21 August 2015| Alexjevitsch Swetlana

Der Krieg hat nicht das Gesicht einer Frau

Maria Ivanowna Morosowa (Iwanuschkina), Gefreiter und Scharfschütze: Dies wird eine einfache Geschichte, die Geschichte eines einfachen russischen Mädchens, von denen es damals viele gab.

Dort, wo früher mein Heimatdorf, Djakowskoje, lag, ist jetzt eine der großen neuen Wohnsiedlungen von Moskau. Der Krieg begann kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag. Ich hatte sehr, sehr lange Zöpfe, sie gingen mir bis zu den Knien. Niemand konnte glauben, dass der Krieg lange dauern wird. Alle waren sich sicher, dass er gleich wieder zu Ende geht. Wir werden den Feind aus unserem Land vertreiben und das war´s. Ich arbeitete damals zunächst in der Kolchose, machte dann aber eine Ausbildung zum Buchhalter und begann daraufhin in diesem Beruf zu arbeiten. Der Krieg wollte jedoch nicht enden. Meine Freundinnen sagten: „Wir müssen an die Front“. Das spürten alle, es lag irgendwie in der Luft. Wir alle schrieben uns im Wehrkommando in spezielle Vorbereitungskurse ein. Einige vielleicht auch nur, um mit ihren Freundinnen zusammenzubleiben.

Zunächst zeigte man uns dort, wie man mit einem Armeegewehr schießt und Granaten wirft. Ich gebe zu, dass ich Angst hatte, ein Gewehr in die Hand zu nehmen. Das war irgendwie nicht üblich als Mädchen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich damit losziehen sollte und jemanden töten. Ich wollte einfach nur an die Front und das war´s. In unserem Kurs waren wir insgesamt vierzig Leute, vier Mädchen waren aus unserem Dorf. Wir alle waren miteinander befreundet. Aus dem Nachbardorf waren auch fünf Mädels dabei. Also kurz gesagt, aus jedem Dorf gab es jemanden. Und alles Mädchen. Die Männer waren ja alle längst an der Front, alle die kämpfen konnten. Ich kann mich gar nicht erinnern, ob wir mal irgendwann zum Tanzen ausgegangen sind. Wenn ja, dann tanzten die Mädchen miteinander. Jungs gab es keine mehr. Unsere Dörfer waren alle wie leer gefegt.

Kurz darauf erschien damals der Aufruf des Zentralkomitees des Komsomol an alle Jugendlichen, dass jeder bei der Verteidigung der Heimat mithelfen sollte, da der Feind bereits bis vor Moskau vorgedrungen war. Wie konnte das sein? Sollte etwa Hitler Moskau einnehmen? Das durfte auf keinen Fall zugelassen werden. So dachte nicht nur ich. Alle Mädchen äußerten den Wunsch, an die Front zu gehen. Mein Vater war schon dort und kämpfte bereits. Eigentlich dachten wir, dass nur wir so denken und die Einzigen sind. Als wir aber in das Wehrkreiskommando kamen, saßen dort bereits viele andere Mädchen. Ich war erstaunt. Mein Herz begann zu glühen, es war ein sehr starkes Gefühl. Die Auswahl der Mädchen geschah jedoch nach sehr strengen Kriterien. In erster Linie musste man natürlich von sehr guter Gesundheit sein. Ich befürchtete, dass man mich nicht nehmen würde, weil ich als Kind oft krank war und meine Knochen, wie meine Mutter immer jammerte, nicht die kräftigsten waren. Deshalb und auch weil ich so klein war, hatten mich andere Kinder immer gehänselt. Ein anderes Kriterium war die Situation in der Familie. Wenn es dort außer dem Mädchen, dass an die Front wollte, keine weiterem Kinder mehr gab, dann wurde man nicht genommen, denn die Mutter sollte auf keinen Fall allein zu Hause zurückgelassen werden. Ach unsere Mütter! Ihre Tränen wollten einfach nicht mehr trocknen. Sie flehten uns an und baten uns, nicht zu gehen. Doch ich hatte zwei andere Schwestern und zwei weitere Brüder, die zwar wesentlich jünger waren als ich, doch sie wurden als Beistand für die Mutter angerechnet.

Und noch etwas: Die Kolchose hatten alle verlassen. Es gab niemanden mehr für die Arbeit auf dem Felde. Deshalb wollte auch der Vorsitzende der Kolchose uns nicht fortlassen. Also kurz gesagt, man ließ uns nicht an die Front. Deshalb machten wir uns daraufhin auf in die Kreiszentrale des Komsomol. Aber auch dort erteilte man uns eine Absage. Daraufhin fuhren wir als kleine Delegation aus unserem Kreis in die Bezirksleitung des Komsomol.

Wir waren alle sehr aufgeregt, unsere Herzen waren ganz entflammt. Aber auch dort schickte man uns wieder nach Hause. Wir entschieden jedoch, da wir schon mal in Moskau waren, auch noch einmal beim Zentralkomitee des Komsomol anzuklopfen und, wenn nötig, bis nach ganz oben zu gehen, bis zum ersten Sekretär. Wir wollten alles ausprobiert haben. Wir verabredeten, wer von uns unser Anliegen vortragen sollte, wer den meisten Mut hat. Wir waren uns sicher, dass wir dort dann  wirklich die Einzigen sein werden, aber auch da gab es keinen Platz mehr auf dem Korridor. Er war gerammelt voll. Es schien völlig ausweglos, bis zum Sekretär vordringen zu können, denn es hatten sich bereits Jugendliche aus dem gesamten Land versammelt, aus der ganzen Sowjetunion. Viele von ihnen kamen aus den besetzten Gebieten und wollten mit aller Macht die Erlaubnis erhalten, den Tod ihrer Verwandten zu rächen. Mit einem Wort, wir wussten für eine Weile gar nicht, was wir sagen und machen sollten.

Am Abend hatten wir uns trotzdem bis zum Sekretär durchgeschlagen. Dort fragte man uns: „Und was wollt ihr an der Front machen, wenn ihr nicht einmal schießen könnt?“ Doch wir  antworteten alle zusammen im Chor, dass wir es bereits gelernt hätten. „Wo? Wie? Und könnt ihr auch Verbände anlegen?“ Man muss wissen, dass uns im Wehrkommando in unserem Kreis ein Arzt gezeigt hat, wie man eine Wunde verbindet. Daraufhin herrschte erst einmal Schweigen. Sie blickten uns mit ernsteren Minen an. Wir hatten jedoch noch einen Trumpf in der Hand, nämlich, dass wir nicht allein waren, sondern dass es noch weitere vierzig Mädels gab, die auch alle schießen und Erste Hilfe leisten konnten. Es wurde aber erst einmal entschieden, dass wir nach Hause zurückgehen und abwarten sollten. Gleichzeitig versicherte man uns jedoch, dass unser Anliegen positiv entschieden werden wird. Wie glücklich waren wir danach auf der Heimfahrt in unser Dorf! Ich kann diesen Tag bis heute nicht vergessen. Ja, wirklich! Und in der Tat hatten wir nach einigen Tagen eine schriftliche Vorladung in unseren Händen.

Wir gingen ins Wehrkreiskommando. Dort wurden wir sofort durch eine Tür eingelassen und durch eine andere wieder hinausgeführt. Ich hatte mir so einen schönen Zopf geflochten, von dem ich mich dort jedoch verabschieden musste. So war ich also nun ohne meinen Zopf! Man hatte uns einen Soldatenschnitt verpasst. Auch unsere Kleider hatte man uns weggenommen. Ich hatte nicht einmal Zeit, meiner Mutter das Kleid und den Zopf zu bringen, obwohl sie sehr darum gebeten hatte, dass ihr irgendetwas von mir erhalten bleibt. Man kleidete uns dort völlig neu ein: Feldbluse, Schiffchenmütze und  Soldatenrucksack. Daraufhin brachte man uns zum Bahnhof, wo wir in Güterwagons, die mit Stroh ausgelegt waren, einsteigen mussten. Das Stroh war ganz frisch. Es roch noch nach Feld. Wir waren guter Dinge bei der Fahrt und waren zu vielen Späßen aufgelegt. Wir redeten flott und keck und machten ständig Witze. Ich erinnere mich noch heute, wie wir uns vor Lachen nicht einkriegen konnten.

Wohin die Reise ging, wussten wir nicht. Aber im Endeffekt hatte dies für uns auch keine Bedeutung, wo und als was wir unseren Dienst leisten werden. Die Hauptsache war an die Front. Alle kämpften, nun also auch wir. Wir kamen zur Station Scholkowo. Ganz in der Nähe war eine Schule, in der Frauen das Schießen beigebracht wurde. Es stellte sich heraus, dass wir zunächst dorthin gebracht wurden, zu den Scharfschützen. Alle waren sehr erfreut. Das ist wenigstens etwas Richtiges! Wir werden schießen.

Wir begannen also erst einmal mit Lernen. Wir studierten die Regeln eines Lebens in einer Garnison, den Disziplinkodex, die Art, wie man sich in der Natur tarnen kann und wie wir uns bei einem Angriff mit chemischen Kampfstoffen schützen sollten. Wir Mädchen gaben uns alle viel Mühe. Mit geschlossenen Augen lernen wir, unsere Waffen auseinanderzunehmen und wieder zusammenzubauen. Wir lernen, wie man die Windgeschwindigkeit bestimmt, die Bewegung des Zieles und die Entfernung zu ihm, wie man eine Grube gräbt und man vorwärtskriecht und sich dabei mit seinen Ellenbogen nach vorne zieht. Das alles konnten wir schon längst. Wenn es doch endlich an die Front ginge! Hinein in die Feuerzone! Ja, ja, so dachten wir wirklich. Zum Ende des Kurses bekam ich fürs Schießen und im Fach Frontvorbereitung eine „Eins“.

Das Schwierigste war, das erinnere ich noch, bei Alarm aus dem Bett zu springen und sich innerhalb von fünf Minuten anzuziehen und seine Sachen zusammenzusammeln. Stiefel hatte man uns eine oder zwei Nummern größer gegeben, um keine Zeit zu verlieren beim Anziehen. Innerhalb von fünf Minuten mussten wir uns anziehen, in die Stiefel schlüpfen und antreten. Es kam vor, dass jemand barfuß in die Stiefel gestiegen war, um zum Antreten nicht zu spät zu kommen. Ein Mädchen hat sich so fast den Fuß abgefroren. Der Obmann hatte es aber mitbekommen und ihr eine Bemerkung gemacht und uns daraufhin beigebracht, wie man den Fuß schnell mit einem Lappen umwickelt. Manchmal begann er auch über uns zu fluchen. „Mädels, wie soll ich aus euch einen Soldaten machen und keine Zielscheibe für die Fritze? Ach Mädels!“ Alle mochten uns und hatten mit uns stets ein Einsehen. Wir jedoch reagierten beleidigt, wenn uns jemand bemitleidete. Waren wir etwa nicht ebensolche Soldaten, wie alle?

Endlich ging es dann eines Tages an die Front. Bei Orscha wurden wir in die zweiundsechzigste Schützendivision eingegliedert. Der Kommandeur Oberst Borodkin — ich erinnere es noch ganz genau – war ziemlich verärgert, als er uns sah: Nun haben sie mir noch irgendwelche Mädels an den Hals gehängt! Was ist das für ein Mädchenreigen! Ist hier etwa ein Ballett? Hier ist Krieg und kein Tanztheater! Es ist ein furchtbarer Krieg! Doch dann bat er uns alle, zu ihm zu kommen und mit ihm Mittag zu essen. Wir hörten mit, wie er seinen Adjutanten fragte, ob es nicht etwas Süßes gäbe zum Tee. Wir waren natürlich gleich wieder beleidigt. Für wen hielt er uns denn eigentlich? Wir sind an die Front gekommen, um zu kämpfen. Er jedoch nahm uns als Soldaten nicht für voll. Wir waren für ihn einfach Mädels. Dem Alter nach hätten wir seine Töchter sein können. „Ach, was soll ich denn nun bloß mit euch machen, meine lieben Täubchen? Wo hat man euch denn aufgelesen?“ So war seine Reaktion, als er uns bei sich aufnehmen sollte. Wir jedoch fühlten uns — und führten uns so auf – wie richtige Krieger. Ja, waren wir denn nun nicht bereits wirkliche Soldaten im Krieg?

Am nächsten Tag sollten wir ihm zeigen, wie wir schießen und uns im Gelände tarnen konnten. Wir schossen alle sehr gut, sogar besser als die männlichen Scharfschützen, die man von der Front für zwei Tage zur Schulung zurückbeordert hatte und die sehr verwundert waren, dass nun auch wir ihre Arbeit machen. Wahrscheinlich hatten sie das erste Mal in ihren Leben Frauen als Scharfschützen gesehen.

Nach dem Schießen war Tarnen im Gelände angesagt. Der Oberst kam und ging über die Wiese, um sie mit seinen scharfen Blicken zu beobachten. Er stellte sich auf einen kleinen Erdhügel und begutachtete: „Es ist nichts zu sehen“. Auf einmal begann der „Erdhügel“ unter ihm zu sprechen: „Oh, Genosse Oberst, ich kann nicht mehr, Sie sind so schwer“.

Was haben wir da alle gelacht! Er konnte seinen Augen nicht glauben, dass wir uns so gut getarnt hatten. „Nun, — meint er – ich nehme meine Bemerkung von wegen Mädels zurück“. Doch trotzdem tat er sich schwer mit uns, er konnte sich lange nicht an uns gewöhnen.

Dann war der Tag gekommen, an dem wir das erste Mal „auf die Jagd“ gingen, wie das unter Schützen so heißt. Zusammen mit Mascha Koslowa, im Team sozusagen. Wir hatten uns gut getarnt und lagen auf der Erde. Ich nahm alles genau unter Beobachtung. Mascha lag neben mir mit dem Maschinengewehr. Plötzlich flüsterte Mascha mir zu:

— Schieß, los schieß doch! Siehst du nicht? Da ist ein Deutscher!

Ich antwortete ihr: Ich observiere das Terrain und du schießt.

— Bis wir hier die Sache abgeklärt haben, ist der Deutsche schon fort.

Ich wieder zu ihr:

— Zuerst müssen wir einen Plan vom Gelände zeichnen und Orientierungspunkte kennzeichnen: da eine Scheune, dort eine Birke.

— Willst du etwa wie in der Schule zuerst mit so einem blöden Zettelkram anfangen? Ich bin nicht hierhergekommen, um mich hier mit Papieren und Zettelwirtschaft zu befassen, sondern um zu schießen!

Ich begriff, dass Mascha schon böse auf mich geworden war.

— Na dann schieß doch, was hast du denn?

So waren wir wirklich ins Zanken geraten und der deutsche Offizier hatte während dessen seinen Soldaten in der Tat einen Hinweis geben können. Es hatte sich ein Fuhrwerk genähert und die Soldaten hatten eine Kette gebildet, um das Fuhrwerk mit irgendetwas zu beladen. Der Offizier stand plötzlich ganz still, gab irgendeinen Befehl und ging dann in Deckung. Wir waren die ganze Zeit immer noch dabei zu streiten. Ich sah, wie der Offizier sich schon zwei Male erhoben hatte. Wenn wir ihn noch einmal verpassen sollten, dann war es das gewesen, dann geht er uns verloren. Als er das dritte Mal auftauchte —  es ist alles nur ein kurzer Moment, er erhebt sich und geht danach sofort wieder in Deckung – entschied ich, zu schießen. So hatte ich es beschlossen, aber plötzlich kam mir der Gedanke in den Sinn, dass dies doch ein Mensch ist, auch wenn er unser Feind ist. Er ist doch trotzdem ein Mensch! Meine Hände begannen zu zittern und mir lief es kalt über den Rücken. Ich zitterte plötzlich am ganzen Leibe, als ob ich Schüttelfrost bekommen hätte. Ich hatte Angst. Manchmal holt mich diese Empfindung heute noch im Schlaf wieder ein. Nachdem wir nur auf Zielscheiben aus Speerholz geschossen hatten, sollte ich nun auf einen lebendigen Menschen schießen. Das war nicht einfach.  Ich sah ihn vor mir in der Linse. Sah ihn gut. Er schien, ganz nahe zu sein. Doch alles in mir sträubte sich, abzudrücken.

Irgendwas hielt mich zurück. Ich konnte mich nicht durchringen, endlich zu schießen. Doch dann nahm ich mich zusammen, legte den Finger an den Abzug und drückte ab. Der Offizier hob die Arme und fiel zu Boden. Ich weiß nicht, ob er tot war oder nicht. Danach jedoch ergriff mich noch ein viel stärkeres Zittern und mich übermannte eine riesige Angst. Hatte ich nun einen Menschen getötet? Aber genau an diesen Gedanken sollte ich mich von nun an gewöhnen müssen. Ja. Kurz gesagt, es war furchtbar. So etwas kann man nie vergessen.

Nachdem wir zur Truppe zurückgekommen waren, begann wir in unserem Zug alles zu erzählen, was mit mir geschehen war. Es wurde eine Versammlung einberufen. Der Komsomolsekretär unserer Abteilung, Klawa Iwanowna, versuchte mich zu überzeugen, dass man von denen keinen bemitleiden, sondern nur hassen kann. Die Faschisten hatten ihren Vater getötet. Manchmal begannen wir ein Lied zu trällern, sie jedoch bat uns stets: „Mädels, hört auf! Lasst uns zuerst diese Schurken besiegen! Dann können wir wieder Lieder singen, so viel wir wollen“.

Nicht sofort hatten wir es begriffen, nicht gleich waren wir dazu in der Lage. Es ist nicht die Sache einer Frau, zu hassen und zu töten. Das passt nicht zu uns. Es brauchte viel Selbstüberwindung und man musste an sich harte Überzeugungsarbeit leisten.

Nach einigen Tagen rief mich Maria Iwanowna an und lud mich zu ihrer Frontfreundin Klawdia Grigorjewna Krochina ein. Dort bekam ich noch einmal das Gleiche zu hören:

Klawdia Grigorjewna Krochina, Obersergeant, Scharfschütze: Das erste Mal ist es furchtbar. Sehr furchtbar sogar. Wir hatten uns in Deckung begeben und ich beobachte das Terrain. Und da bemerkte ich, wie sich ein Deutscher aus dem Schützengraben erhoben hatte. Ich drückte ab und er fiel zu Boden. In diesem Moment begann ich am ganzen Leibe zu zittern. Ich konnte sogar hören, wie meine Knochen gegeneinander schlugen. Ich begann zu weinen. Einst hatte ich nur auf Zielscheiben geschossen. Das war gar nichts. Hier nun aber hatte ich einen Menschen getötet! Ich hatte auf einen mir völlig unbekannten Menschen geschossen.  Ich wusste von ihm nichts, doch ich hatte ihn getötet.

Später gingen diese Schauer in der Seele vorüber. Ja, ganz einfach.  Wie ist das passiert? Wir waren schon dabei die Deutschen zurückzutreiben. Es war irgendwo in der Nähe einer kleinen Siedlung. Ich meine, es war in der Ukraine. Dort, wo wir vorbeizogen, stand am Rande des Weges eine Baracke oder ein Haus. Man konnte es schon nicht mehr so genau sagen, denn alles stand bereits in Flammen, beziehungsweise war schon halb verrannt. Nur noch Holzkohle war übrig und verbrannte Ziegelsteine. Viele von den Mädchen wollten nicht näher herangehen, doch mich zog es irgendwie zu diesem Haus hin. In der glühenden Kohle sah ich die Knochen von Menschen und unsere Roten Sterne, halb verbrannt. Hier waren also unsere oder Gefangene verbrannt. Nach diesem Erlebnis, nach dem ich die schwarz verkohlten Knochen gesehen hatte, hatte ich mit niemandem mehr Mitleid, wie viele es auch waren, die ich danach noch erschossen hatte.

Ich war aus dem Krieg völlig grau zurückgekehrt. Ich war gerade erst einundzwanzig Jahre alt und hatte schon ganz weiße Haare. Ich bin schwer verletzt worden, eine Quetschung, und auf dem einen Ohr konnte ich kaum noch etwas hören. Meine Mutter empfing mich, als ich heimkehrte mit folgenden Worten: „Ich habe immer fest daran geglaubt, dass du zurückkommst. Ich habe für dich gebetet, Tag und Nacht“. Mein Bruder war an der Front gefallen. Sie weinte: „Es ist jetzt ganz egal geworden, ob man nun ein Mädchen oder einen Jungen zur Welt bringt. Er war jedoch ein Mann, es war seine Pflicht, seine Heimat zu verteidigen. Du aber bist doch ein Mädchen! Nur um eines bat ich Gott. Mögest du doch nur nicht als Krüppel zurückkehren. Dann möge man dich lieber töten. Ich ging täglich zum Bahnhof, zu den Zügen. Einmal hatte ich da ein Mädchen in Uniform gesehen. Sie hatte ein völlig verbranntes Gesicht. Ich fuhr zusammen. Warst das etwa du? Für dieses Mädchen habe ich dann auch angefangen zu beten“.

Ganz in der Nähe meines zu Hause – ich bin im Gebiet von Tscheljabinsk geboren – wurde Erz abgebaut. Als die ersten Explosionen durchgeführt wurden, — diese Arbeiten fanden, wer weiß warum, immer nachts statt — sprang ich schnurstracks aus dem Bett hoch und das erste, was ich tat, ich griff nach meinem Mantel. Ich wollte fortlaufen. Einfach nur schnell irgendwohin fortlaufen.

Meine Mutter ergriff mich dann jedes Mal bei der Hand und drückte mich an sich und versuchte mich im Flüsterton zu beruhigen: „Wach auf, wach auf! Der Krieg ist vorbei. Du bist zu Hause“. Ich kam immer erst wieder zu mir, wenn sie mir sagte: „Ich bin deine Mutter. Deine Mama!“. Sie sprach ganz leise, denn laute Worte ließen mich sofort erschrecken.

Im Zimmer ist es warm, doch Maria Iwanowna hat sich völlig in eine schwere Wolldecke eingemummelt. Sie friert. Sie erzählt weiter:

„Wir sind schnell Soldatinnen geworden. Sie müssen wissen, es gab einfach keine Zeit, um zu überlegen oder über seiner Empfindungen nachzudenken.

Unsere Kundschafter hatten einmal einen deutschen Offizier gefangen genommen. Der war äußerst verwundert, dass so viele Soldaten, die ihm unterstellt waren, alle nur am Kopf verletzt worden waren, fast immer an der gleichen Stelle. „Ein einfacher Schütze – wiederholte er immer wieder – ist nicht in der Lage, so viele Male immer die gleiche Stelle am Kopf zu treffen und dann noch mit einer solchen Genauigkeit! Zeigt mir diesen Schützen – bat er – der so viele von meinen Soldaten erschossen hat. Ich habe ständig wieder neue Leute Nachschub bekommen und jeden Tag sind bis zu zehn Mann erschossen worden“. Der Kommandeur des Regiments antwortete ihm: „Ich kann ihn dir leider nicht zeigen. Es war eine Schützin, ein Mädchen, doch auch sie ist erschossen worden“. Das war Sascha Schljachowa. Man hatte sie in ihrem Versteck entdeckt und auf sie geschossen. Was sie verraten hatte, war ihr roter Schal. Sie liebte diesen Schal sehr. Ein roter Schal ist jedoch im Schnee sehr gut sichtbar. Damit war ihre Tarnung nicht mehr sicher. Als der deutsche Offizier gehört hatte, dass es ein Mädchen war, war er völlig sprachlos. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Lange Zeit schwieg er nur.

Bei dem letzten Verhör, bevor man ihn nach Moskau verfrachtete – denn es stellte sich heraus, dass unser Offizier nicht ganz ohne war – gab er zu: „Ich habe noch nie gegen Frauen gekämpft. Ihr seid alle schöne Frauen. Unsere Propaganda dagegen verbreitet, dass in der Roten Armee keine Frauen kämpfen, sondern irgendwelche Zwitterwesen“. Er hatte nichts begriffen. Ja, das ist mir unvergesslich geblieben.

Wir waren immer zu zweit unterwegs. Alleine in der Dunkelheit zu sitzen, ist sehr schwer. Die Augen werden müde, sie beginnen sich mit Tränen zu füllen und man sieht nichts mehr. Später hört man auf, seine Hände zu spüren, der Körper wird vor lauter Anspannung ganz steif. Vor dem Frühling und im Frühling ist es besonders schlimm. Der Schnee taut einem unter den Füßen. Man ist den ganzen Tag im Wasser. Es ist als ob man schwimmt. Es kam auch vor, dass man am Boden festfriert. Gleich nach dem ersten Aufleuchten des Morgenlichts ging´s an die Front. Bis zum Einbrechen der Dunkelheit blieben wir dann in der Feuerzone. Ganze zwölf Stunden und manchmal auch mehr lagen wir im Schnee oder kletterten in eine Baumkrone, auf das Dach einer Scheune oder eines zerstörten Hauses und begannen uns dort zu tarnen, damit niemand bemerkt, wo wir sind, und wir ungestört das Gelände beobachten können. Wir versuchten immer so dicht wie möglich an den Feind heranzukommen: siebenhundert-achthundert Meter. Manchmal trennten uns auch nur fünfhundert Meter von den Schützengräben, in denen die Deutschen saßen. Ganz früh am Morgen konnte man sogar ihr Gerede und ihr Gelächter hören.

Ich weiß nicht, warum wir uns nicht fürchteten. Jetzt kann ich es nicht begreifen. Wir griffen an, sehr schnell griffen wir an und kamen schnell voran. Die Versorgungstruppen blieben weit hinter uns zurück. So ging uns eines Tages der Proviant aus. Es gab keine Lebensmittel mehr. Auch die Feldküche war von einer Granate getroffen worden.

Drei ganze Tage saßen wir bei Zwieback. Unsere Zungen waren ganz wund geworden, wir konnte sie nicht mehr rühren. Meine Gefährtin war erschossen worden. So war ich mit einer „Neuen“ in Richtung Feuerlinie unterwegs. Plötzlich sahen wir im „Niemandsland“ ein Fohlen. Was für ein schönes Pferd war es! Der Schwanz ganz buschig. Es spazierte ruhig vor sich hin, als ob nichts wäre und es keinen Krieg gäbe. Auch die Deutschen, dass konnten wir hören, hatten das Tier bemerkt. Doch auch unsere Soldaten begannen über es zu sprechen.

— Es wird weglaufen. Ach was für eine Suppe könnte man von ihm kochen.

— Mit einem Maschinengewehr kann man ihn aus dieser Entfernung nicht treffen.

Aber sie hatten uns gesehen:

— Da sind unsere Scharfschützen. Die haben ihn gleich erledigt. Los Mädels!

Ich hatte gar keine Zeit nachzudenken. Aus Gewohnheit legte ich an, zielte und drückte ab. Bei dem Fohlen knickten die Beine ein und es fiel auf die Seite. Es schien mir, — vielleicht war das auch schon eine Halluzination, doch so schien es mir — dass das Pferd leise, ganz leise, wieherte. Erst danach begann ich mich zu fragen, warum ich überhaupt auf das arme Fohlen geschossen hatte. Es war so schön, doch ich hatte es getötet. Ich hatte es für eine Suppe erschossen! Hinter mir hörte ich, wie jemand anfing zu schluchzen. Ich drehte mich um: es war die „Neue“.

— «Was hast du?» – frage ich sie

— «Mir tut das Fohlen leid» – die Augen voller Tränen.

— „Ach was bist du nur für eine sensible Natur! Wir hungern hier schon drei Tage lang. Es tut dir leid, weil du noch niemanden bisher zur Strecke gebracht hast. Versuch nur dreißig Kilometer am Tage zu Fuß zu gehen, in voller Ausrüstung und dabei noch hungrig zu sein. Zuerst müssen wir die Fritzen verjagen, erst dann können wir uns über alles, was wir hier tun, einen Kopf machen. Erst dann haben wir Zeit fürs Mitleid. Dann! Verstehst du? Dann!

Ich blickte zu den Soldaten. Sie hatten mich doch gerade aufgestachelt! Sie hatten geschrien und darum gebeten, gerade eben, vor wenigen Minuten! Keiner von ihnen schaute mich nun an, als ob sie mich nicht bemerken wollten. Jeder hatte sich in sich verkrochen und war mit etwas beschäftigt. Die einen rauchten, die anderen waren am Graben. Einer war dabei, sein Messer zu schärfen. Und ich stand nun ganz allein da. Mir war zum Heulen zumute. Als ob ich so ein Scheusal bin, dem es nichts ausmacht, einfach ein Lebewesen zu töten! Dabei hatte ich doch seit meiner Kindheit alles Lebendige lieb gehabt. Einmal war bei uns, als ich schon zur Schule ging, eine Kuh krank geworden und man hatte sie deshalb zum Schlachter gebracht. Zwei ganze Tage habe ich geweint. Ich konnte mich einfach nicht beruhigen. Und nun — Buff! – hatte ich auf ein wehrloses Fohlen geschossen. Dabei  war es das erste Fohlen, was ich seit zwei Jahren zu Gesicht bekommen hatte.

Am Abend wurde das Abendessen aufgetragen. Die Jungs von der Küche meinten nur: „Hat der Schütze klasse gemacht! Heute haben wir wenigstens etwas Fleisch im Topf“. Sie stellten uns die Bouletten hin und gingen. Meine Mädels saßen da und konnten keinen Bissen von dem Abendessen anrühren. Ich verstand, wie hier die Sache stand. Ich brach in Tränen aus und rannte aus dem Unterstand. Die Mädels hinter mir her. Sie versuchten mich alle gemeinsam zu trösten. Schnell nahmen sie jeder eine Boulette und begannen sie zu essen.

Nachts war bei uns Zeit für Gespräche. Worüber sprachen wir? Natürlich erzählten wir von zu Hause, jeder sprach von seiner Mutter und bei wem der Vater oder der Bruder auch an der Front waren. Wir träumten auch gemeinsam davon, was wir nach dem Krieg machen wollten, als was arbeiten, wie wir heiraten wollen und ob unsere Männer uns lieben werden.

Der Kommandeur lachte:

— «Ach, Mädels. In allem seid ihr gut, doch nach dem Krieg wird man sich fürchten, euch zu heiraten. Ihr habt eine sichere Hand. Ihr werft mit einem Teller nach der Stirn eures Mannes und der stirbt sogleich davon».

Ich habe meinen Mann im Krieg kennengelernt. Wir haben zusammen in einem Regiment gekämpft. Auch er hatte zwei Verwundungen und Quetschungen. Er hat den ganzen Krieg von Anfang bis Ende mitgemacht und ist dann sein ganzes Leben bei der Armee geblieben. Ihm brauchte man nicht zu erklären, was Krieg bedeutet und von wo ich heimgekehrt war und als was. Wenn ich hin und wieder gereizt zu sprechen anfange, dann nimmt er davon entweder keine Notiz oder schweigt sich aus. Und ich nehme es ihm auch nicht übel. Ich habe auch viel dazugelernt. Wir haben zwei Kinder groß gezogen. Sie haben beide an der Universität studiert. Wir sind glücklich und stolz auf sie.

Was soll ich Ihnen noch erzählen. Nun, ich wurde ausgemustert und man hat mich nach Moskau geschickt. Von Moskau bis zu uns muss man aber noch einmal mit einem Zug fahren und dann noch einige Kilometer zu Fuß gehen. Jetzt gibt es da die Metro. Damals gab es da noch die alten Gärten mit den Kirschbäumen und viele von den kleinen Schluchten, in denen sich kleine Flüsschen schlängelten. Eine von diesen Schluchten war ziemlich groß. Gerade diese musste ich überqueren, um nach Hause zu kommen. Es war aber schon dunkel geworden, als ich angekommen war und nun noch die letzten Kilometer zurücklegen musste. Natürlich hatte ich Angst, im Dunkeln durch diese Schlucht zu gehen. Ich bleib stehen und wusste nicht, was ich machen sollte. Sollte ich lieber umkehren und bis zum Morgen warten oder allen Mut zusammennehmen und es einfach riskieren? Wenn ich mich jetzt erinnere, dann erscheint es mir lächerlich nach allem, was ich an der Front erlebt hatte. Was hatte ich dort nicht alles gesehen: Leichen und vieles mehr. Und hier hatte ich auf einmal Angst, nachts durch eine Schlucht zu gehen? Ich erinnere mich noch bis heute an den Geruch von Leichen, der sich vermischte mit dem Geruch von einfachem Tabak. Dank meiner Angst jedoch, allein nachts durch diese Schlucht zu gehen,  wurde mir klar, dass ich ein Mädchen geblieben war.

Es gibt eine andere, ähnliche Geschichte dazu: In dem Wagon, als wir auf dem Weg zurück aus Berlin in die Heimat waren, ist plötzlich eine Maus aus dem Rucksack von jemandem herausgesprungen. Unsere Mädels sind sofort hochgesprungen. Die, die auf den obersten Etagenbetten saßen, sind Hals über Kopf nach unten und haben geschrien. Mit uns im Abteil war ein Hauptmann. Der schüttelte nur den Kopf: „Mädels, ihr habt alle einen Orden, doch habt Angst vor Mäusen!“

Zum Glück kam ein Lastkraftwagen des Wegs. Ich dachte mir, den werde ich jetzt anhalten. Und wirklich, der Wagen hielt an.

— Ich muss nach Djadkowskowo – rief ich laut.

— Auch ich muss mach Djadkowskowo – Mir öffnete ein junger Mann die Wagentür.

Ich stieg in die Fahrerkabine, während der junge Mann meinen Koffer auf die Wagenpritsche hob. Danach fuhren wir los. Er musterte mich und bemerkte, dass ich Uniform trug und auch einige Auszeichnungen bekommen hatte.

Er fragte mich:

— Wie viel Deutsche hast du denn umgelegt?

Ich antwortete ihm:

— Fünfundsiebzig.

Er lachte mich aus:

— Du lügst, wahrscheinlich hast nicht einmal einen zu Gesicht bekommen?

Da erst erkannte ich ihn:

— Bist du nicht Kolka Tschishow? Bist du es etwa nicht? Kannst du dich erinnern, wie ich dir das rote Pionierhalstuch umgebunden habe?

Eine Zeit vor dem Krieg hatte ich in meiner Schule als Pionierleiterin gearbeitet.

— Maruska, bist du es?

— Ja, ich.

— Wirklich? – er bremste den Wagen ab.

— Bring mich doch nach Hause. Was hältst du hier mitten auf der Straße an? – Ich hatte Tränen in den Augen und sah, dass auch ihm die Tränen in den Augen standen. Was für eine Begegnung!

Wir kamen zu Hause an. Er nahm meinen Koffer und rannte zu meiner Mutter. Er tanzte förmlich im Hof mit dem Koffer:

— Kommen Sie schnell! Ich habe Ihnen Ihre Tochter heimgebracht!

Ja, dieses Erlebnis  ist mir unvergesslich geblieben. Ja, wie soll man so etwas auch vergessen können.

Ich war zurückgekehrt und alles musste ich von vorne beginnen. Ich lernte neu in Schuhen zu gehen. An der Front war ich drei ganze Jahre lang nur in Stiefeln unterwegs gewesen. Ich war an einen Gürtel gewöhnt. Er war immer festgezogen. Jetzt hing die Kleidung an mir herunter wie ein Sack. Ich fühlte mich darin irgendwie nicht wohl. Ich schaute voller Erschrecken jeden Rock und jedes Kleid an. Wir waren doch die ganze Zeit an der Front in Hosen umhergelaufen. Abends wuschen wir sie aus, legten sie unter uns und schliefen auf ihnen. So konnte man denken, dass sie gebügelt waren. Gut, sie waren morgens noch nicht ganz trocken und wurden bei Frost dann etwas steif oder waren mit einer Reifschicht überzogen. Wie sollte ich es nun wieder lernen, einen Rock zu tragen? Man konnte sich dabei ja die Beine verrenken! Ich habe bemerkt, dass ich, auch wenn ich ein Kleid und Hakenschuhe trug, die Hand zum Gruß erhob, wenn ich einen Offizier traf. Die Hand nahm ganz von sich allein ihren Weg hin an die Schläfe.

Ebenso waren wir an Proviantbeutel gewöhnt und daran, dass alles ausgeteilt wird. Nun aber ging ich wieder in einen Brotladen und konnte mir sich so viel Brot nehmen, wie ich brauchte. Dann vergaß ich oft zu bezahlen. Die Verkäuferin kannte mich schon und verstand, was hier bei mir Sache war und traute sich nicht recht, mich daran zu erinnern, dass ich nicht bezahlt hatte, sondern das Brot einfach genommen habe und gegangen bin. Dann am nächsten Tag bemerkte ich, was ich angerichtet hatte, entschuldigte mich und kaufte irgendetwas anderes, um für alles zusammen zu bezahlen. Man musste all die gewöhnlichen Dinge des Alltags erst wieder neu erlernen und sich an das normale Leben erinnern. Damals gab es bei uns keine Psychotherapeuten oder Psychoanalytiker. Wir sind zur Nachbarin gerannt oder zu Mama.

Was fällt mir noch ein: Hören Sie! Wie lange hat der Krieg gedauert? Vier Jahre. Das ist eine sehr lange Zeit. Ich kann mich weder an Vögel noch an Blumen erinnern. Natürlich gab es sie, doch ich kann mich an sie nicht erinnern. Ist das nicht merkwürdig? Kann man etwa einen Film vom Krieg in Farbe drehen? Nein! Dort ist alles schwarz. Nur das Blut hat eine andere Farbe. Nur das Blut ist rot.

Erst vor kurzem haben wir, gerade mal vor acht Jahren, unsere Maschenka Alchimowa wiedergefunden. Der Kommandeur unserer Division war verletzt worden. Sie war daraufhin zu ihm hin gekrochen, um ihn zu retten. Doch dann schlug direkt vor ihr eine Granate ein. Der Kommandeur starb, sie hatte es nicht geschafft bis zu ihm hin zu kriechen. Die Granate hatte aber ihr beide Beine zerfetzt, so dass wir sie nicht einmal mehr verbinden konnten. Wir quälten uns mit ihr richtig ab. Wir versuchten es so und so. Dann brachten wir sie auf einer Trage in das Sanitätsbataillon. Als sie da so hilflos dalag, bat sie uns: „Mädels, erschießt mich. Ich möchte so nicht leben …“. Sie hatte uns ernsthaft darum gebeten, ja sogar angefleht. Sie wurde in ein Lazarett gebracht. Wir selbst sind dann weiter gezogen, die Deutschen vertreiben.

Als wir sie zu suchen begannen, hatte sich ihre Spur schon verwischt. Wir wussten weder, wo sie war, noch was mit ihr geschehen ist. Und das viele Jahre hindurch. An wen hatten wir nicht alles geschrieben? Niemand konnte uns eine richtige Auskunft geben.  Erst die Pfadfinder der 73. Schule in Moskau fanden eine Spur zu ihr. Diese wunderbaren Jungs und Mädchen fanden sie dreißig Jahren nach Kriegsende in einem Heim für Invaliden irgendwo im Altai. Das ist sehr weit weg. Die ganzen Jahre hindurch hat sie sich in Heimen für Invaliden und Krankenhäusern herumgeschlagen, man hat sie zig-fach operiert. Selbst ihrer Mutter hat sie nie eine Nachricht zukommen lassen, dass sie am Leben geblieben ist. Sie hat sich von allen zurückgezogen und versteckt. Wir haben sie zu unserem Treffen eingeladen und ihren Transport hierher organisiert. Es war ein Bad in Tränen. Dann haben wir sie mit ihrer Mutter zusammengebracht. Nach mehr als dreißig Jahren haben die beiden sich wiedergesehen. Ihre Mutter war kurz davor, den Verstand zu verlieren: „Was für ein Glück, dass mein Herz nicht schon vorher am Leid zerbrochen ist, was für ein Glück!“ Maschenka hat immer wieder wiederholt: „ Jetzt fürchte ich mich nicht mehr vor einem Treffen mit ihr. Ich bin nun schon eine alte Frau“. Ja, auch das war der Krieg.

Ich erinnere mich noch, ich liege einen Abend in dem Unterstand, wo wir nachts schliefen, ohne zu schlafen. Ich höre, wie irgendwo in der Nähe die Artillerie Schüsse abfeuert. Die Deutschen schießen auf unsere. Ach, ich wollte doch so gerne am Leben bleiben und nicht sterben! Ich habe damals einen Eid geschworen, einen Soldateneid sozusagen: wenn es nötig ist, dann bin ich bereit, mein Leben hinzugeben. Doch einfach so, will ich nicht sterben. Von dort wird die Seele, auch wenn man lebendig zurückkehrt, leiden. Heute denke ich, lieber am Bein oder am Arm verletzt zu werden, lieber am Leib Schmerzen auszuhalten, als in der Seele. Das tut nämlich sehr weh. Wir sind ja als ganz junge Küken an die Front gegangen. Wir waren noch Mädchen. Ich bin während der Kriegsjahre sogar noch gewachsen. Meine Mutter hat zu Hause nachgemessen. Ganze zehn Zentimeter bin ich gewachsen.

Zum Abschied reicht sie mir verlegen ihre heißen Hände und umarmt mich: „Verzeih mir“.     

 

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

 

Comments (login)