12 November 2015| Mazurina Xenia Maximovna

Meine weise Mutter

Xenia Maximovna Mazurina wurde in der Blockade zwei Mal verletzt, was zu einer Tuberkulose des Hüftgelenks führte. Nach dem Krieg arbeitete sie an der Leningrader Fernmeldeakademie, die nach S.M. Budennij benannt war. Ab 1972 war sie dann in einer der Leitungsstrukturen innerhalb der Behörde für Datenübertragung tätig. Sie ist mit der „Juri-Gagarin-Medaille“ und mit einem Diplom der Raumfahrtbehörde ausgezeichnet worden.

 

Ich stelle mir oft die Frage: Wie und warum ist es unserer Familie gelungen zu überleben?“ Überall wütete der Tod, so viele Menschen starben direkt neben uns an Hunger, Kälte oder durch den ununterbrochenen Beschuss der Stadt oder die Bombenangriffe. Wir haben die Hölle auf Erden erlebt und sind am Leben geblieben. Den größten Verdienst daran gebührt meiner Mutter, Smirnowa, Evdokia Iwanowna. Sie hat uns vor dem unentrinnbaren Tod gerettet. Meine Mutter ist eine Heldin. Sie hat zehn Kinder geboren und ist mit dem Orden „Mutter in Ehren“ ausgezeichnet worden.

Noch zu ihren Lebzeiten hat sie fünf Söhne verloren. Zwei sind zu Beginn der 30-iger Jahre an einer Krankheit gestorben. Vasja und Seresha sind 1941 in den ersten Tagen des Krieges an der Grenze bei der Verteidigung ihrer Heimat gefallen. Der fünfte Sohn Wolodja, der im Januar 1942 in Leningrad während der Blockade geboren wurde, hat die Blockade überlebt, ist aber auf dumme Weise 1946 ums Leben gekommen. Nur ein Sohn, Mischa, der 1926 geboren wurde, ist übrig geblieben. Er hat sich 1943 freiwillig zur Armee gemeldet, hat Leningrad verteidigt und war beim Sturm auf Berlin dabei. Er hat viele Auszeichnungen von Seiten der Regierung bekommen, so auch die Medaille „Für Heldenmut“.

Meine Mutter war eine weise Frau. In ihrem Leben hat sie vier Kriege überlebt: den ersten Weltkrieg, den Bürgerkrieg, den Finnischen Krieg und den Großen Vaterländischen Krieg. Niemand weiß, wie viele Narben all das Erlebte in ihr hinterlassen hatte. Als der Große Vaterländische Krieg begann, war sie gerade einmal 40 Jahre alt.

Um in der Blockade zu überleben, half uns auch, dass unsere Familie groß war und wir zusammenhielt. Wir hatten auch vor dem Krieg nicht viel, mussten immer an allen Enden sparen und lebten sozusagen von der Hand in den Mund. Meine Mutter bemühte sich unsäglich, dass es uns an nichts fehlte und wir von all dem nichts spürten. Sie sorgte stets dafür, dass wir immer ordentlich angezogen waren, nicht schlechter als unsere Altersgenossen. Sie war eine gute Schneiderin. Da wir nicht genug Geld hatten, nähte sie unsere Kleidung, aus der wir bereits herausgewachsen waren, oft um. Sie bemühte sich uns einzutrichtern: „Nicht der ist reich, der vieles hat, sondern der, der es zu hüten weiß“.

Warum haben wir nicht über die „Straße des Lebens“ die Stadt verlassen? Meine Mutter erklärte es uns in etwa so: „Wohin soll ich mit all diesem Knäul fahren? Ich schaffe es doch nicht einmal, sie bis an den Ladogasee zu bringen. Sie werden mir doch schon auf dem Weg dorthin alle erfrieren. Wenn es so sein soll, dass wir sterben müssen, dann in Leningrad. Ich weiß nicht, warum sie uns einen „Knäul“ nannte.

Mein Bruder Mischa war 15 Jahre, meine Schwester Anna 13. Ich und Mascha, wir waren 10 ein halb. Mein Vater war in der Volkswehr, meine älteste Schwester half Schützengräben ausheben und arbeitete bei der Holzversorgung. Ich denke, dass es auch nicht ganz unbedeutend war, dass meine Mutter schwanger war, obwohl sie darauf nie verwiesen hat. Und dann stand ja auch die Frage, wohin wir überhaupt fahren sollten? Niemand wartete auf uns. Es reisten die aus, die zusammen mit ihren Betrieben und Fabriken evakuiert wurden oder die im Hinterland Verwandte hatten, also einen Ort, wo sie hinkonnten. Er fuhren diejenigen, die Geld hatten und entsprechende Kleidung für den Winter. Meine Mutter konnte sich einfach nicht entschließen, ohne ihren Mann zu reisen, wo sie dazu noch schwanger war, und ohne eigentlich zu wissen, wohin.

Das erste Mal gerieten ich und Mascha in den Bombenhagel, als wir zu Beginn des Krieges in das Kaufhaus am Narvator gefahren sind, um dort ein kleines Schränkchen für unsere Puppen zu kaufen. Ein Milizionär, der auf seinem Posten stand, hat uns in einen Luftschutzkeller gejagt, da wir ja selbst nicht dorthinein gehen wollten. Wir hatten Angst, dass wir so zu spät kommen werden und unsere Mutter sich Sorgen machen wird. Als Entwarnung gegeben wurde, traten wir aus dem Keller heraus und sahen, dass es den Milizionär in Stücke zerfetzt hatte. So haben wir das erste Mal dem Schrecken des Krieges in die Augen gesehen.

Während der Blockade sind wir zwei Mal umgezogen. Zuerst haben wir im Leninbezirk auf dem Gaza-Prospekt gegenüber vom Kinotheater „Moskau“ gewohnt. Unser Haus befand sich etwa 8-10 Kilometer von der Verteidigungslinie entfernt, in Richtung der Hauptvorstoßrichtung der Faschisten. Im ersten Blockadewinter — der Winter war hart — haben wir fast unsere gesamten Möbel verbrannt, um das Zimmer einigermaßen warm zu bekommen. Im Februar 1942 haben wir dann die Wohnung gewechselt. Wir haben uns etwas weiter weg von der Verteidigungslinie, im Vyborger Bezirk eine Wohnung genommen. Im März 1942 schlug dann aber dort im Haus ein Geschoss ein. Die Wohnung wurde total zerstört und ich und meine Mutter verletzt. Da die Wohnung danach nicht mehr bewohnbar war, mussten wir noch einmal umziehen. Zu dieser Zeit gab es in Leningrad viele leerstehende Wohnungen. Wir hätten also in eine große und geräumige Wohnung ziehen können. Doch meine Mutter hat gemeint: „Wir brauchen eine sehr kleine Wohnung, denn die ist leichter warm zu halten. Wärme, Wasser, Brot – so können wir leben“. Auf Schlitten — der Städtische Nahverkehr war eingestellt — fuhren wir in den Kalininbezirk und bezogen ein Zimmer mit Küche in einem Holzhaus, wo wir dann auch nach dem Krieg wohnen blieben.

Vom 20. November bis 25. Dezember 1941 wurde die kleinste Brotration ausgegeben: für einen Arbeiter gab es 250 Gramm und für alle anderen 125 Gramm.  Meine Mutter teilte jeden Tag die Ration in drei Teile auf und gab uns so ein Stück zum Frühstück, eins zu Mittag und eins zum Abendbrot. Sie hat uns das Brot erst dann gegeben, nachdem wir schon ein halbes Glas von einem Tannennadelaufguss getrunken hatten. Zu all dem tranken wir nur heißes Wasser. Manchmal gelang es meiner Mutter, irgend so etwas, was als „Suppe“ durchgehen konnte, zu kochen. Die Tannennadeln retteten uns vor Skorbut. In der Stadt war die Herstellung von Tannennadelextrakten recht gut organisiert. Es gab sogar eine bestimmte angestrebte Menge als Tagesproduktion. Pro Tag sollten 800 Gramm gewonnen werden. Meine Mutter zupfte die Nadeln selbst nicht, sondern schnitt mit einem Messer den verharzten Teil von den Schuppen ab, denn in diesen befand sich das für die Gesundheit schädliche Harz. Danach zerstieß sie die Nadeln in einem Mörser und goss sie mit Wasser auf.

Als wir gerade beim Umzug in den Engels-Prospekt waren, tauschte meine Mutter ihr neues Seidenkleid in ein drei Liter-Glas voller minderwertiger Kohlblätter ein. Das war für uns ein Festtag. Wir gaben auch unserer Nachbarin etwas ab. Nach einigen Tagen brachte auch sie uns eine „Suppe“, die sie aus ihrem Gummibaum gekocht hatte. Meine Mutter sagte zu ihr, dass man diese Suppe nicht essen dürfe, da sie giftig ist. Die Nachbarin jedoch hörte nicht auf sie. Sie lag daraufhin einige Tage darnieder und starb dann auch bald. Ich weiß nicht, ob sie sich wirklich vergiftet hatte oder einfach zu viel gegessen hatte.

Hunger und Kälte, Bomben und Artilleriebeschuss mähten die Leute weg wie eine Sense Gras. Sie machten keinen Halt vor jeglichem Alter. Am meisten jedoch litten die Kinder und ihre noch nicht ausgereifte psychische Konstitution. Die Erwachsenen versuchten alles, was in ihrer Macht stand, um den Kindern ihr Schicksal zu erleichtern. Doch ihnen waren die Hände gebunden. Eine unserer Verwandten riet unserer Mutter: „Dunja, nicht alle können überleben. Hilf den Älteren!“ Wie man in dieser Zeit jemandem helfen konnte, dass können Sie sich vorstellen. Ein geschenkter Zwieback konnte manchmal ein ganzes Leben retten. Doch meine Mutter meinte: „Wie soll ich ihnen nichts zu essen geben, wenn sie mich doch mit hungrigen Augen ansehen?“ Diese Frau hat daraufhin gesagt: „Dann wirst du als Erste sterben“. Meine Mutter entgegnete ihr: „Gut, mag ich auch sterben, dafür aber mit reinem Gewissen. Die Kinder bleiben dann aber vielleicht am Leben“.

Als der Ladogasee im Frühjahr 1942 nicht mehr befahrbar war, haben wir drei Tage lang kein Brot bekommen. Dann jedoch gab man uns mit einem Mal eine Drei-Tages-Ration Maismehl. Einige Leningrader, die in den Schlangen standen, fielen einfach um und starben vor Hunger. Man zog sie zur Seite, die Schlange ordnete sich wieder, und die Leute blieben stehen und warteten. Wir waren so sehr an Tote gewöhnt, dass sie schon bei niemandem mehr Angst auslösten.

Zu Beginn des Frühlings sammelten wir rund um die Kolchose „Bächlein“ Kräuter, die man als Nahrung verwenden konnte: Sauerampfer, Brennnessel, Melde und Löwenzahn. Leider wussten wir während der Blockade noch nicht, dass man auch Barbarakraut und Asseln, Sauerklee und Rentiermoos, Bärenklau und Diestel- bzw. Löwenzahnwurzeln sowie Weidenröschen usw. in der Nahrung verwenden kann. Am wertvollsten waren für uns Melde und Brennnessel, da man daraus Suppe kochen konnte. Nicht von ungefähr stand deshalb auf den Flugblättern, die die Deutschen über der Stadt abwarfen, geschrieben: „Esst nur die Melde auf, bald kommen wir mit Brot zu euch, auch eure Linsen werden euch ausgehen, dann werdet ihr Moskau und Leningrad uns überlassen“.  Im Laufe des gesamten Frühlings, Sommer und Herbstes waren wir damit beschäftigt, die Kräuter und Pflanzen für den Winter einzumachen, obwohl die besten Ernten die von bis Mitte Juli waren, denn bis zu diesem Zeitpunkt waren die Blätter noch jung und fein.

Während der Blockade hatte niemand von uns auch nur einmal Läuse, obwohl andere sie hatten. Da es keine Seife gab, schüttete meine Mutter Asche in Gaze, band diese zusammen und kochte sie in Wasser. Mit dieser basischen Lauge, die bis zu einem gewissen Grad noch verdünnt wurde, wuschen wir uns. Um Wasser zu bekommen, tauten wir Schnee auf, denn auch die Wasserleitungen funktionierten nicht.

Große moralische Unterstützung gab uns die Tatsache, dass unsere Soldaten die Deutschen vor Moskau und in Stalingrad geschlagen hatten. Wir wussten, was an den Fronten des Großen Vaterländischen Krieges passierte. Ungeachtet der Tatsache, dass zu Beginn des Krieges die Volksempfänger konfisziert wurden, gab es bei uns in der Wohnung ein kleines Radio.

Haben wir Kinder während der Blockade in Leningrad arbeiten müssen? Was meinen Sie selbst? Als die Blockade am 27. Januar 1944 endgültig durchbrochen wurde, waren Mascha und ich 13 Jahre alt. Doch während der Blockade galt unser Alter bereits als groß genug. Es gab auch kein Gesetz, das Kinderarbeit verbot. Wir hatten keine Sozialversicherungsbücher, doch wir arbeiteten und das kostenlos. Für den Sieg.

Meine Schwester Mascha und ich haben auf den Feldern der Kolchose „Bächlein“, aber auch im Menschtikow-Krankenhaus, das während des Krieges zu einem Lazarett umfunktioniert worden war, gearbeitet. Sofort nachdem die Blockade am 18. Januar 1943 zum ersten Mal durchbrochen worden war, wurden in dieses Krankenhaus ganze Züge mit Verwundeten gebracht. Die Züge fuhren bis direkt vor das Krankenhaus, denn man hatte extra zwei Schienenstränge dafür gelegt.

In dieser Zeit waren viele Schulen, Gebäude und Krankenhäuser zu Lazaretten umfunktioniert worden. Trotzdem gab es im Mentschikow-Krankenhaus zu wenig Platz. Die Verwundeten lagen auf den Korridoren, und es fehlte an Medikamenten. Das medizinische Personal „erstickte“ in Arbeit, und es war Hilfe nötig. Deshalb wurden wir, die Schüler der 146. Schule, die sich unweit des Krankenhauses auf dem Menschtikow-Prospekt befand, jeden zweiten Tag zu Schichtdiensten in dieses Krankenhaus geschickt.

Zu unseren Aufgaben zählte es, die Verwundeten zu füttern, sie zu pflegen, die Enten auszuschütten und die Räume in Ordnung zu halten. Wir mussten Wäsche waschen und Binden bügeln. Da es Einschränkungen mit der Stromversorgung gab, benutzten wir Bügeleisen, die entweder mit Kohle oder mit Kerosin heiß gemacht wurden. Wenn wir nach Hause kamen, wollten uns unsere Beine kaum tragen: erstens weil wir Hunger hatten, zweitens weil die Straßen völlig mit  Schnee zugeweht waren, und es niemanden gab, der sie räumte.

Viele der verwundeten Soldaten waren 17-18 Jahre alt. Die meisten hatten schwere Verletzungen. Wir kamen jeden zweiten Tag und mussten oft begreifen, dass die, um die wir uns das letzte Mal gesorgt hatten, schon nicht mehr am Leben waren. Ich habe mein ganzes Leben lang nicht vergessen, wie ich mich einmal um einen jungen Matrosen gekümmert habe. Er war dem Aussehen nach so etwa 18 Jahre alt und am Hals verletzt. Man hatte ihm ein spezielles Röhrchen in den Rachen hineingeschoben mit einem Trichter dran, um ihm durch diesen Nahrung zuzuführen. Er konnte selbst nicht essen und deshalb habe ich ihn mit einem Löffel gefüttert. Unsere Arbeit war also nicht die leichteste.

Außerdem haben Mascha und ich uns sehr aktiv um das Kulturprogramm gekümmert. Meine Schwester hatte eine sehr gute Stimme und in der Schule hat es nicht ein Konzert gegeben, in dem sie nicht mitgesungen hat. Deshalb haben uns die Lehrer neben der Arbeit noch zusätzlich aufgetragen, vor den Verwundeten aufzutreten. Wir haben unser Repertoire sehr sorgfältig ausgesucht. Dabei haben uns unsere Lehrer natürlich geholfen. Wir haben versucht, sowohl heroische Texte als auch lyrische zusammenzustellen. Mascha sang die Lieder „Blaues Kopftüchlein“ und „Hände“, „Andrjuscha“ und „Singe, Ziehharmonika“, „Es gibt kein zurück“ und „Wie meine Mutter mich zum Zug begleitet hat“, „Dunkle Nacht“ und „Mischka Bärchen, wo ist dein Lächeln“, „Der Schleppkahn voller Meeräschen“ und „Du, mein entlaubter Ahorn“ und viele andere. Ich habe die zweite Stimme gesungen, doch meistens habe ich Gedichte vorgetragen. Zu meinem Repertoire gehörten zum Beispiel viele Verse der Dichterin Vera Inber.

Wenn ich jetzt zurückschaue, dann wird mir immer klarer: Leningrad hat unter anderem auch deshalb der Blockade standgehalten, weil Kinder in der Stadt verblieben sind. Die Erwachsenen kämpften für die Zukunft, doch diese Zukunft, das sind eben die Kinder. Dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk von Vera Inber. Ebenso habe ich auch Verse des ukrainischen Dichters T.G. Tschewtschenko („Die Fronarbeit“), „Warte auf mich“ von K.D. Simonow, die Gedichte „An Tschaadaew“ und „In der Tiefe der Erze Sibiriens“ von. A.S. Puschkin und Auszüge aus dessen Roman „Eugen Onegin“ vorgetragen.

Und wie haben uns die verwundeten Krieger empfangen! Wenn wir auftauchten, dann regte sich rundherum überall Leben. Auf den Gesichtern tauchte ein Lächeln auf, und es schien, als ob alle schon gesund geworden sind. Sie haben uns mit Beifall begrüßt und so auch wieder verabschiedet. Wenn wir Gedichte vortrugen oder sangen, dann hatten viele Soldaten, besonders die älteren, Tränen in den Augen. Nach den Auftritten haben sie immer versucht, uns irgendetwas zu geben: der eine ein Stück Zucker, ein anderer ein Stück Brot. Doch wir haben von ihnen nichts genommen, denn wir wussten, dass auf viele von ihnen nach ihrer Genesung wieder die Front wartete.

Sie wollten sehr gerne, dass wir zu jedem Einzelnen von ihnen kommen, sie berühren und dass wir für jeden von ihnen ein passendes Wort finden. Ich denke, dass in diesen Momenten in ihrer Seele irgendetwas Warmes geweckt worden ist, was sie mit ihren eigenen Familien, Kindern und Liebsten verband, die sie irgendwo in der Ferne zurückgelassen hatten. Sie alle wollten schrecklich gerne nach Hause. Sie baten uns oft: „Ihr Schwestern, geht auf die Station, wo die Schwerstverletzten liegen! Singt für sie und lest ihnen Gedichte vor! Sie haben es jetzt sehr schwer“. Und so zogen wir in der Tat von Krankenzimmer zu Krankenzimmer. Es gab eine Unmenge von denen. In jedem Raum lagen 8-10 Verletzte. Im Lazarett gab es dutzende Pavillons und jeder von diesen hatte fünf Stockwerke. Manchmal bereiteten diejenigen, die schon recht gut genesen waren, selbst ein Konzert vor. Dann gesellten wir uns mit unserem Repertoire zu ihnen.

Im Frühjahr 1942 sind alle diejenigen, die dazu in der Lage waren, aus ihren Wohnungen herausgekommen, um die Stadt zu reinigen. Von überallher, aus den Waschküchen, Toreinfahrten und Kellern, wurden Leichen hervorgeholt. Man verlud sie auf Lkws und brachte sie auf den Piskarew-Friedhof. Dort hat man dann Gräben ausgehoben, die Leiber dort hineingelegt und sie danach wieder zugeschüttet. Diejenigen, die noch mehr Kraft hatten, zogen ihre Verstorbenen selbst auf Schlitten zum Friedhof. Es gab keine Särge. Man wickelte die Toten einfach nur in Laken ein. Einige hat man auch einfach so, wie sie waren, in die Gräben gelegt.

Im Sommer 1944 wurden wir Kinder, die wir die Blockade miterlebt hatten, hinaus aus der Stadt gebracht, zur Bahnstation Lebjashe hinter Peterhof. Dieses Stückchen Land hatte die Marine verteidigt, und dort waren nie Deutsche gewesen. Wir blieben drei Monate, und die ganze Zeit wurden wir fünf Mal am Tag verpflegt. Als wir nach Hause zurückkamen, sahen wir so gesund und pummelig aus, dass uns unsere Verwandten gar nicht wiedererkannten.

Die Blockade hat unser gesamtes noch bevorstehendes Leben stark geprägt: unsere Psyche, unseren Charakter und unsere Gesundheit. Kurz vor ihrem Tod hat unsere Mutter zu uns gesagt: „Vergesst das nie, Kinder: „Wenn jemand zu euch kommt, dann gebt ihm etwas zu essen, wenn nichts im Hause ist, dann macht ihm eine Tasse Tee“. Nach dieser Regel haben wir immer gelebt.

 

Uebersetzt von Henrik Hansen
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