Das Tagebuch von Tanja Sawitschjewa
Die zwoelfjaehrige Leningraderin Tanja Sawitschjewa hat frueher angefangen ihr Tagebuch zu fuehren, als Anna Frank, das Opfer des Holocaust. Sie waren beinahe gleich alt und schrieben ueber dasselbe Thema – die Schrecken des Faschismus. Beide Maedchen sind ums Leben gekommen, ohne den Sieg miterlebt zu haben: Tanja im Juli 1944, und Anna im Maerz 1945. „Das Tagebuch der Anna Frank“ wurde nach dem Krieg veroeffentlicht und machte seinen Autor in der ganzen Welt bekannt. „Das Tagebuch der Tanja Sawitschjewa“ wurde nicht verlegt, es enthaelt sieben schreckliche Geschichten ueber den Tod ihrer Familie waehrend der Blockade von Leningrad. Dieses kleine Tagebuch wurde als Dokument, das den Faschismus anklagt, im Nuernberger Prozess vorgelegt.
Heutzutage ist das Tagebuch von Tanja Sawitschjewa im Museum fuer Geschichtevon Sankt-Petersburg ausgestellt. Kopien davon sind sowohl in einer Vitrine des Mahnmals auf dem Piskarjewskoje-Friedhof zu sehen, der 570 Einwohnern der Stadt, die waehrend der 900-taegigen faschistischen Blockade (1941-1943) ums Leben kamen, die letzte Ruhe gewaehrt, als auch auf dem Poklonnaja-Berg.
Die kindliche Hand, die vor Hunger jegliche Kraft verloren hatte, schrieb unregelmaessig und duerftig. Die gebrochene Seele, von unertraeglichen Qualen besiegt, war zu lebendigen Emotionen nicht mehr faehig. Tanja hatte einfach alle Begebenheiten ihres Lebens aufgeschrieben, besonders die tragischen Heimsuchungen des Todes in ihrem Elternhaus. Wenn man das liest, erstarrt man vor Schreck: „28. Dezember. Schenja ist um 12.30 nachts gestorben. 1941.“
„Oma ist am 25. Januar des Jahres 1942 um drei Uhr gestorben.“
„Ljeka ist am 17. Maerz des Jahres 1942 um fuenf Uhr morgens gestorben.“
„Onkel Wasja ist am 13. April 1942 um zwei Uhr nachmittags gestorben.“
„Onkel Ljescha ist am 10. Mai 1942 um vier Uhr nachmittags gestorben.“
„Mutti – am 13. Maerz des Jahres 1942 um 7.30 Uhr morgens gestorben.“
„Alle sind gestorben. Nur Tanja ist noch am Leben.“
…Sie war die Lieblingstochter eines Baeckers und einer Naeherin, die juengste in der Familie. Grosse graue Augen unter dem dunkelblonden Ponyhaarschnitt, mit einer Matrosenbluse bekleidet, und einer klaren, klangvollen Engelsstimme, die eine musikalische Zukunft versprach …
In der Familie Sawitschjewa waren alle musikalisch begabt. Die Mutter Maria Ignatjewna gruendete sogar ein kleines Familienensemble organisiert: Die beiden Brueder, Ljeka und Mischa, spielten Gitarre, Mandoline und Banjo. Tanja sang, und die anderen unterstuetzten sie als Chor.
Der Vater Nikolai Rodionowitsch war frueh verstorben und die Mutter somit gezwungen, sich wie ein Kreisel zu drehen, um die fuenf Kinder auf die Beine zu stellen. Als Naeherin eines Modehauses in Leningrad hatte sie viele Auftraege und verdiente nicht schlecht. Kunstvolle Stickereien, festliche Vorhaenge, Servietten und Tischtuecher schmueckten das Haus der Sawitschjews.
Von Kindheit an stickte auch Tanja, und immer Blumen, Blumen …
Die Sawitschjews hatten vor, den Sommer des Jahres 1941 in einem Dorf am Tschudskojer See bei Gdow zu verbringen, aber nur Mischa gelang es, zu verreisen. Der Morgen des 22. Juli hat alle Plaene begraben. Die Familie beschloss einstimmig, in Leningrad zu bleiben, zusammenzuhalten und an der Front zu helfen. Die Mutter naehte Uniformen fuer die Soldaten. Ljeka kam wegen seiner schwachen Augen nicht an die Front und arbeitete als Tischler in einem Betrieb der Admiralitaet. Schwester Schenja schliff Minenkorpusse und Nina war zur Verteidigung mobilisiert. Wasilij und Aleksej Sawitschjew, zwei Onkel von Tanja, dienten bei der Luftabwehr.
Aber auch Tanja legte die Haende nicht in den Schoss. Zusammen mit anderen Kindern half sie den Erwachsenen „Feuerzuege“ zu loeschen und Schuetzengraeben auszuheben. Aber der Ring der Blockade zog sich nach Hitlers Plan immer mehr zusammen. Diesem Plan zufolge sollten die deutschen Truppen die Stadt „aushungern und dem Erdboden gleichmachen“. Eines Tages kehrte Nina nicht von der Arbeit heim. An jenem Tag lag die Stadt unter Feuerbeschuss, die Menschen in den Haeusern waren in Unruhe und warteten ab. Aber als alle Fristen verstrichen waren, gab die Mutter Tanja ein kleines Tagebuch zur Erinnerung an ihre Schwester, in welches das Maedchen ihre Aufzeichnungen schrieb.
Die Schwester Schenja ist im Betrieb gestorben. Sie hatte in zwei Schichten gearbeitet und dann noch Blut gespendet, und am Ende hatte sie natuerlich keine Kraefte mehr. Bald wurde Grossmutter zum Piskarjewskoje-Friedhof gebracht – ihr Herz hatte das alles nicht ausgehalten. In der „Geschichte des Admiralitaetsbetriebs“ finden sich folgende Zeilen: „Leonid Sawitschjew hat sehr tuechtig gearbeitet, obwohl er ganz entkraeftet war. Als er einmal nicht zur Arbeit kam, hat man im Werk mitgeteilt, dass er gestorben ist…“
Tanja fuehrte regelmaessig ihr Tagebuch – einer nach dem anderen verliessen sie ihre Verwandten, zuerst ihr Onkel und dann ihre Mutter. Dann zog das Maedchen eine schreckliche Bilanz: „Alle Sawitschjews sind alle gestorben. Nur Tanja ist noch am Leben.“
Tanja hat nicht mehr erfahren, dass nicht alle Sawitschjews ums Leben kamen. Ihre Generation fuhr fort sich zu vermehren. Schwester Nina wurde gerettet und ins Hinterland gebracht. Im Jahre 1945 kehrte sie in ihre Heimatstadt, in ihr Elternhaus, zurueck und entdeckte unter dem Schutt blosser Waende, Splitter und Putz das Tagebuch mit Tanjas Notizen. Nach einer ernsten Verletzung an der Front hat sich auch ihr Bruder Mischa erholt.
Und Tanja, die vor Hunger ohnmaechtig geworden war, wurde von speziellen Sanitaetstrupps, die alle Haeuser abliefen, gefunden. Das Leben brannte noch schwach in ihr. Zusammen mit anderen, die vom Hunger ausgemergelt waren, wurde das Maedchen in das Gebiet von Gorki (jetzt wieder Nishnij Nowgorod), in die Siedlung Schatki evakuiert. Die Einwohner brachten den Kindern alles, was sie hatten, waermten und fuetterten die kindlichen Seelen. Viele Kinder erholten sich und wurden wieder gesund. Aber Tanja ist nicht genesen. Die Aerzte kaempften zwei Tage um das Leben der jungen Leningradin, aber der Krankheitsverlauf war unaufhaltbar. Die Haende und Beine des Maedchens zitterten, staendige Kopfschmerzen quaelten sie. Am 1. Juli 1944 ist Tanja Sawitschjewa gestorben. Sie wurde im Siedlungsfriedhof begraben, wo sie unter einem Marmorgrabstein ruht. In der Naehe steht ein Mahnmal mit dem Basrelief des Maedchens und Seiten aus ihrem Tagebuch. Tanjas Notizen sind auch auf dem grauen Stein des Mahnmals „Die Blume des Lebens“ graviert, der sich bei Sankt-Petersburg befindet, auf dem dritten Kilometer des „Lebenswegs“.
Tanja Sawitschjewa wurde am 25. Januar geboren, am Gedenktag der heiligen Maertyrerin Tatjana. Die Kinder und Kindeskinder der Sawitschjews versammeln sich regelmaessig am um den gemeinsamen Tisch und singen die „Ballade von Tanja Sawitschjewa“ (Komponist E. Doga, Worte von W. Gin). Diese Ballade erklang im Konzert von Edita Pjecha zum ersten Mal: „Tanja, Tanja… dein Name ist wie Sturmlaeuten in allen Sprachen…“
Man darf nicht aufhoeren, ihrer zu gedenken, sonst erlischt unser Geschlecht.
Quelle: Obozrevatel RIA „Nowosti“.
Uebersetzt von Valeria Kisseljowa,
Lektor priesterThomas Diez