6 Januar 2007| Fonjakova E. (übersetzt von Poludenko Natalia)

Am Morgen

Ich bin acht Jahre alt.

Schon acht Monate herrscht Krieg. Mehr als ein halbes Jahr…

Ist das viel oder wenig?

Alles, was vor dem Juni 1941 war, erscheint jetzt als etwas Fernes und voellig Unrealistisches. Ein Spaziergang durch eine Gruenanlage, bunte Lebkuchen und „Petuschki“[1] auf Staebchen bei den Strassenhaendlerinnen an der Ecke des Srednij Prospekt und der Linie sechs der Wassilijewskij-Insel, die in die Hoehe strebenden rosa und blauen Luftballons, die von einem alten Verkaeufer mit einem auf den Hinterkopf gerutschten Filzhut mit Muehe zurueckgehalten werden… Soll das ein Traum sein? Oder vielleicht doch ein Maerchen? Die Anlage ist durch und durch von Schuetzen- und Deckungsgraeben aufgegraben und zerfurcht. Die Schaufenster der Laeden am  Srednij Prospekt sind mit Sandsaecken verstellt; im kalten Winterhimmel haengen statt Luftballons braungruene Sperrballone, die riesengrossen Leberwuersten aehneln.

Ich gehe in die erste Klasse.

Um sieben Uhr werde ich von meiner Mutter geweckt. So eine Qual – draussen hat es 30 Grad minus, im Zimmer ist es nur wenig waermer: in der Nacht sind die letzten Waermereste abgekuehlt. Brennholz gibt es bei uns schon laengst nicht mehr; genauso steht’s uebrigens bei allen anderen.  Der grosse weisse Kachelofen erhebt sich an der Wand wie eine Eisscholle. Der vor dem Geschirrschrank aufgestellte Burshujka-Ofen[2] wird mit den Grossvaters Handschriften, alten Buechern, zersaegten Stuehlen und Buecherregalen geheizt. Waehrend das Feuer brennt, erhitzt sich das Öfchen bis zur Rotglut, vom langen, zum Klappfenster ziehenden Ofenrohr strahlt Waerme ab. Man kann sogar fuer kurze Zeit die Oberbekleidung ausziehen. Aber am Morgen… Obwohl ich in einem Skianzug und mit dickem Pullover angezogen schlafe, bin ich nicht zu beneiden!

Man muss eben doch aufstehen.

Im Zimmer herrscht dichte Finsternis. Nur das in einem flachen Laempchen ueber dem Tisch flackernde Flammenzuenglein gibt schwachen Lichtschein. Auch Elektrizitaet gibt es seit langer Zeit nicht mehr, und jeder macht fuer sich auf seine eigene Art Licht, mit allen denkbaren Mitteln. Unsere Funzel wurde von Mutti selbst erfunden: ein Stueck Wachs, mit dem wir den Fussboden bohnern, und einer durchgefaedelten Lunte aus einem Schuhband. Bei dieser Beleuchtung werden die Schatten phantastisch vergroessert. Der Schatten von der Mutter nimmt eine Haelfte der Decke ein, und meiner  – fast die ganze Wand. Die Schatten bewegen sich, schwimmen, gestikulieren.

„Sich waschen!“

Der Schatten auf der Decke erhebt entschieden die Hand und zeigt auf die Tuer. Der Schatten an der Wand schrumpft niedergeschlagen zusammen.

Leicht zu sagen – sich waschen! Und wenn schon das Wasser in der Blechkanne so wie gestern bis zum Boden gefroren ist?!

Wozu eine solche Plackerei! Niemand wird sehen, dass ich mich nicht gewaschen habe: sowohl zu Hause, als auch in der Schule bin ich immer bis ueber die Ohren eingewickelt.

Aber es ist voellig sinnlos, mit Mutti zu streiten. Sie hat sich schon gekaemmt und gewaschen, hat die Wolljacke sorgfaeltig mit dem Lederriemen umguertet und die Wollhosen in die Filzstiefel gesteckt. Mutti gefaellt mir sehr in dieser Kleidung, auch ich selbst traeume von einer aehnlichen.

„Hast du nicht gehoert? Gehe dich waschen!“

Ich krieche durch den abgekuehlte Flur in die Kueche, und Mutti bereitet das Fruehstueck zu.

Dafuer braucht sie nicht so viel Zeit – Essen, genauso wie Licht und Brennholz, haben wir fast nicht.  Als ich zurueckkomme, stehen auf dem Tisch zwei Tassen heisses Wasser und mitten auf dem grossen Teller liegen zwei hauchduenne Scheibchen schwarzes Blockadebrot. Dazu gibt es auch in zwei Confituereschaelchen etwas schwarzgruen gekochten Unkrautkohl.

Das alles essen wir sehr schnell auf.

Es ist schon Zeit, vom Tisch aufzustehen, aber ich zoegere. Vielleicht geschieht ploetzlich ein Wunder und es erscheint irgendwelches Essen? Das Wunder geschieht aber nicht.

„Darf ich noch ein kleines bisschen heisses Wasser trinken, wenn was uebriggeblieben ist?“

Mutti giesst mir die Reste des Wassers aus dem geraeucherten Teekessel ein, ich trinke es schluckweise und waerme so meine gefrorenen, steifen Finger. Aus dem schwarzen Rundfunkgeraet klingt Musik.

„Das ist Tschaikovskij“, sagt Mutti. „Das italienische Capriccio“.
Sie schliesst ihre Augen und laechelt traeumerisch: sie kennt und liebt Musik. Ploetzlich wird melodisches  Wonnigzartes vom wohlbekannten Geheul der Sirene unterbrochen.

„Achtung! Achtung! Luftalarm!“

Mutti und ich blicken einander an.

Zweifellos soll man sofort in den Luftschutzkeller runter. Aber dort ist es noch dunkler als zu Hause. Und ausserdem muessen wir uns fertigmachen: Mutti muss zur Arbeit und ich muss zur Schule.

„Weisst du“, sagt Mutti, „mittlerweile koennten wir ein bisschen vorlesen, und dann es kann bald aufhoeren“.
„Lesen wir „Prinz und Bettler“ vor??“
„Genau. Das Buch ist hier, auf dem Regal. Bring es her!“

Mutters grauaeugiges Gesicht ist ganz gelassen, die Bewegungen sind ruhig und sicher. Wovor soll ich schon Angst haben?

Wir setzen uns naeher an die Lampe. Mutti umarmt mich mit einer Hand, die ganz leicht und durchsichtig vor Magerkeit ist, und beginnt zu lesen. Sie schlaegt einen Band von Mark Twain auf und ich geniesse schon die Vorfreude an den wundervollen Abenteuern dieses englischen Lausbubens. Es pfeift und kracht hinter den Waenden des Hauses. Jede Sekunde kann es passieren, dass wir – wie auch jeder andere Mensch in diesem Moment – von einem Geschoss oder von einer Bombe toedlich getroffen werden, aber wir verbieten uns aufs allerstrengste solche Gedanken. Wozu auch? Die Stadt wird Tag und Nacht bombardiert. Und es wird voellig unmoeglich zu leben,  zu lernen und arbeiten, wenn man staendig vor Angst zittert. Und die Leningrader sollen leben, lernen und arbeiten – fuer die Zukunft, fuer den Sieg! Dessen sind sich bei uns sogar die Schueler der ersten Klasse, wie ich, ganz bewusst.

Der Luftalarm hoert wirklich auf. Die Gefahr ist an uns voruebergegangen.

„Jetzt machen wir alles in Windeseile!“ sagt Mutti. Wir sind knapp mit der Zeit!

Ich stopfe meinen Ranzen mit Heften und Lehrbuechern, ziehe eine kleine Gasmaske ueber die Schulter — in einer der Stunden sitzen wir in den Gummimasken mit den langen Ruesseln, so werden wir einer Elefantenherde aehnlich — und wickle das Wolltuch um den Kopf.

„Ich bin fertig!“
„Ich auch“, gibt Mutti zur Antwort.

Sie hat ebenso wie ich einen Ranzen und eine Gasmaske, mit einem kleinen Unterschied aber: Sie ist nur etwas groesser, denn auch meine ist fuer Erwachsene. Ausserdem hat Mutti auf der Schulter noch einen Riemen, an dem die Blechkanne haengt – auf dem Rueckweg wird sie sie mit Wasser aus einem Eisloch fuellen. In der Hand hat sie den zweigeschossigen Essenstraeger aus Aluminium. Ebenso wie viele andere Leningrader sind wir in diesem Winter in eine Kantine eingewiesen und erhalten dort einmal pro Tag ein bisschen Mehlschwanken statt Suppe und zwei  Tellerchen bitteren gelbschmutzigen Brei aus Haeckselhirse, die mit einem Tropfen Oliveroel angemacht ist… Wir gehen die Treppe runter, vorsichtig nach den Stufen tastend.

Schon auf der Strasse kuesst mich Mutti, dann nimmt jeder seine Richtung und wir gehen auseinander. Sie geht nach rechts, in Richtung Leutnant-Schmidt-Bruecke, zu ihrem Institut. Und ich gehe nach links, zur Schule, die ganz in der Naehe liegt, im Keller des fuenfstoeckigen  Hauses mit den Tuermchen, in einem Luftschutzraum.

Es ist schwer zu gehen. Die Beine in den Galoschen, die ueber die von der Mutti genaehten Steppantinen  angezogen sind, rutschen staendig auf dem vom Eis krummen Fussweg aus. Da kann man leicht fallen. Und so landest du mit der Nase in den Schneehaufen, die sich wie eine Bergkette das Strassenpflaster entlang auftuermen, — die ganze Stadt ist mit einer blauen, reglosen Schneedecke verschuettet; es ist niemand da, der sie saeubern koennte.

Ich beeile mich, aber trotzdem komme ich nur langsam voran. Aus der morgendlichen Finsternis kommt mir ebenso langsam eine Kette von Leuchtkaefern entgegen. So phosphoreszieren spezielle Broschen, die die Leningrader zu tragen begonnen haben, als die Verdunkelung eingefuehrt  worden war. An meinem Pelzchen ist auch eine solche angeheftet .

„Du, Maedchen, tritt zur Seite!“ hoere ich eine heisere Stimme.

Sich an einen Schneehaufen drueckend, lasse ich einen Menschen durch, der hinter sich einen Kinderschlitten schleift, auf dem etwas Langes liegt, eingewickelt in ein weisses Laken. Noch jemand ist vor Hunger gestorben…

In der Schule ist es waermer als zu Hause. Vielleicht eben deswegen, weil wir hier immerhin viele sind. Ohne den Mantel auszuziehen, sitzen wir auf Holzbaenken an den langen braunen Tischen – Schueler der ersten, zweiten und dritten Klasse. Das ist eine „Blockadeschule“, und eine Lehrerin soll alleine mit uns allen zurechtkommen.

An der Tafel steht die Lehrerin. Sie ist ohne Pelz, in einem sauberen blauen Anzug mit hochgezogenen Schultern, in einer ausgebuegelten weissen Bluse.

„Guten Tag!“ sagt sie laechelnd. „Bereitet bitte eure Hefte und Buecher vor. Heute haben wir eine wichtige Stunde. Wir versuchen zu lesen, ohne die Woerter in Silben aufzuteilen“.


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[1] Suesse Fruchtbonbons in der Form von Haehnchen.
[2] Kleiner eiserner Ofen zur Raumheizung.

 

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