Die Vorlesungen von Kurtschatow oder die Wissenschaft an erster Stelle
Ich hatte das Glück bei Igor Wasiljewitsch studieren zu dürfen. Zuerst als Studentin des Physik-Mathematik-Bereichs an der Leningrader Pädagogischen Pokrowskij-Universität, wo er den Lehrstuhl leitete und zum Thema Kernphysik las, und dann später als seine Doktorandin. Die Vorlesungen von Igor Wasiljewitsch glichen nicht den typischen Vorlesungen der anderen Professoren. Er sprach schnell und lebendig, war sehr von seinem Fach begeistert und schien irgendwie sogar immer etwas aufgeregt zu sein. Seine Vorlesungen waren für uns interessante Reisen in die neue und geheimnisvolle Welt des Atomkerns, eine Reise durch die Labors von Wissenschaftlern verschiedener Länder. Er erzählte uns von den neusten Entdeckungen und Experimenten innerhalb dieses neuen und sich stätig weiterentwickelnden Wissenschaftszweiges, der Kernphysik. Alles, was Igor Wasiljewitsch uns berichtete, war so interessant, dass wir immer voll konzentriert und mit einem gewissen Gefühl freudiger Erwartung, nun gleich etwas Ungewöhnliches und sehr Wichtiges zu erfahren, seinen Vorlesungen folgten. Wir wollten nicht eines seiner Worte verpassen. Für uns Studenten waren die Vorlesungen von Igor Wasiljewitsch die interessantesten, und er selbst unserer liebster Dozent.
Unvergessen für mich war auch meine Zeit als Doktorandin mit Kurtschatow als mein wissenschaftlicher Mentor. In dieser Zeit beschäftigte sich Igor Wasiljewitsch sehr ausführlich mit dem Phänomen der Isomerie in Atomkerne. Auf seinen Vorschlag hin und unter seiner Anleitung begann ich einige Themen auf diesem Gebiet zu erforschen.
Igor Wasiljewitsch teilte mit uns Doktoranden auf sehr großzügige Weise all sein umfangreiches Wissen und seine interessanten Ideen. Er schaute uns gerne bei unserer Arbeit zu. Sehr oft und auch sehr unerwartet für uns erschien er plötzlich spät abends in den Labors (wir mussten oft abends und sogar nachts arbeiten, je nach dem wann wir aus dem Radium-Institut eine Ampulle mit strahlendem Radium geliefert bekamen). Er vertiefte sich dann sofort in unsere Arbeiten und Experimente, beobachtete, wie die Zähler arbeiten und bewertete die Größe der gemessenen Effekte. Er fragte uns aus und gab uns Tipps, interessierte sich für alles und entwickelte auf der Stelle Ideen für den weiteren Fortgang unserer Arbeit. Seine Anwesenheit hat uns nie eingeengt oder irritiert, ganz im Gegenteil, wir waren immer sehr erfreut, wenn er da war. Wir waren stolz darauf, dass wir mit ihm zusammenarbeiten durften und dass er sich um uns kümmerte, dass er sich für unsere Angelegenheiten interessierte und das sogar zu so später Stunde, wenn es für ihn eigentlich Zeit war, sich auszuruhen.
Wie ehrlich freute er sich über unsere Erfolge. Wenn es mal Schwierigkeiten oder Misserfolge gab, fand er immer die rechten Worte, um uns aufzumuntern und zu ermutigen. Wie haben diese Worte uns beflügelt und uns Kraft gegeben, weiterzuarbeiten! Deshalb machte es uns auch immer so viel Spaß, mit ihm zusammenzuarbeiten. Es war immer unheimlich interessant, obgleich er auch sehr viel forderte, sowohl von sich selbst als auch von uns. Was wissenschaftliche Wahrheit, Ethik und die Pflicht eines Wissenschaftlers angeht, kannte er absolut keine Kompromisse.
Die Pläne und Leitlinien, die Igor Wasiljewitsch uns Doktoranden vorgab, waren immer sehr hoch gesteckt. Sie zu erfüllen, war, Gott weiß, nicht immer leicht! Doch wenn wir arbeiteten, merkten wir gar nicht, dass wir müde wurden, denn wir waren wie beflügelt und begeistert bei der Sache. Anders war es auch nicht möglich, mit Igor Wasiljewitsch zusammenzuarbeiten. Alle, die mit ihm zusammengearbeitet haben, wissen das sehr gut. Er schlug ein hohes Arbeitstempo an, sorgte bei allen aber immer für gute Laune. Er selbst schien nie müde zu werden, war immer munter und froh und freute sich des Lebens. In allem, was er tat, war er zielstrebig und tatkräftig. Er vermochte es, Leute so zu organisieren und zu begeistern, dass sie mit großer Freude und unter voller Hingabe ihrer physischen Kräfte und kreativen Ressourcen zu arbeiten bereit waren. Auch das war eines der wunderbaren Talente von I.W. Kurtschatow.
Er war für uns immer ein Vorbild mit hohen moralischen Standards. Ungeachtet seiner von allen anerkannten gewaltigen Autorität (hinter seinem Rücken nannten ihn alle den „General“ – den Oberkommandierenden), war sein Verhältnis zu jedem einzelnen Menschen, ganz gleich ob dieser nun berühmt war, ob er eine leitenden Position inne hatte oder aber ein Arbeiter, ein Student oder eine Putzfrau war, immer gleich. Er war stets höflich, freundlich und einfach im Umgang und brachte allen seine Hochachtung entgegen. Ich erinnere mich noch, wie die Augen der alten Tante Mascha – die Putzfrau unseres Lehrstuhls — voller Rührung strahlten, wenn Igor Wasiljewitsch ihr entweder „Guten Tag“ oder „Auf Wiedersehen“ sagte (wenn er das Institut betrat oder es verließ), ihr mit gutmütigem und sanftem Lächeln die Hand drückte und ihr „Alles Gute“ wünschte. Tante Mascha war durch eine solche Aufmerksamkeit ihrer bescheidenen Erscheinung gegenüber von den anderen „wichtigen Personen“ des Lehrstuhls nicht gerade verwöhnt. Sie freute sich immer, wenn Igor Wasiljewitsch kam, war stolz, dass er sie wahrnahm und liebe, ja vergötterte deshalb den Leiter unseres Lehrstuhls.
Dank seiner vorbildhaften Haltung Menschen gegenüber, zur Arbeit und zu verschiedenen Situationen und Schwierigkeiten im Leben hatte Igor Wasiljewitsch auf uns, bei der Formierung unseres eigenen Verhältnisses zum Leben, einen riesigen Einfluss. Die Menschen, die mit ihm zusammenarbeiteten wurden dank seiner reiner und besser, denn sie hatten ein Vorbild vor sich, das ihnen zeigte, was wahre Uneigennützigkeit, achtsamer Umgang mit den Mitmenschen – unabhängig von deren Rang und Namen — sowie unsagbare Hingabe an ein großes Ideal bedeuten. Wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie dieser Igor Wasiljewitsch tagtäglich keinerlei Mühen gescheut und sich in nichts geschont hat, wie er sich ganz der Wissenschaft verschrieben und grandiose und titanische Leistungen zum Wohle der Menschen und seiner Heimat vollbracht hat. Sein gesamtes Verhalten und sein Vermögen, das Hauptsächliche im Leben zu sehen und diesem alles andere unterzuordnen, hat viele andere Menschen inspiriert und diese an ihre eigene Kraft und ihre Möglichkeiten glauben lassen.
Gleichgültige, unzuverlässige und antriebslose Leute hat Igor Wasiljewitsch nicht gemocht. Sie waren für ihn einfach langweilig und ohne Interesse. Wie jedoch lebte er auf, wenn er in Jemandem auf wahres und uneigennütziges Interesse stieß, auf Fleiß und schöpferisches Feuer, eigene Ideen und Initiative.
In alten Heften, die ich aus meiner Doktorandenzeit noch aufbewahrt habe, finden sich einige Randglossen von Igor Wasiljewitsch wie zum Beispiel: „Generalplan!“ In diesem Wort „General“ fühlt man ein wenig Ironie — aber eine gutmütige — und man erkennt in ihm förmlich das verschmitzte Lächeln von Igor Wasiljewitsch (der Generalplan für die Arbeit eines Doktoranden!) Der Arbeitsplan selbst jedoch war sehr hart gefasst. Ich sollte in kürzester Zeit eine große und sehr arbeitsaufwendige Untersuchung zum Thema der Isomerie von Atomkernen durchführen. Am Ende des Plans stand geschrieben: Arbeiten von 10 Uhr morgens bis 10 Uhr abends! Abends eine Ampulle mit strahlendem Radium von Mescherjakow aus dem Radiuminstitut holen und sie ihm am Morgen unbedingt wieder zurückbringen“ – und das ein paar Tage nacheinander. Am Ende findet sich dann wieder so eine typische Bemerkung von Kurtschatow, über die man nur schmunzeln konnte: „Am Donnerstag, falls der Zähler noch immer bei Laune ist, mit der „durchlöcherten Kleinigkeit“ und dem „Holz“ (spaßige Namen für verschiedene Filter, die wir bei unserer Arbeit mit den Geiger-Zählern benutzten) nach dem Antimon schauen. Alle nach der nächtlichen Konferenz vom 31.5. an die frische Luft und ins Theater. Alle!“ Und darunter in großen Zügen seine Unterschrift. – “Kurtschatow, 26.5. 1941“.
Was hat er nicht alles für uns, seine Studenten, getan, damit wir wirklich zu Wissenschaftlern werden. Wie hat er uns dabei geholfen, selbständig arbeiten zu lernen.
Er hat uns gelehrt, wie man beim Arbeiten das Wichtigste erkennt und wie man sich auf es konzentrieren sollte. Er hat uns gelehrt, zielstrebig und voller Hingabe zu arbeiten und bei der Bewertung unserer eigenen Ergebnisse streng zu uns selbst zu sein, alle ermittelten Werte genau und mehrere Male zu prüfen und zu analysieren und sich dabei ohne Angst eigene Fehler einzugestehen. Er, der er selbst voller Optimismus war, lehrte uns, im Falle von Rückschlägen den Mut nicht sinken zu lassen, sondern vielmehr hartnäckig weiterzuarbeiten bis der Erfolg sich einstellt.
Igor Wasiljewitsch war, wenn es darum ging, seine Rolle im gesamten Arbeitsprozess hervorzuheben, äußerst zurückhaltend und bescheiden. Er wandte sich stets entschieden dagegen, als Co-Autor in einem wissenschaftlichen Aufsatz genannt zu werden, wenn er ihn wirklich nicht selbst geschrieben hatte.
Es ist bekannt, dass Igor Wasiljewitsch sehr musikalisch war, dass er gute Musik zu schätzen wusste, besonders klassische. Leider konnte er es sich nicht oft erlauben, dieser seiner Liebe nachzugehen. Er besuchte nur selten Konzerte, da die Wissenschaft die führende Rolle in seinem Leben übernommen hatte und alle seine Gedanken und seine gesamte Zeit für sich beanspruchte. Seine Begeisterung, ja fast „Besessenheit“, mit der er sich der wissenschaftlichen Arbeit hingab, hat über alle anderen Interessen und Hobbys stets gesiegt.
Einmal hatte einer der Mitglieder unseres Lehrstuhls für Physik am Leningrader Pokrowskij-Institut die Idee, dass wir alle zusammen in ein gutes symphonisches Konzert gehen könnten. Das Konzert wurde ausgewählt und sollte im Kulturpalast des Lensowjets auf der Petrograder Seite ganz in der Nähe unseres Institutes stattfinden. Man informierte darüber auch Igor Wasiljewitsch, den Leiter unseres Lehrstuhls. Er hat sofort seine Bereitschaft erklärt, und zum Ausdruck gebracht, dass er sehr gerne mit dem gesamten Kollektiv dieses Konzert besuchen wird. Als der Abend nun gekommen war, begaben wir uns alle nach einer Lehrstuhlsitzung zu Fuß auf den Kirow-Prospekt zum Kulturpalast. Dieser gemeinsame Besuch eines wunderbaren Konzerts zusammen mit unserem geliebten Mentor war für uns Doktoranden, ja ebenso auch für alle Mitglieder des Lehrstuhls ein großes und feierliches Ereignis und hat sich mir in allen seinen Einzelheiten eingeprägt. Igor Wasiljewitsch war an diesem Abend besonders lebhaft und lustig. Auf dem Weg haben wir viele Späße gemacht und gelacht. Das Konzert war exzellent. Nach wunderbaren Klängen im ersten Teil des Abends waren wir alle voller Vorfreude, nun auch noch einen zweiten wunderschönen Teil des Konzerts zu erleben. In der Pause jedoch begann sich Igor Wasiljewitsch mit schuldbewusstem Lächeln von uns zu verabschieden. Immer wieder beteuerte er uns, dass es ihm sehr Leid täte, dass er nicht auch noch für den zweiten Teil bleiben könne. Aber er müsse unbedingt in das Physikalisch-technische Institut fahren, da ein Mitarbeiter dort ein interessantes Experiment durchführt, bei dem er (Igor Wasiljewitsch) unbedingt zugegen sein müsse.
Die Arbeit und die Wissenschaft hatten für ihn höchste Priorität. Dieses besagte Konzert fand im zeitigen Frühjahr des Jahres 1941 statt. Dann aber begann der Krieg, eine schwere Zeit, die Vieles in unseren Lebenswegen, Hoffnungen und Plänen durcheinanderwirbelte. Es begann eine wahre Heldenzeit für unseren Lehrer, der im Auftrage des Staates eine grandiose Arbeit leitete, deren Erfolg die Sicherheit unserer Heimat garantierte und für viele Jahre wegweisend war für die Entwicklung der Kernphysik in Wissenschaft und Technik.
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Am Leningrader Pädagogischen Pokrowskij-Institut waren es in den Jahren von 1935 bis 1941 die Vorlesungen zur theoretischen Physik, die im Studium und insbesondere bei der weltanschaulichen Formierung der zukünftigen Physiklehrer von besonderer Bedeutung waren. Diese Vorlesungen hielt der Leiter des Lehrstuhls für Physik, Doktor der Physik und der Mathematik Igor Wasiljewitsch Kurtschatow, der auch die Leitung über die gesamte Labor- und wissenschaftliche Forschungstätigkeit innehatte. Seine Vorlesungen zeichneten sich durch Klarheit und Genauigkeit, exakte Formulierung der Fragen und Ideen, sowie äußerste Einfachheit bei der Darbietung des Lehrstoffes aus. Sie wurden von Niemandem — wie in der Regel die meisten mathematischen Berechnungen — als eine Last empfunden, sondern unterschieden sich durch tiefe, allseitige Analyse des physikalischen Wesens der zu untersuchenden Erscheinungen oder Prozesse und verbanden diese mit den neuesten Erkenntnissen der einheimischen und internationalen Wissenschaft. Das breite Wissen von Igor Wasiljewitsch über die Errungenschaften der Wissenschaft in der Sowjetunion aber auch weltweit sowie seine hervorragende Meisterschaft zu referieren machten seine Vorlesungen, die angefüllt waren mit äußerst wichtigen und interessanten Fakten, verständlich und spannend, nicht nur für die zukünftigen Physiklehrer, sondern auch für Studenten anderer Fakultäten unseres Institutes. Für uns alle, für uns Studenten und Mitarbeiter am Lehrstuhl für Physik, war es eine Freude, ja ein Glück bei Igor Wasiljewitsch zu studieren oder mit ihm zusammenzuarbeiten. Sein warmherziges und immer freundliches Wesen, sein stets sanftes Lächeln auf den Lippen mit den kleinen Grübchen auf seinen Wangen haben die Herzen aller seiner Zuhörer erobert.
Igor Wasiljewitsch hat sich tiefgreifend und allseitig auf seine Vorlesungen vorbereitet. Er hat genau überlegt, wie er ein physikalisches Experiment durchführen und das Praktikum der Studenten anleiten wird, sowie die Themen für wissenschaftliche Forschungsarbeiten formuliert. Ich erinnere mich noch, wie er auf die Frage einer neuen Studentin des dritten Studienjahres, die das erste Mal seine Vorlesung besuchte und fragte, mit welchem Lehrbuch man den Text seiner Vorlesung nacharbeiten könne, er geantwortet hat: Mit einer ganzen Reihe von Lehrbüchern und Aufsätzen, jedoch nicht einzeln genommen, sondern alle zusammen. Daraufhin zählte er die Autoren der Lehrbücher und Aufsätze auf, aus denen er selbst Materialien für die Vorlesung entnommen hatte.
Während ich als Laborant im Institut gearbeitet habe, hatte ich das Glück, mir ein volleres Bild von Igor Wasiljewitsch zu zeichnen und zu erfahren, wie er sich Studenten gegenüber verhielt, zu Doktoranden und seinen Assistenten, ja überhaupt zu allen Mitarbeitern des Instituts, aber auch den Leningrader Wählern gegenüber, denn er war ganze acht Jahre Delegierter des Leningrader Stadtrats. Seine Leidenschaft für die Wissenschaft, die Physik, seine unermüdliche Arbeit, um sein Ziel zu erreichen, seine prinzipiell hohen Anforderungen an sich selbst und an seine Mitmenschen gingen immer Hand in Hand mit gleichbleibender Freundlichkeit, mit der er die Studenten, Doktoranden und Mitarbeiter des Instituts für sich einnahm, sodass diese ihm ihre tiefe Hochachtung entgegenbrachten, und begeistert und voller Freude waren, wenn sie mit ihm zusammenarbeiteten oder einfach mit ihm sprachen.
Manchmal zog sich Igor Wasiljewitsch an Tagen, wenn es darum ging, neue Experimente vorzubereiten oder Forschungsreihen durchzuführen, in den Vorbereitungsraum oder in das Fotolabor, meistens jedoch in die Werkstatt der „Goldenen Sachen“ von Meister Pjotr Ivanowitsch Korotkjewitsch zurück, den der Wissenschaftler besonders verehrte und liebte und ihn zurecht „Kulibin unsere Tage“ nannte. Er vertiefte sich so sehr in seine Arbeit, dass ihn niemand ablenken konnte, nicht einmal der Hinweis, dass das Monatsgehalt an der Kasse in Empfang genommen werden kann.
In der Person von P.I. Korotkjewitsch fand Igor Wasiljewitsch einen unermüdlichen Mitstreiter seiner Sache, einen wunderbaren Bastler und talentierten Erfinder, einen begabten Konstrukteur und begnadeten Glasbläser, der seinerzeit in Leningrad die besten Nebelkammern und Hochvakuumpumpen, die verschiedensten Zähler von Atomteilchen sowie andere Apparaturen für die wissenschaftliche Forschungsarbeit bauen konnte. Beide – sowohl I.W. Kurtschatow als auch I.P. Korotkjewitsch konnten ohne zu müde zu werden Tag und Nacht durcharbeiten, um an der Lösung des einen oder anderen wissenschaftlichen Forschungsproblems zu arbeiten. Nur Telefonanrufe oder das persönliche Erscheinen von Marina Dimitrjewna, der Gattin von Igor Wasiljewitsch, im Institut wurden zum Anlass genommen, um einmal eine Pause bei der Arbeit einzulegen, um etwas auszuruhen oder etwas zu essen.
Wir wussten, dass Igor Wasiljewitsch gerne ins Theater ging und dass er besonders die Musik liebte. Doch sehr oft blieben seine Karten für das Theater oder die Philharmonie ungenutzt, da er sich nicht von seiner Arbeit lösen konnte. Manchmal gab er dann diese Karten Studenten oder uns Laboranten. Einmal hat sich Igor Wasiljewitsch während eines wissenschaftlichen Seminars mit Doktoranden aufmerksam mit deren wissenschaftlichen Forschungen auseinandergesetzt, an denen diese gerade arbeiteten, und ist zu dem Schluss gekommen, dass man die eine oder andere Forschungsreihe ohne Aufschub noch an diesem Samstagabend fortsetzen müsse. Er selbst hatte, wie sich dann später herausstellte, für diesen Abend Karten für das Kirow-Theater und sollte vor dem Theater noch nach Hause fahren, um seine Frau abzuholen. Nachdem ihm alle geantwortet hatten, dass niemand die Arbeit am Samstagabend fortsetzen könne, da samstags immer diverse Turniere zwischen den Mannschaften verschiedener Hochschulen im Fußball, Basketball und im Schachspiel stattfinden, blieb er selbst im Institut und setzte die Untersuchung den ganzen Abend und die ganze Nacht fort. Als eine Ölpumpe nicht recht arbeiten wollte, legte er sich im neuen Anzug aus hochwertiger Wolle unter die Apparatur, um den Fehler zu finden und hat sich natürlich mit dem aus der Pumpe tropfendem Öl den Anzug verdorben. Deshalb haben wir Igor Wasiljewitsch auch nur einmal in einem solchen, neuen Anzug gesehen. Vom zeitigen Frühjahr bis zum Ende des Studienjahres trug er im Institut stets seinen hellen Leinenanzug. Marina Dimitrjewna konnte in jener Nacht ihren Mann nur mit Mühe ausfindig machen, nachdem sie per Taxi alle Orte abgefahren war, in denen er normalerweise zu finden war. Im fahlen Licht, das durch ein Fenster im Erdgeschoss eines Hauses in der Malaja Posadskaja-Strasse fiel, wo sich Physiklabors befanden, erkannte sie den Kopf ihres Gatten und konnte nur mit sehr viel Mühe den diensthabenden Wachtposten davon überzeugen, dass sie die Ehefrau von Igor Wasiljewitsch ist.
Es ist bekannt, dass Igor Vasiljewitsch es sehr schätzte, wenn ihm bei seinen wissenschaftlichen Aufsätzen seine Mitarbeiter, wenn auch nur mit einer Kleinigkeit, halfen. So rief er Ende 1938 den Laborchef P.I. Korotkjewitsch zu sich und umarmte ihn, übergab ihm die Zeitschrift: „Experimentelle und theoretische Physik“ und sagte mit einem Lächeln: „Sieh nur Petja, hier deine Arbeit, dein Aufsatz“. Daraufhin entgegnete der völlig baff dreinschauenden und rot gewordene P.I. Korotkjewitsch in völligem Unverständnis lang und breit: „Aber Igor Wasiljewitsch! Ich habe doch für sie kein Wort geschrieben“ – „Das stimmt, Pjotr Iwanowitsch – antwortete Kurtschatow, du hast nichts geschrieben, aber alles gemacht. Ohne deine Arbeit hätte ich diesen Aufsatz über die Spaltung von Bor durch langsame Neutronen nie schreiben können“.
Uebersetzt von Henrik Hansen
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