Die Zwangsarbeiterin Nadja vom Schwarzen Meer. Ein Kriegserlebnis.
Als Ausgebombte aus Hannover lebte ich 1944 mit meinem kleinen Kind zeitweilig bei meinen Schwiegereltern in Hildesheim, die ein grosses Haus bewohnten. Mein Mann war an der Front. In unmittelbarer Nachbarschaft existierte eine Gastwirtschaft. Die Besitzer «beschaeftigten» eine junge russische Zwangsarbeiterin bei sich. Sie mochte ca. 20 Jahre alt sein. Es gab nur spaerliche Informationen ueber ihre Identitaet: Die junge Frau kam vom Schwarzen Meer und hiess Nadja. Mir gelang es, sie hin und wieder unbemerkt mit AEpfeln aus der Hausgartenernte zu versorgen.
Es entging mir jedoch nicht, dass Nadja von ihren «Arbeitgebern» haeufig geschlagen wurde. So wurde ich einmal unmittelbare Ohrenzeugin, dass sie von der Gastwirtsfrau furchtbare Schlaege bezog. Spaeter erfuhr ich den Grund fuer die Pruegel: Ein heimlich geschmiertes Schmalzbrot, wobei sich die unglueckliche Nadja hatte erwischen lassen. Ausserdem wurde sie regelmaessig waehrend der Fliegerangriffe aus dem Gemeinschaftsluftschutzkeller geschickt und angewiesen, draussen die Bombenabwuerfe zu beobachten. Nach jeglichen Entwarnungen hatte die vor Angst zitternde Frau entsprechende Berichterstattung zu leisten. Diesen unmenschlichen Befehl gab der zustaendige Luftschutzwart, der sich selbst vor seiner Aufgabe jedes Mal feige drueckte.
Nach dem Zusammenbruch 1945 verliess ich die Stadt Hildesheim, um per Zug mit meinem Kind nach Tuendern bei Hameln zu meiner dort lebenden Mutter zu fahren. Es herrschte ein unbeschreibliches Chaos. Ein merkwuerdiger Zufall wollte es, dass ich im Zugabteil die (nun befreite) russische Zwangsarbeiterin Nadja traf. Sie erkannte mich und laechelte mich freundlich an, blieb jedoch zurueckhaltend. Wenig spaeter betraten einige russische (ehemalige) Zwangsarbeiter das Zugabteil. Ehe ich es realisieren konnte, sprang einer der Maenner hasserfuellt auf mich zu und wollte mir mein kleines Kind entreissen, um es vermutlich aus dem Fenster zu werfen. Doch Nadja reagierte blitzschnell. Sie griff ein, indem sie den Mann festhielt, energisch in ihrer mir unverstaendlichen Sprache auf ihn einredete und auf mich wies. Er liess sofort von uns ab.
Nadja hatte meinem Kind das Leben gerettet und auch mich vor dem Schlimmsten bewahrt. Was mag aus ihr geworden sein?
Heute bin ich fast 91 Jahre alt, doch dieses Erlebnis wird mir unvergesslich bleiben.
Aus: http://www.dhm.de/lemo/forum/kollektives_gedaechtnis/