16 März 2013| Kotlow Alexander

Was uns unser Lehrer für Produktive Arbeit berichtete

Ich heiße Alexander. Ich wurde in Lwow geboren, wo ich auch lebe und arbeite. Für mich ist alles heilig, was mit dem Sieg unseres Volkes im Großen Vaterländischen Krieg zu tun hat. Auch der 9. Mai ist für mich ein heiliger Tag. Ich habe seit meiner Kindheit viel über den Krieg gelesen und viele Filme darüber gesehen. Ich habe viele jener Orte besucht, wo unsere Soldaten und unsere Leute sich als wahre Helden erwiesen haben – in der Festung von Brest, in den Steinbrüchen von AdshiMuschkaj[i] und an vielen anderen Orten. Der Krieg ist für mich nicht etwas Fernes. Er hat auch in meiner Familie seine Spuren hinterlassen.

Ich möchte von einem meiner Lehrer berichten, der bei uns in der Allgemeinbildenden Schule Nr. 9 in Lwow das Fach Produktive Arbeit unterrichtet hat. Er heißt Alexander NikolaewitschTymtschischin. Ich hoffe, dass er noch immer lebt. Wo er jedoch jetzt ist und wie es ihm geht, weiß ich leider nicht.

So etwa in der zweiten Hälfte der 80-iger Jahre tauchte in der vierten Klasse in unserem Stundenplan das Fach „Produktive Arbeit“ auf. Wir Jungs lernen die Tätigkeiten eines Schlossers bei Alexander Nikolaewitsch und die Mädels an der Nähmaschine zu nähen —  sie hatten ihre eigene Lehrerin. Alexander Nikolaewitsch war ein guter Lehrer. Er selbst hatte, bevor er in den Schuldienst getreten war, lange als Schlosser in einer Fabrik gearbeitet. Er war ein gutmütiger Kerl, obwohl er auch manchmal richtig wütend werden konnte.  Doch immer beruhigte er sich wieder schnell – zum Glück! Doch in diesen Momenten bekam dann immer einer von uns alles ab. Einige Zeit vertrat er auch den Wirtschaftsleiter der Schule. Er trug in diesen Wochen ein riesiges Schlüsselbund mit allen Schlüsseln zu den Wirtschaftsräumen der Schule mit sich herum. Wenn er dann besonders gereizt war, kam es vor, dass er in seinem Zustand mit dem Schlüsseln auf jemanden einschlagen konnte oder diese auf denjenigen werfen konnte, der ihn aus der Fassung gebracht hatte. Man konnte wirklich das Gruseln kriegen. Zum Glück ist niemand von seinen ungewöhnlichen „Geschossen“ zu Schaden gekommen. Er konnte einem auch einen Katzenkopf geben. Er fasste uns, kurz gesagt, also nicht mit Samthandschuhen an.

Soweit ich mich erinnere, wurde er 1935 in einem Dorf in der Nähe von Lwow geboren. Ich kann mich nicht entsinnen, dass er uns jemals den Namen des Dorfes genannt hatte. Dafür jedoch hatte er uns von einigen Begebenheiten aus seiner Kindheit berichtet, die sich während des Krieges unter der deutschen Besatzungsmacht dort zugetragen hatten. Einige Details seiner Erzählungen sind mir leider entfallen, doch all das, woran ich mich noch immer erinnere, möchte ich nun berichten, denn es ist es wert, dass auch andere davon erfahren.

Die erste Geschichte von Alexander Nikolaewitsch handelte von einem Lager für Kriegsgefangene, das sich gleich in der Nähe seines Dorfes befand. Von dort wurden jeden Tag Häftlinge für irgendwelche Erdarbeiten eingesetzt. Was diese dort graben mussten, weiß ich nicht mehr – es sind ja schon über 25 Jahre seit meiner Schulzeit vergangen. Ich erinnere mich nur, dass die Arbeit sehr schwer war und an den Kräften der Gefangenen zehrte. Wenn die Begleitsoldaten die Inhaftierten zum Graben führten, zwangen sie diese Lieder zu singen. Natürlich war es verboten, sowjetische Lieder zu singen. Es war aber nicht erlaubt schweigend zu gehen. Durch Anschreien und unter Androhungen von Schlägen wurden sie zum Singen gezwungen. Die Menschen arbeiteten viele Stunden, solange bis die Sonne unterging. Im Verlaufe des Tages bekamen die Häftlinge nur einmal etwas zu Essen. Man kochte ihnen schmutzige Kartoffeln in Kesseln die voller Erde waren. Der kleine Sascha konnte sein ganzes Leben nicht vergessen, wie bei den letzten, denen eine Portion Kartoffeln gereicht wurden, der Sand zwischen den Zähnen knirschte.

Dann hörten wir eine Erzählung darüber, wie er einmal gemeinsam mit einigen anderen Jungs, die so wie er auch nicht älter als 10 Jahre alt waren, im Sommer an einen Fluss gegangen waren, um an seinem Ufer einige Hundsbeerensamen auszusäen. Dort wuchsen bereits einige Sträucher. Mein Vater hat mir erzählt, dass auch er in der Zeit nach dem Krieg (er wurde 1944 geboren) oft Hundsbeeren gegessen hat. Erst als er älter geworden war, hat er erfahren, dass diese Pflanze giftig ist. Doch auf wunderbare Weise ist den Jungs damals nichts geschehen. Als ob der Herr unsere Väter und Mütter damals besonders beschützt hat. Als also die Jungs sich damals über die Büsche hermachten, hörten sie plötzlich Stimmen. Die Deutschen hatten einige Lagerinsassen an den Fluss geführt, um diese dort zu erschießen. Und so mussten die Jungs mit ansehen, wie einige unserer Männer erschossen wurden. So wie es uns unser Lehrer erzählte, saßen die Jungs still in den Büschen und trauten sich nicht einmal zu atmen. Sie blieben so lange in ihrem Versteck, bis die Deutschen wieder abgezogen waren, denn sie wussten, dass diese sie, wenn sie sie entdeckt hätten, gleich darauf getötet hätten.

Wie unser Lehrer von sich behauptete, war er ein wohlerzogener Junge. Doch deswegen ist es ihm einmal schlecht ergangen. Einmal waren er und ein paar andere Jungs gleich in der Nähe des Bahnüberganges neben dem Dorf beim Spielen zugange gewesen. Es fuhr ein Zug vorbei. Am Bahnübergang kam ein Personenkraftwagen zum Stehen. Aus ihm stieg ein deutscher Offizier aus, um sich zu recken und zu strecken. Er zog seine Geldbörse aus der Tasche heraus und begann, die sich darin  befindlichen Markscheine zu zählen. Er tauschte dann ein paar Worte mit seinem Begleiter, wurde abgelenkt und drehte sich um, ohne seine Geldbörse vorher geschlossen zu haben. In diesem Augenblick erfasste eine Windböe die Geldscheine und ließ sie in alle Richtungen auseinanderfliegen. Der Deutsche hatte es gar nicht bemerkt. Die Jungs jedoch warfen sich auf die Scheine – jeder nahm, soviel er greifen konnte – und verschwanden. Nur Sascha war geblieben und sammelte die restlichen Markscheine, die noch übrig geblieben waren, auf. Daraufhin ging er zu dem Deutschen und reichte diesem das Bündel mit den Scheinen. Jener reagierte zunächst verwundert, ja er lächelte sogar. Dann jedoch begann er das Geld zu zählen und bemerkte natürlich, dass es nicht die gesamte Summe war. Daraufhin stürzte er sich auf den Jungen und durchsuchte ich, ob er nicht etwas versteckt hätte. Dabei war Sascha nur in Unterhemd und Unterhose bekleidet, es war ja Sommer. Der Deutsche wurde wütend, hieß den Jungen sich umzudrehen und gab ihm mit seinem Stiefel einen Tritt in den … — unterhalb des Rückens. Daraufhin haben ihn seine Freunde – so wie uns Alexander Nikolaewitsch erzählte – auf einer provisorisch aus Ästen gefertigten Trage nach Hause getragen. Selbst zu gehen, war er nach diesem Tritt nicht in der Lage. Lange hatte es dann gedauert, bis er wieder voll auf die Beine kam, einige Tage hatte er zu Hause im Bett gelegen.

Ich erinnere mich noch an einen weiteren Ausspruch von ihm. Im Wesentlichen besagte er, dass nicht alle Deutschen Henker waren. Er sagte uns damals: „Richtige Faschisten gab es nur vereinzelte“. Dies war die Quintessenz einer Erzählung darüber, wie nach dem Abzug der Deutschen 1944 in der Nähe ihres Dorfes ein deutscher Kampfbomber abgeschossen worden war. Der Pilot konnte nicht mehr mit seinem Fallschirm abspringen, das Flugzeug fiel auf die Erde und zerschellte. Die Leute aus dem Dorf kamen an die Unglücksstelle und sahen, dass der Pilot, ein ganz junger Mann dem Aussehen nach, bereits tot war. Unser Lehrer berichtete uns, dass die Leiche durch den Aufprall völlig entstellt war — der ganze Unterkiefer war abgerissen (wahrscheinlich vom Aufprall gegen die Gerätetafel). Man konnte sogar auch in den Schlund hineinsehen. Der kleine Sascha Tymtschischin brach bei diesem Anblick in Tränen aus, denn er hatte Mitleid mit diesem jungen Mann. In Seele hatte sich noch kein Hass auf das deutsche Volk breit gemacht, ungeachtet dessen, was er alles erlebt hatte.

Ebenso erzählte uns Alexander Nikolaewitschvon den schweren fünfziger Jahren, als sich das Land vom Krieg erholte und die Zerstörungen langsam beseitigt wurden. Er war damals ein junger Mann, der gerade mit seiner Arbeit begonnen hatte. Ich erinnere mich noch an seinen Ausruf — „Weißbrot und dann noch mit Butter!“ Zu seiner Zeit war Weißbrot eine Delikatesse. Und mit Butter war es sogar ein Luxus, den man kaum zu sehen bekam. Er erzählte uns, dass das Leben damals sehr schwer war und dass alle den Gürtel enger schnallen mussten. Auf den Tisch kam bei allen ein und dasselbe. Wenn jemand Geburtstag hatte, dann versuchte man etwas Besonderes aufzutischen. Das waren dann Hering und ein Salat aus Roter Beete. So war es bei allen. Deshalb hatte auch niemand besonders Lust – so wie er es gesagt hatte – einander Besuche abzustatten. Ja, so war die Zeit damals nach dem Krieg. Es war eine schwere Zeit.

Dies waren nur einige wenige Momente dieses furchtbaren Krieges. Wir sollten wissen und es nie vergessen, was damals geschehen ist, damit sich solches nicht noch einmal ereignen kann.

 


[i]  Die Steinbrüche von AlshiMuschkaj sind unterirdische Steinbrüche im Stadtgebiet von Kertsch (genannt nach dem Dorf AdshiMuschkaj) wo ab der zweiten Maihälfte bis Ende Oktober 1942 ein Teil der Truppen von der Krimfront die Stadt auf heldenhafte Weise gegen die deutsch-faschistischen Eroberer verteidigte.

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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