwägungen moralischer Art. Der Hunger gehört zu den primitiven Instinkten und für eine eher rationalistisch geprägte Kultur, die mit allen Mittel versucht, den Menschen in seinem Verhalten dahin zu bringen, dass seine Vernunft über die Instinkte zu herrschen habe, war die Fragestellung selbst schon einmal schockierend“.
Die Menschen, die die Blockade in Leningrad erlebt haben, mussten in den sehr eingegrenzten Verhältnissen vieles neu erfinden. Womit mussten sie sich nicht alles auseinandersetzten! Wogegen musste der einfache Mensch in der belagerten Stadt, den G.A. Knjasew als den passiven Helden Leningrads bezeichnet, nicht alles ankämpfen! Der Hungrige in einer furchtbaren Finsternis unter Leichen. …
Und so wurde aus ihm — dem Helden Leningrads ohne Waffen — ein Spezialist und das nicht nur auf dem Gebiet, in dem ihm die Frontstadt Leningrad eine Aufgabe übertragen hatte.
Darüber, was für ein Verhältnis die Überlebenden der Blockade zum Brot haben, ist viel geschrieben worden. Darüber jedoch, wie sie auf ganz besondere Weise einen Menschen begreifen und ihm nachfühlen können, lohnt es sich ebenso zu erzählen. Die Menschen haben damals solche Dinge erlebt und gesehen, ja, solche Sachen über sich selbst und über andere erfahren, dass fast jeder über den Menschen als solchen nachzudenken begonnen hat, über dessen Möglichkeiten und deren Grenzen und jeder hat dazu etwas ganz Persönliches zu sagen.
G.A. Knjasew betrachtet den Menschen in erster Linie aus geistiger Perspektive. Für ihn ist diese die natürliche und seinem Beruf entsprechende Perspektive, sie ist, wenn man es so sagen kann, sein Blickwinkel. Ein Mediziner wird eher über die physischen Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Organismus urteilen.
Viel öfter jedoch als über die physischen Möglichkeiten, bezeugen die Menschen, die die Blockade überlebt haben, von geistigen Phänomenen und Reserven des Menschen, die sich ihnen in diesen Tagen und Monaten offenbart haben.
Ljudmila Nikolaewa Bokschitskaja erinnert sich:
„Ich habe die Blockade auf die grausamste Weise überlebt: ohne jegliche Vorräte und Hilfe, jedoch mit dem Glauben, dass alles bald ein Ende finden wird. Es kam aber zu dem Augenblick — es war bereits im Dezember 1941 — als mir alles egal wurde: wir konnten kein Brot mehr kaufen und uns nicht mehr aus dem Bett erheben. So lagen wir drei nebeneinander: meine Mutter, meine Schwester und ich. Wie reagierten nicht mehr auf die Sirenen, die Luftalarm meldeten, wir hörten nicht mehr, wie die Bomber über die Stadt flogen. Es war aber in der Tat so, wie Sie schreiben: „Jeder hatte seinen persönlichen Schutzengel“ …
Für uns war dieser unsere Nachbarin Nadjeshda Sergejewna Kuprjanowa. Sie kam zu uns ins Zimmer, weil sie gedacht hatte, dass auch wir schon gestorben seien. In unserer Wohnung, in der viele Menschen wohnten, war nämlich niemand mehr am Leben. Als sie gesehen hat, dass auch wir schon daniederlagen — völlig gleichgültig unserem Zustand gegenüber, verließ sie unser Zimmer mit den Worten, dass sie es nicht zulassen wird, dass die Familie einer so bemerkenswerten Frau zugrunde geht.
Bald darauf kam sie mit Holz wieder zurück, heizte den Ofen an und brachte Wasser. Sie sagte, dass man ihnen im Krankenhaus ein Kaninchen gegeben hätte und stellte den Topf mit dem Kaninchen auf den Herd. Während die Suppe kochte, wusch sie uns ab, nachdem sie eine Decke im Zimmer aufgehängt hatte, um uns vor der Kälte zu schützen. In diesen Tagen war unser Eckzimmer im Erdgeschoss wie eine Eishöhle. Warm war es nur in einem Radius von etwa einem Meter um den Ofen herum. Erst nachdem wir gegessen hatten, erfuhren wir, dass es kein Kaninchen, sondern eine Katze gewesen war — die letzte wahrscheinlich. Dieses Essen und die Fürsorge unserer Nachbarin ermöglichte es uns aber, noch einmal bis zum 10. Januar 1942 durchzuhalten. Am 8. und 9. Januar waren wir erneut in jenen Zustand geraten, in dem wir nichts mehr davon bemerkten, was um uns herum geschah. Neben unserer Mutter lagen wir, ihre beiden Töchter, gehüllt in all die Kleidung, die wir besaßen. Brot hatten wir keins mehr gekauft, ja, wir hatten auch schon aufgehört davon zu reden, so wie wir es früher gewöhnlich getan hatten. Meine Mutter begann sich ein wenig zu regen und stellte – wie es mir schien — im Schlaf leise eine Frage. Dann auf einmal schien meine Mutter völlig erschrocken und fragte, welches Datum heute sei. Da wir bereits zwei Tage kein Brot gekauft hatten, errechneten wir, dass es der 10. Januar 1942 sein müsste. Und plötzlich sagte sie, dass wir an diesem für sie so glücklichen Tag nicht sterben dürfen, da heute der Geburtstag von Lusja, also mein Geburtstag, sei. Wir sollten heute vielmehr aufstehen und uns daranmachen, Schnee wegzuräumen. Wahrscheinlich hatte sie im Radio gehört, dass freiwillige Helfer gesucht wurden.
Heute ist für mich dieses Datum nicht nur mein zweiter Geburtstag, sondern auch der Geburtstag für uns alle, für meine Mutter und für meine Schwester. Wir gingen in Richtung Skorochodowaja-Straße, wo man die Menschen zu Arbeitsdiensten einteilte. Zuerst machten wir drei Schritte und blieben stehen. Doch nicht für lange. Dann gingen wir zehn weitere Schritte. …. Ich erinnere mich noch, wie wir die Schritte zählten, aus Angst, dass es nicht mehr sind, denn vielleicht wäre mehr für uns schon zu viel gewesen. Immer wenn wir stehen blieben, achteten wir darauf, nicht zu erfrieren“. …
[i] Josué de Castro, Geographie des Hungers. Verkürzte Übersetzung aus dem Englischen. Moskau 1954
Uebersetzt von Henrik Hansen
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