Neujahr – wie ich es noch in Erinnerung habe
Das Neujahrfest von 1944 ist das erste, an das ich mich erinnern kann. Auf dem Marktplatz von Totma hatte man eine gewaltige Tanne aufgestellt und diese mit Spielzeug aus Eis geschmückt. Dazu hatte man in irgendwelche Kochtöpfe, Schraubgläser und Schalen gefärbtes Wasser gegeben und in diese kleine Bänder in Schlaufenform gelegt. Das ganze hatte man dann frieren lassen und an den Baum gehängt. Auf den Zweigen hatte man aus verschiedenem Buntpapier zusammengeklebte Girlanden und echte eingefärbte Schneebälle ausgelegt. Das war der erste Tannenbaum, der seit Beginn des Krieges von der Stadt aufgestellt worden war. Es war so ein großer und schöner!
Schon lange vor dem Neujahrsfest hatte mir eine von unseren Lehrerinnen, ich glaube die, die Schorochowa hieß, Väterchen Frost als Puppe geschenkt. Diese Schorowowa brachte mir manches Mal kleine Geschenke mit oder steckte mir irgendwelche Süßigkeiten zu. Sie kam öfter einmal in den Pausen zu uns in unser kleines Zimmer, wenn ich krank war und so nicht in den Kindergarten gehen konnte. Es gefiel ihr, mich mit kleinen Späßen zu necken: „Ja, alles klar, wieder einmal entzündete Hinterlist“. Ich machte mir dann so meine Gedanken: Wenn es also eine Entzündung der Hinterlist ist, dann bedeutet es, dass Hinterlist eine Krankheit ist und etwas Schlechtes. Um aber nicht in den Kindergarten gehen zu müssen, bedurfte es aber einfach einer richtigen Hinterlist, zu der ich, wie mir scheint, ein gewisses Talent hatte.
Väterchen Frost, den sie mir geschenkt hatte, trug einen hellblauen Pelzmantel mit einem weißen Pelzbesatz. Der Pelz hatte einen glänzenden Überzug. Ich hatte diesen an einer Stelle etwas aufgebohrt und unter der harten äußeren Schicht kam weiche Watte hervor. „Der Frost, dieser Recke, schiebt Wache und beschaut seine Besitzungen“ – diese Verse von Nekrassow hatte meine Mama mit mir zusammen auswendig gelernt. Viele Worte blieben mir unverständlich, doch der Frost, der Recke, schien mir streng, ja sogar böse, gar nicht so wie meiner aus Watte, der mir so gutmütig zulächelte.
Einmal saß ich auf einem breiten Fensterbrett und spielte mit meiner einzigen Puppe, die ich hatte – dem Väterchen Frost, der nun, neben mir sitzend, etwas kleiner war als ich. Plötzlich betrat ein Unbekannter in Uniform das Zimmer. Meine Mutter rannte auf ihn zu, überhäufte ihn mit Küssen und weinte. Ich verstand gar nichts. Was ist das für ein Mann in Uniform und warum küsst ihn meine Mutter und weint? Endlich wandte sich meine Mutter von ihm ab und erklärte mir: „Das ist dein Papa, dein Papa, hast du ihn denn nicht erkannt?“ Nein, ich hatte ihn nicht erkannt, denn ich hatte ihn mehr als zwei Jahre nicht gesehen und auch noch nie in einer Uniform. Auf dem Foto, das bei uns eingerahmt auf dem Tisch stand und vor dem Krieg aufgenommen worden war, war mein Vater ein ganz anderer. Der neue Vater erkannte mich aber auch nicht gleich. Er hatte immer noch das kleine, schön zurecht geputzte Engelchen im Gedächtnis, und nun stand vor ihm ein dürres, zahnloses (die Milchzähne waren ausgefallen) Mädchen, der man den Schädel kahl geschoren hatte, in einer fahlen, ausgeblichenen Kleidung. (Da es bei uns kaum Seife gab, wusch meine Mutter mit einer Wäschelauge aus gekochter Asche). Als er mich jedoch erkannt hatte, nahm mein Vater mich auf den Arm, presste mich an sich, küsste mich und flüsterte mir zärtliche Worte zu. Dann hielt er mich wieder weiter von sich, betrachtete mich und drückte mich dann wieder an sich, an seinen kalten, ledernen Gürtel, den er um seine Brust gebunden hatte.
Es stellte sich heraus, dass er auch für meine Mutter völlig unerwartet erschienen war. Er hatte lange darum gebeten, für einen kurzen Urlaub zu seiner Familie nach Hause gelassen zu werden. (Ja, auch im Krieg wurde Urlaub gewährt, wie man es aus den Briefen der Eltern herauslesen kann). Aber aus irgendeinem Grunde hatte man ihm bisher keinen Urlaub gegeben. Und plötzlich hatte es sich zufällig ergeben, dass das Flugzeug, mit dem er mit einem militärischen Auftrag nach Moskau unterwegs war, für einige Stunden auf dem Flugplatz von Totma zwischenlandete. Zu Fuß war mein Vater vom Flugplatz bis zur Schule gekommen (es war nicht gerade ein Katzensprung) und hatte auf dem Weg furchtbare Angst, dass er uns zu Hause nicht antreffen würde. Dann wurde ich losgeschickt, um ein wenig spazieren zu gehen und mein Vater musste dann auch bald wieder los. Meine Mutter begleitete ihn bis zum Flugplatz, mich nahm sie dafür nicht mit. Als sie zurückgekommen war, brach sie erneut in Tränen aus, meinte aber, dass dies Tränen des Glücks seien. Dabei hatte sie mir selbst tausend Mal erklärt, dass ich schon ein großes Mädchen bin und dass Große nicht mehr weinen!
Das nächste Mal sah meine Mutter meinen Vater schon nach einigen Monaten wieder – in einem Lazarett in Tscherepowez. Er war verwundet und hatte ein Bein verloren. Meine Mutter hatte den Piloten von Totma gebeten, sie nach Tscherepowez mitzunehmen. Sie hatte ihm viel Geld dafür bezahlt und sogar Schulden gemacht. Sie flogen hin und zurück in der eisigen Pilotenkabine. Der Flieger hatte einen Pelz, meine Mutter dagegen einen einfachen Mantel für die Übergangszeit (wir hatten damals noch keine Wintermäntel. Meine Mutter hatte gedacht, dass der Krieg bald vorübergeht und deshalb nur das Nötigste aus Leningrad mitgenommen). Meine Mutter jedoch, die auf dem Flug völlig steif gefroren war, wurde nicht krank. Sie war glücklich, dass sie ihren Sascha wiedersah und dass die ständige Angst, dass er an der Front getötet werden könnte, nun ein Ende hatte. (Obwohl sie ihren Mann in einem völlig verzweifelten Zustand vorfand – das amputierte Bein schmerzte sehr, es gelang ihm nicht auf Krücken zu gehen, er konnte sich nicht damit abfinden, dass er nun kein kräftiger Mann mehr war, sondern ein hilfloser Krüppel). Viele Anfechtungen mussten die beiden noch durchstehen – doch davon ein anderes Mal. In diesem Moment war es das reinste Glück, denn sie hatten sich wieder und vor ihnen lag nun ein, wenn auch schwieriges, so doch friedliches Leben. Im Tagebuch meiner Mutter vom 4. April 1943 heißt es: Wenn ich und er das alles überleben werden, dann wird es ein neues Leben, ja, ein zweites Leben sein – ein Traum, der aber wohl ganz unwahrscheinlich ist“. Dieser Traum nun wurde voller Schwierigkeiten und Probleme Wirklichkeit.
Zu Neujahr 1943/44 gab es noch zwei Ereignisse, von denen ich berichten möchte. In unsere Schule hatte man ein Puppentheater eingeladen. Die Spieler waren schon angereist und bereiteten sich auf ihre Vorstellung vor. Da wir in der Schule unser Zimmer hatten, fühlte ich mich in ihr wie zu Hause und schaute überall nach dem Rechten (außer mir und meiner Mutter wohnte niemand mehr in der Schule. Alle hatten ihr eigenes zu Hause). Meine Mutter ließ mich nie allein auf die Straße. Deshalb spielte ich tagsüber oft vor der Eingangstür, denn dort passierte immer etwas Neues und Interessantes. Es gab nur eine Tür hin nach draußen. Dank dieser Tür erkannte ich die Schule nach vielen Jahren wieder, denn diese befand sich genau an der Nahtstelle zwischen zwei neunzig Grad zueinander stehenden Gebäudeflügeln aus Ziegelsteinen. (Später habe ich einmal in einem Reiseführer gelesen, dass dies eine „originelle architektonische“ Lösung sei). Ich hatte das niedrige, breite Fensterbrett wiedererkannt, auf dem ich mit meinem „Väterchen Frost“ gespielt hatte.
Wenn ein Unbekannter die Schule betrat, stellte ich mich ihm voller Stolz als die Tochter des Direktors vor und fragte: „Bitte, was wollen Sie?“ Meine Mutter hatte von meiner Initiative keine Ahnung.
Am Abend der Vorstellung hatte ich keine besondere Eile, um zur Aufführung zu gelangen. Ich war mir sicher, dass es für mich immer einen freien Platz geben wird. Meine Mutter hatte noch irgendetwas in der Schule zu erledigen, als sie plötzliche ein schallendes Gelächter im Saal hörte. Sie beeilte sich nun, denn sie nahm an, dass die Vorstellung bereits begonnen habe. Wie muss sie verwundert geguckt haben, als sie sah, wie sich der ganze Saal vor Lachen kaum halten konnte und auf der Bühne vor dem Wandschirm wie auf einem Thron mit dem Rücken zum Publikum ihre Natascha Platz genommen hatte. Meine Mutter holte mich voller Scham von der Bühne herunter, brachte mich auf den Korridor und begann mich mit strenger Mine auszufragen, was denn geschehen wäre. Ich erklärte, dass ich in den Saal getreten sei und dass ich, als sich herausstellte, dass alle Plätze in der ersten Reihe schon besetzt waren, in unser Zimmer gegangen bin und mir von dort einen Stuhl geholt und ihn auf die Bühne gestellt habe. Ich war mir sicher, dass ich niemanden stören würde, da die Puppen ja oberhalb des Wandschirmes ihr Spiel aufführen würden. Meine Mutter begann mit mir zu schimpfen, dass man so etwas nicht machen könne, weil es sich nicht gehört. Doch da begann die Vorstellung und wir wurden in den Saal gerufen.
Nach der Aufführung erzählte irgendein Spaßvogel meiner Mutter, dass ich die Leute oft zum Lachen bringen würde, indem ich mich als die Tochter der Direktorin ausgebe (was ist daran so lustig, wenn dies doch die Wahrheit ist?). Meine Mutter erklärte mir daraufhin, dass sie als Direktorin eine sehr verantwortungsvolle Stelle hätte und dass ich selbst zu ihr (zu dieser Stelle und zu dieser Verantwortung) überhaupt keine Beziehung hätte. Nun gut – entschied ich — werde ich also nicht mehr vor den Leuten angeben, dass ich die Tochter des Direktors bin, sondern nur noch mit etwas, was mich ganz alleine betrifft.
Das Puppentheater war dann zu Ende, Väterchen Frost und seine Begleiterin, das Schneeflöckchen, begannen kleine Geschenke, in Zeitungspapier gewickelt, an die Kinder zu verteilen. Heute kann man sich nur schwer vorstellen, was so ein Geschenk für die Kinder der Kriegsjahre bedeutete. Für die meisten war es das einzige Geschenk im Jahr. Den Schülern (und mir, wahrscheinlich weil ich die Tochter der Direktorin war) gab man einen Gutschein für ein Geschenk. Vor dem Väterchen Frost hatte sich eine lange Schlange gebildet. Ich stand irgendwo am Ende und wegen meines kleinen Wuchses sah ich vor mir nur Beine und Rücken. Plötzlich neigte sich zu mir ein mir unbekannter Mann und machte mir einen Vorschlag: „Komm, tritt nur zur Seite! Ich hole für dich das Geschenk ab“. Ich gab ihm voller Vertrauen meinen Gutschein und stellte mich an die Seite. Es waren viele Menschen da und so verlor ich den Mann bald aus den Augen. Ich wartete auf ihn und wartete und dann war plötzlich die Schlange verschwunden und der Sack von Väterchen Frost war leer. Alle machten sich schon auf den Heimweg. Ich ging zu meiner Mutter, weil ich dachte, dass man ihr mein Geschenk gebracht hatte. Aber nein: sie hatte es nicht. Was habe ich da lange und bitterlich geweint! Das war meine erste richtige Enttäuschung von den Erwachsenen. Aber auch diese waren dann völlig ratlos. Wer war wohl dieser Mann und woher war er? In Totma der Kriegstage konnte man alle Männer an einer Hand abzählen und auch die waren entweder Krüppel oder Alte.
Ich beschließe meine Erzählung mit einem Gedanken über die Hinterlist, warum sie nötig war, um nicht in den Kindergarten gehen zu müssen. Denn dorthin wollte ich auf keinen Fall. In erster Linie, weil man dort gezwungen wurde, nach dem Mittagessen zu schlafen. Ich verabredete mit einem Mädchen, wie wir die Erzieherin austricksen können. Wir erzählten beide, dass unsere Mütter darum gebeten hätten, uns früher nach Hause zu schicken, weil diese mit uns in das Badehaus gehen wollten. Man lies uns gehen, wir aber machten uns zu einem Spaziergang auf (es war Frühling, das Wetter war warm und die Butterblumen blühten. Ich erinnere mich noch bis heute an dieses süße Gefühl ohne Aufsicht zu sein).
Das Interessanteste bestand darin, dass das Mädchen taubstumm war und meine Mutter es auch später nicht begreifen konnte, wie es mir gelungen war, mich mit dem Mädchen kurzzuschließen.
Während wir in unserer Freiheit wandelten, brachte ich das stumme Mädchen zu ihr nach Hause. Dort waren Erwachsene und ich erklärte, dass man uns heute früher aus dem Kindergarten nach Hause geschickt hätte. Daraufhin begannen wir, das Mädchen und ich, gemeinsam bei ihr zu Hause zu spielen.
Am Abend kam meine Mutter in den Kinderarten, um mich abzuholen. Dort sagte man ihr, dass ich nach Hause gegangen sei, um zusammen mit ihr (meiner Mutter) in das Badehaus zu gehen. Nun stellte sich natürlich heraus, dass alles gelogen war. Meine Mutter war sehr aufgeregt, lief alle Straßen ab und fragte überall, ob niemand ihre sechsjährige Tochter gesehen habe. Jemand erinnerte sich dann, dass er mich mit dem stummen Mädchen gesehen habe (warum man meiner Mutter dies nicht gleich im Kindergarten gesagt hatte?). Meine Mutter rannte zu ihren Eltern und alle begannen auf mich loszuschimpfen, denn es war klar, dass ein stummes Mädchen nicht auf eine solche Idee hätte kommen können. Dann kam es bald zu einem neuen Skandal, denn es stellte sich heraus, dass das stumme Mädchen, als wir zusammen spielten, ein Seidenkleid zerschnitten hatte und ihre Mutter behauptete, dass ich es gewesen sein muss, die dies getan hat, weil (als Beweis!) ihre Tochter keine Schere in der Hand halten könne, ich dazu aber in der Lage sei (das hatte meine Mutter ihr gesteckt). Die Erwachsenen sind schon komische Leute: ich, die ich mit einer Schere umgehen konnte, wäre nie auf die Idee gekommen, ein fremdes Kleid völlig sinnlos zu zerschneiden.
Für dieses Mal bekam ich nur Schelte. Meine Mutter bestrafte mich selten. Sie setzte auf Überzeugung und erreichte es schließlich, dass ich um Verzeihung bat. Ich musste es tun, damit der Frieden wieder hergestellt wurde, obwohl ich in meinem Inneren mit ihr nicht immer einverstanden war.
Uebersetzt von Henrik Hansen
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