Das Gewicht von Büchern
„1942. III. 14.Nichts besonderes, ein Tag wie jeder andere … ebenso auch eine ganz gewöhnliche Nacht in einer belagerten Stadt – so stellen sich die zweihundert sechsundsechzig Tage des Krieges für G. A. Knjazew dar. Die Blockade konnte nicht durchbrochen werden und diese Tatsache prägt das gesamte Bild. … Ich habe mich schon vor langem entschlossen, nicht mehr über die Zukunft nachzudenken. Doch jetzt stellt sich die Frage erneut – was werden wir machen. Wir hatten eigentlich endgültig entschieden, in Leningrad zu bleiben und nirgend wohin zu fahren. Doch nun stellt das Leben selbst uns noch einmal vor diese Fragen, ob es nicht besser wäre, Leningrad zu verlassen. Den nächsten Winter werden wir — wenn wir bis dahin in der zerstörten Stadt noch am Leben sein sollten — ohne Holz nicht überleben können. Im jetzigen Winter sind zehntausende — wenn nicht sogar hunderttausende Menschen — die vor Hunger völlig entkräftet waren, in ihren Wohnungen, die sie nicht beheizen konnten, einfach erfroren. Auf ein solches Schicksal mit „philosophischer Gelassenheit“ einfach zu warten, ist schierer Wahnsinn. Das bedeutet also, dass wir überlegen müssen, wie wir aus der Stadt gelangen können. Doch wohin? Und was soll mit dem Archiv geschehen? Auch wenn alles, was in der Zukunft lag, völlig ungewiss war, mussten wir doch beginnen, uns über sie Gedanken zu machen. …
Ich konnte heute nicht zum Dienst fahren, da mein „Handroller“[1] nicht zu reparieren und auch M.F. völlig kraftlos war und es ihr deshalb heute nicht zuzumuten war, sowohl ihren Pflichten als Schlosserin wie auch als Chauffeurin nachzukommen.
Habe den ganzen Tag Gedichte von Baudelaire, Verlaine, Verhaeren und Anderen gelesen. …
1942. III. 15. Der zweihundertsiebenundsechzigste Tag des Krieges. Heute ist mein Geburtstag. Ich bin 55 Jahre alt geworden. Ich bin erschöpft und wegen des Hungers und der Kälte völlig kraftlos. Ich fühle mich auch moralisch am Ende und verwirrt durch den Strudel der Ereignisse. Dabei bin ich kein alter Mann und auch nicht „zurückgeblieben“. Noch immer fühle ich, dass ich Kraft habe, um zu kämpfen und wenn es so sein soll – auch zu sterben … Was soll´s!
Den größten Teil des Lebens habe ich hinter mir. Es war mir nicht gegönnt, um ehrlich zu sein, so drei bis fünf Jahre wenigstens meinen Ruhestand zu genießen und mich ganz meinen Büchern und Sammlungen zu widmen und angefangene Gedanken und Ideen noch einmal bis zu Ende zu führen. Schlimme Zeiten haben begonnen und die ganze Welt, ja unser gesamter Planet, steht in Flammen.
Früh bin ich heute aufgestanden. Habe mich am Ofen angezogen. Was für eine Wonne ist es, sich in einem kalten Zimmer an einem warmen Ofen wärmen zu können. Der Ofen war am Abend für die Nacht geheizt worden und hatte am Morgen noch immer so viel Wärme in sich. Jetzt sitze ich am Tisch. Ja, ich muss zugeben, dass im Zimmer völliges Chaos herrscht. Aus dem ebenfalls angeheizten Kanonenofen entweichen beißender Rauch und Gase … Doch was für ein Glück, dass M. F. noch an meiner Seite ist. Sie hat sich frisch gemacht und bereitet nun einen Kaffee. Auch wenn meine Hände ganz kalt sind und sie und ich im Wintermantel hier sitzen — draußen sind es wieder -19 Grad minus — sind wir doch immer noch am Leben und sie und ich lieben einander. …
— Meine liebe Kitschi (so nenne ich meine treue Freundin und Frau M.F.), komm zu mir! …
Ich küsse sie. Sie ist so abgemagert und so alt geworden. Sie lächelt mir zu mit ihren Augen, die immer noch voller Licht sind und strahlen — ja, ihr reiner, zärtlicher Blick.
— Mein Sonnenschein, mein Halt und Freund, du meine treue, freudige Gefährtin … Ich kann nicht aufhören, sie mit Worten zu beschrieben. Dabei denke ich bei mir: „Soll nun also unser Leben zu Ende gehen und alles ein Ende haben? …“
Doch ich vertreibe solche Gedanken, ich will nicht, dass sie in meinem Kopf ihr Unwesen treiben. Wir setzten uns und trinken Kaffee. Ich wärme die Hände von M.F. Vor mir auf dem Tisch liegen Petrarca, Verhaeren und Al. Blok. Was für eine Vielzahl von Gedanken und Bildern! … und wir sind immer noch am Leben!“
***
Das Buch war im Leningrad der Blockade von großer Bedeutung. Es hat auch viel für seine Bewohner getan. Leningrad ist eine Stadt voller Bücher und riesiger Sammlungen von ganzen Bibliotheken – sowohl von staatlichen in den Instituten, wie auch von privaten. Vielleicht könnte man behaupten, wenn man die Zahl der Bücher pro Einwohner betrachtet, dass Leningrad den ersten Platz unter den Städten in unserem Land einnimmt. Zumal dazu noch gesagt werden muss, dass es erstklassige und oft auch seltene und antiquarische Bücher waren, die die Leningrader ihr Eigen nannten. Leningrad war berühmt für seine Buchläden. Vor dem Krieg befanden sich in einem großen Teil der Erdgeschosse der Häuser am Litejnij Prospekt Buchhandlungen der verschiedensten Art. Ebenso entlang der kleinen Zäune zu den Vorgärten lagen die Stände der Straßenbuchhändler. Aber auch die angrenzenden Straßen — zum Beispiel die Belinskij-Straße – waren auch voller Buchläden. Man konnte hier alles finden oder fast alles – angefangen vom französischen Roman und den Broschüren der ersten Jahre nach der Revolution bis hin zur kirchlichen Literatur und Beschreibungen von technischen Geräten in deutscher Sprache. Die Buchhändler gingen in Filzstiefeln und in ihre Wintermäntel gehüllt vor ihren Ständen, in denen sich die Bücher stapelten und die Menschen in ihnen stöberten, auf und ab und rieben sich vor Kälte ihre in dicke Handschuhe gehüllten Hände.
Doch durch die Blockade hat das Buch schweren Schaden erlitten. Endlose Brände und Bombenangriffe vernichteten unzählige Bände. Ebenso beheizten die Menschen mit Büchern ihre Kanonenöfen, auf denen sie ihr Essen bereiteten und an denen sie sich erwärmten. Man darf die Menschen dafür nicht verurteilen. Viele jedoch hüteten ihre Bücher und retten sie vor dem Feuer. Die Angestellten der öffentlichen Bibliotheken, so erzählt man, haben selbst in den schlimmsten Wochen des Hungers, wo alle der Verzweiflung nahe waren, ganze private Bibliotheken von verstorbenen Sammlern, Gelehrten und Bücherliebhabern, also solche Büchersammlungen, um die sich schon niemand mehr kümmern konnte, wie ebenso auch Bücher aus zerbombten Häusern, in ihre Magazine geschleppt. Sie zogen sie mit ihren eigenen Händen auf Schlitten und Wagen in die Magazine der Öffentlichen Bibliothek. Niemand hatte sie darum gebeten, es gab keine Anweisung dazu von oben und niemand hatte sie dazu aufgefordert. Sie liebten die Bücher einfach und deshalb taten sie alles, um sie zu retten.
Das waren auf der einen Seite die professionellen Bibliothekare. Es gab aber auch einfache Leningrader, alte Petersburger, die Nachfahren des alten Petersburger Bildungsbürgertums.
Etwas dazu berichtete uns auch Zinaida AlexandrownaIgnatowitsch, die damals im Institut für Lebensmittelhygiene in einem Forschungslabor tätig war. Zinaida Alexandrowna war dort Abteilungsleiterin. Vor der Revolution gehörte auch sie zu den vielen jungen Mädchen, die ganz bewusst ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten in eine berufliche Tätigkeit einbringen wollten, mit der sie den Menschen dienlich sein konnten. Von weit her kam sie nach Sankt Petersburg, studierte am Medizinischen Institut für Frauen und reiste daraufhin dorthin, wo es darum ging, die Menschen von der Cholera zu heilen und dann von Typhus. Sie war bescheiden und fleißig, unermüdlich in ihrer Arbeit und voller Idealismus. Hier nun ihre Geschichte:
„Während der Blockade blieben wir mit meinem Mann allein zurück. Er war so abgemagert. Bereits im Jahr zweiundvierzig hörte er auf zu arbeiten, er konnte es einfach nicht mehr. Doch er war ein wahrer Liebhaber der Bücher. Meine Cousine war Professorin und es gelang ihr auf irgendeine Weise, jedoch auch mit vielen Mühen, sich bereits im Oktober in die große Welt draußen evakuieren zu lassen. Vor ihrer Abfahrt sagte sie zu mir: Alle meine Sachen lasse ich zurück. Wenn ihr die Möglichkeit habt, dann schaut mal nach dem Rechten. Ich darf nichts mitnehmen“. Der Frühling des Jahres zweiundvierzig ließ in Leningrad auf sich warten. Auch im April lag noch überall Schnee und das sogar bis zum Ende des Monats. Doch dann endlich wurden die Tage länger und deshalb sagte ich zu meinem Mann: „Lass uns doch einmal in die Wohnung von Verotschka fahren und schauen, ob dort alles in Ordnung ist“. Unsere gesamte Wohnung war leer geworden. Alle hatte man evakuiert und der Nachbar, der Ingenieur, war verstorben. Seine Frau war an der Front. Ganze fünf Zimmer hatten wir nun – dabei waren wir nur zu zweit. Niemand war mehr da. So banden wir zwei Schlitten zusammen und zogen sie hinter uns her. Meine Cousine hatte direkt am Marsfeld gewohnt. Wir hatten also einen Weg von etwa zwei oder drei Kilometern zurückzulegen – über die Newa und an der Börse vorbei. Wir kamen nur langsam voran und waren gerade einmal bis zur Börse gelangt, als die Stadt auf das Schärfste unter Beschuss genommen wurde: die Geschosse schlugen manchmal im Wasser aber auch direkt neben der Börse ein. Ich zu meinem Mann: „Komm lass uns einen Bogen um die Börse machen, dort hinten ist es irgendwie stiller!“
So gelangten wir dann schließlich bis zur Wohnung von Verotschka. Die Wohnung stand offen, und es gab nichts mehr darin. Natürlich nicht! … Doch die Schränke mit den Büchern waren völlig unversehrt. „Oh! – rief mein Mann voller Staunen aus — die Bücher, schau doch nur, sind alle heil! Die Bücher nehmen wir mit!“ Da ich seine Schwäche für Bücher kannte, entgegnete ich ihm: „Weißt du, nimm nur die interessantesten mit, denn schon mit den leeren Schlitten haben wir es mit Mühe und Not bis hierher geschafft“. Nachdem er seine Auswahl getroffen hatte, fand ich zwei voll bis oben hin beladene Schlitten. Ich frage ihn: „Müssen es so viele Bücher sein?“ Doch mein Mann antwortete nur: „Kann man etwa einen Dostojewskij seinem Schicksal überlassen. Wenn wir sie nicht mitnehmen, werden die Leute die Bücher als Brennmaterial verwenden!“ So zogen wir also mit den beiden Schlitten wieder fort. Ein zweites Mal überquerten wir die Newa und wieder wurden wir aus der Luft beschossen. Ich sage zu ihm: „Komm, lass uns hier einbiegen“. Doch als wir schon fast um die Ecke gegangen waren, sehe ich, wie er auf einmal ganz blass wird und plötzlich zusammensackt.
Und ich denke in erster Linie daran – ich weiß es noch wie heute – wir haben sehr lange und auf sehr harmonische Weise zusammen gelebt — wie ich ihn jetzt bis zu uns nach Hause schleppe?!! Ich dachte gar nicht daran, dass er gestorben sein könnte. Können Sie sich das vorstellen? Ich erinnere mich noch heute an dieses Gefühl! Nichts davon, dass er vielleicht gestorben war und dass ich ihn nun verloren habe. Nein, einfach nur die Frage, wie ich ihn denn nun bis nach Hause zerre. Und so nahm ich seine Hand und zog ihn langsam auf die Stufen der Börse. Ich legte ihn auf den Boden und begann seinen Puls zu ertasten. Und siehe da, langsam kam sein Puls wieder in Gang. Verstehen Sie! Eine ganze Stunde hat er dort auf den Stufen gesessen und ist langsam wieder zu sich gekommen. Natürlich konnte keine Rede mehr davon sein, dass er die Schlitten nach Hause zieht. Doch die Bücher allein lassen, ging auch nicht. Und so zogen wir weiter. Mit der einen Hand nahm ich ihn unter den Arm und mit der anderen zog ich die Schlitten, die voll mit Büchern beladen sind. Wie haben wahrscheinlich ganze drei Stunden gebraucht, bis wir zu unserer Wohnung gelangt sind. Es gab keinen Aufzug und ich hatte schon keine Kraft mehr, die Bücher bis nach oben zu tragen. So ließ ich den Schlitten unten auf der Straße und zog meinen Mann mit aller Kraft hinauf bis in unsere Wohnung. Zwei Tage später hatte er dann keine Kraft mehr morgens aufzustehen. Ich ließ ihm etwas zu essen da und ging selbst ins Institut.
— Und was ist mit den Büchern? Sind sie immer noch unten auf den Schlitten?
— Ja, dort sind sie immer noch.
Als ich von der Arbeit komme, sehe ich, dass die Schlitten leer sind! Was für einen Schreck bekam ich da mir da! Mein Mann wäre für die Bücher fast gestorben und nun hat sie irgendwer genommen, um sie zum Feuermachen zu verwenden! Ich stieg die Treppen in die vierte Etage bis zu unserer Wohnung hinauf. Als ich bis in die dritte gelangt war, hörte ich ein merkwürdiges Geräusch, als ob ein Hund auf allen vieren geht, also mehr schlurft als läuft! Ich denke mir, woher kommt nun im Jahr zweiundvierzig ein Hund? Man hatte doch schon lange alle Hunde aufgegessen. Als ich dann aber bis auf den Treppenabsatz der dritten Etage hinaufgestiegen war, bot sich mir folgendes Bild: Mein Mann zieht auf allen vieren einen Sack mit Büchern hinter sich her!!! Als er mich sah, setzte er sich und sprach: „Schade, ich habe es nicht ganz geschafft. Ich wollte alle Bücher in der Wohnung haben, bevor du nach Hause kommst“. Gehen konnte er schon nicht mehr. So hatte er also die Bücher wie ein Hund auf allen vieren bis in unsere Wohnung geschleppt“.
In unserer heutigen mit allgemeinem Wohlstand gesättigten Zeit ist es sehr leicht zu verstehen, dass jemand Bücher mag. Wer ist nicht daran interessiert, die Bücher von verstorbenen Freunden oder Verwandten zu seinen eigenen zu machen und sie in sein eigenes Bücherregal zu stellen? Um aber zu begreifen, was wirkliche Liebe zu Büchern bedeutet, muss man sich in die Lage der Menschen der Blockade von Leningrad versetzen, muss man versuchen zu fühlen, was es heißt, völlig entkräftet zu sein, und mit der Tatsache leben lernen, dass durch den Hunger alle Gedanken, wie es scheint, nur von einem einzigen erstickt sind – nämlich von dem Gedanken an das tägliche Brot.
Die Schicht der Bildungsbürger von Leningrad, die sogenannte russische „Intelligenzia“ … Oft versucht man diese beiden Phänomene mit Bildung und besonderer Erziehung zu erklären. Doch sie stehen noch für viel mehr. …
Ein Mensch liegt im Sterben und erfährt dieses Davongehen auf die schrecklichste Weise – und doch macht er sich noch auf den Weg, um Bücher zu retten! Wie viel kann ein Mensch! Genau deshalb sind für alle von uns diese Erinnerungen an die Zeit der Blockade so bedeutsam, denn in ihnen offenbaren sich uns solche Kräfte der menschlichen Seele, die jenseits des Möglichen liegen. Sie zeigen uns Begebenheiten, von denen niemand vorher etwas wusste, und berichten uns von Möglichkeiten, die im normalen Leben in keiner Weise zu verwirklichen sind.
[1]Handroller – so nannte G. A. Knjazew in seinem Blockadetagebuch seinen Rollstuhl
Uebersetzt von Henrik Hansen
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